DA: In zwei Sätzen: Was war West-Berlin?
Beutelschmidt: Wenn das so einfach zu beantworten wäre, ohne den Historikern wehzutun... Das widersprüchliche Konstrukt West-Berlin war zuallererst ein Ergebnis der System-Auseinandersetzung und der Teilung Deutschlands nach 1945 – und damit ein Vorposten und Faustpfand der West-Alliierten gegenüber der Sowjetunion. West-Berlin wollte und sollte als „Bollwerk der Freiheit“ der westlichen Wertegemeinschaft angehören und als subventioniertes „Schaufenster des Westens" auch bewusst in die DDR ausstrahlen.
Novak: Seine parlamentarische Demokratie und Marktwirtschaft waren fundamental gegen das sozialistische Gesellschaftsmodell auf der anderen Seite gerichtet – was bewusst im Namen vieler Institutionen wachgehalten wurde: die Freiheitsglocke im Schöneberger Rathaus, die Freie Universität, der Sender Freies Berlin, die Freie Volksbühne.
DA: Was definierte West-Berlin? Die Mauer?
Novak: Trotz der Bedrohungsszenarien – wie der Berlin-Blockade 1948 bis 1949, dem Chruschtschow-Ultimatum zehn Jahre später und dem Mauerbau 1961 – garantierte der Viermächtestatus einen Schutzraum, in dem sich ein einzigartiges Stadtlabor mit zwei Gesichtern entwickelte: auf der einen Seite individuelle Freiräume, kulturelle Weltläufigkeit und intellektuelle Kreativität, auf der anderen Seite Überalterung, Armut und Migrationsprobleme. Nicht zu vergessen die prekäre Wirtschaftslage, politische Abhängigkeiten und der berüchtigte Berliner Filz mit seiner inzestuösen Verflechtung von Wirtschaft und Lokalpolitik.
Beutelschmidt: Vielleicht hat der altlinke Schriftsteller Peter-Paul Zahl West-Berlin ganz treffend als „Freak-City im doppelten Sinne des Wortes“ beschrieben. Ein Zustand zwischen Weltstadt und Provinz, in dem sich in kreativem Umfeld ohne größeren ökonomischen Druck ein Nebeneinander von Parallelwelten entwickeln konnte. Von dieser Melange unterschiedlicher Milieus, Mentalitäten und alternativen Lebensmodellen zehrt der Ruf Berlins bis heute, auch wenn einige der exzentrischen Akteure bei genauerem Hinsehen durchaus zur Selbstüberschätzung neigten.
Novak: Auch international hat sich die Stadt einen Namen gemacht. Denken Sie nur an Erfolgsgeschichten wie die Berliner Festwochen und die Filmfestspiele, die innovativen Ausstellungen und experimentellen Bühnenevents – und nicht zu vergessen die Architekturikonen mit den Kulturforums-Bauten, dem Internationalen Congress Centrum (ICC) und wohl auch der Autobahnüberbauung in der Schlangenbader Straße in Berlin-Wilmersdorf.
Beutelschmidt: Das heißt, die Mauer war zwar das unübersehbare Zeichen der schmerzlichen Trennung sowohl von Ost-Berlin und dem Brandenburger Umland als auch von der Bundesrepublik. Sie definierte aber gleichzeitig einen Sonderstatus, der stets politische Solidaritätsreflexe auslöste und ein vielfältiges wie lebendiges Klima förderte, in dem sich Gäste jeglicher Couleur wohlfühlten. Der Architekt Dietmar Grötzebach beschrieb diesen Treffpunkt der Welt einmal so: „Empörung an der Mauer, Gänsehaut in Kreuzberg und am Kudamm 'Weiße mit Schuß': das ist das Fiehling [sic!] in Berlin“.
DA: Und wann beginnt eigentlich West-Berlin?
Beutelschmidt: Räumlich ist die Bezeichnung durch die Sektoren der westlichen Alliierten bestimmt. Politisch lässt sich die Teilung zum einen an der Wahl von Ernst Reuter zum Oberbürgermeister durch den eigenständigen Senat von West-Berlin am 7. Dezember 1948 festmachen. Dem war allerdings ein längerer Trennungsprozess vorausgegangen. Zum anderen vollzog sich die Teilung parallel aber auch auf der Ebene der Besatzungsmächte. Auch wenn die Stadt zunächst gemeinsam regiert wurde, so versuchten die Sieger angesichts wachsender Interessengegensätze ihre jeweiligen Einflussbereiche zu sichern.
Der Konflikt spitzte sich spitzte sich bekanntermaßen Mitte 1948 zu: Die Sowjetunion verließ den Alliierten Kontrollrat und die Kommandantur, die höchste Instanz für alle Belange Berlins. Daraufhin ordnete sie die Einführung einer neuen "Ostmark" für ganz Berlin an. Die westlichen Stadtkommandanten negierten diesen Befehl und führten stattdessen einen Tag später die bereits in ihren Zonen gültige Westmark (D-Mark) ein. Die sowjetische Militäradministration suchte nun die Machtprobe und sperrte alle Landverbindungen. West-Berlin musste dann von Juni 1948 bis Mai 1949 über die legendäre Luftbrücke mit lebenswichtigen Gütern versorgt werden.
Damit war bis 1949 die Spaltung von Regierung, Verwaltung und Wirtschaft Berlins formal und faktisch vollzogen. Dem folgten weitere territoriale und infrastrukturelle Einschnitte mit sukzessiven Unterbrechungen der Straßenverbindungen, der Straßenbahn und den Buslinien, von Frischwasser und Abwasser, von Strom und Telefon. Aber vielleicht wurde West-Berlin mit dem Fall der Mauer und der Vereinigung beider Stadthälften als Mythos dann noch einmal geboren?
DA: Aber warum sollen wir uns heute – 28 Jahre nach der Friedlichen Revolution – mit West-Berlin befassen?
Novak: Eine gute Frage! Wir haben gedacht, dass der Hype nach unserer Ausstellung, dem Themen-Heft „West-Berlin" des ZZF und der vielfältigen Erinnerungsliteratur irgendwann zu Ende geht und eigentlich alles gesagt, geschrieben und gezeigt wurde. Aber das Interesse an der „lost world“ West-Berlin scheint ungebrochen und seine Vermarktung geht munter weiter. Das kurze Kapitel West-Berlin war so „sonderbar“, so spezifisch in seinen Bedingungen und Ausprägungen, dass sich noch viele Geschichten finden lassen, die Staunen, Bewunderung oder auch Verwunderung auslösen.
DA: Kann uns die Geschichte West-Berlins auch etwas über uns, das vereinte Deutschland, erzählen?
Novak: Können wir hier nicht am Beispiel zweier vor 1990 hochsubventionierter Stadthälften auf engstem Raum die Folgen der deutsch-deutschen Vereinigung wie unter einem Brennglas beobachten? Denn die Stadt sieht sich nach wie vor konfrontiert mit den unterschiedlichen Mentalitäten in West und Ost, einer gesellschaftlichen Transformation und dem Lernprozess hinsichtlich der Eigenverantwortlichkeit. Und sie hat auf besondere Weise mit der beschleunigten und teilweise vollständigen Gentrifizierung ganzer Stadtquartiere zu kämpfen.
DA: Unterschied sich West-Berlin denn wirklich so sehr von Köln, München oder Bottrop?
Beutelschmidt: Es sind aus unserer Sicht weniger die Alleinstellungsmerkmale wie der fehlende Wehrdienst oder die aufgehobene polizeiliche Sperrstunde, die West-Berlin von anderen deutschen Großstädten unterschieden. Auffällig erscheint vielmehr das Phänomen, dass sich hier aufgrund der exponierten Lage viele gesellschaftliche und kulturelle Entwicklungen breiter und intensiver vollzogen beziehungsweise eine für das Bundesgebiet ungewöhnliche kosmopolitische Liberalität herausgebildet hat.
Mit seinem kulturellen Angebot und den Auftritten von internationalen Stars und Sternchen aller Genres konnte in dieser Dichte und Qualität keine der westdeutschen Metropolen mithalten. West-Berlin lag aber auch in Bezug auf die Subventionen des Bundes an der Spitze der Länder. Dadurch kam es zu einer wenig kontrollierten Verflechtung von Unternehmern und Volksvertretern, die eine Wirtschaftspolitik zu beiderseitigem Vorteil auf Kosten der öffentlichen Hand betrieben.
Auch eine gewisse Konfliktkultur war hier stärker ausgeprägt. Wenn die Medien ab Mitte der 1960er Jahre von der politisierten Studentenschaft und den eskalierten Auseinandersetzungen zwischen der Außerparlamentarischen Opposition und der Staatsmacht berichteten, stand West-Berlin an erster Stelle. Hier wurde an den Universitäten mit am lautesten die Aufarbeitung des Nationalsozialismus gefordert, das kapitalistische Wirtschaftsmodell in Frage gestellt und die Solidarität mit den Ländern der Dritten Welt eingefordert.
Ihr Erbe traten dann die Alternativbewegungen mit ihren selbstverwalteten Einrichtungen und dem breiten Widerstand gegen Kahlschlagsanierung und Bodenspekulation an. Und nicht zu vergessen die Frauenbewegung und die schwul-lesbische Szene, für die sich selbstbewusste Entfaltungsmöglichkeiten boten. Viele der emanzipatorischen und partizipativen Projekte hatten Pilotcharakter, die bundesweit ausstrahlten und zum gesellschaftlichen Wandel in der gesamten Bundesrepublik beitrugen.
DA: Was bedeutete die Hauptstadt der DDR für West-Berlin?
Novak: Wurde der alternative Gesellschaftsentwurf im Westen mit seinen Freiheitsversprechen und seinem Warenangebot von den Ost-Berlinern sehr aufmerksam registriert, so lehnte die Mehrzahl der West-Berliner den Sozialismus in der „Zone" ab. Abgesehen von privaten Familienbesuchen unterhielten vor allem nach der endgültigen Grenzschließung 1961 nur wenige beruflich oder aus kulturellem Interesse Kontakte im anderen Teil der Stadt. Die als „grau“ empfundene „Hauptstadt der DDR“ wurde mehr oder weniger ignoriert und der politische Austausch blieb auch nach dem Viermächteabkommen in Zeiten der Entspannung seit 1970 auf das Notwendigste beschränkt.
DA: Und innerhalb West-Berlins? Berlin ist aus seiner Geschichte heraus ein Paradebeispiel für eine polyzentrische Stadt. Die bis 1920 selbstständigen Randgemeinden sind heute die „Kieze“ der Großstadt. Welchen Einfluss hat das auf die Identität der West-Berliner gehabt?
Beutelschmidt: Da West-Berlin mit der Teilung die ursprüngliche Stadtmitte verloren hatte, musste es sein Zentrum neu bestimmen. Mit dem „Cityband“ um den Zoo und Breitscheidplatz sowie dem „Kulturband“ an der nördlichen Potsdamer Straße wurde versucht, Kerngebiete für bestimmte Funktionen und Nutzungen zu schaffen. Weitere Akzente setzten Großsiedlungen wie im inneren Bereich das Hansaviertel und im äußeren die Gropius-Stadt und das Märkische Viertel.
Die Bevölkerungsstruktur und die Identität der weniger zerstörten Randgebiete veränderten sich kaum. Eine Durchmischung und Veränderung erfuhren dagegen die citynahen Gebiete in Schöneberg und Kreuzberg oder auch Neukölln, dem Wedding und Moabit.
DA: Apropos Durchmischung und Isolation. Auf der Insel West-Berlin gab es noch eine weitere Insel: Der westlichste Bezirk Spandau ist vom Rest der Stadt durch die Havel getrennt; seine Bewohner haben eine Sonderidentität entwickelt. Ist Spandau so etwas wie eine „Essenz“ von West-Berlin?
Novak: Wir müssen gestehen, dass auch unsere Ausstellung „Spandau bei Berlin" wieder einmal vernachlässigt hat. So sprachen wir beispielsweise über Bürgermeister Willy Kressmann und den Bezirk Kreuzberg, schwiegen aber über seinen nicht minder aktiven Kollegen Werner Salomon als „König“ der „autonomen Republik“ Spandau.
Beutelschmidt: Bei allem verständlichem Lokalpatriotismus erscheinen uns die Bedeutung der Randgebiete mit ihrem kleinstädtischen oder gar ländlichen Flair und damit ihr Einfluss auf Gesamt-Berlin eher gering. Abgesehen von einigen touristischen Hotspots wie der Zitadelle Spandau suchten die Berliner hier vor allem attraktive Ausflugsziele und Erholung „im Jrünen" oder am Wasser.
DA: Sie haben 2014 eine Ausstellung im Stadtmuseum Berlin mit dem Titel „West:Berlin. Eine Insel auf der Suche nach Festland“ kuratiert. Was meinten Sie damals mit dem Titel?
Beutelschmidt: Der Untertitel spielt auf die politisch aufgeladenen Schreibweisen an: West-Berlin – Westberlin – Berlin West – Berlin (West). Damit haben wir eine passende Metapher gesucht, welche die isolierte Lage West-Berlins im „roten Meer" der DDR veranschaulicht. Gleichzeitig wollten wir aber auch auf einer Metaebene die ständige Identitätssuche und Selbstbestimmung zwischen Bundesrepublik und DDR vielleicht sogar als ein „drittes Deutschland“ zum Ausdruck bringen.
Novak: Interessanterweise sind wir dann bei den Vorbereitungen auf eine Headline der tageszeitung gestoßen, die unseren Titel gewissermaßen „beglaubigt" hat: „Abschied von der Insel – Berlin sieht Land" hieß es auf der Titelseite in der Ausgabe vom 11. November 1989.
DA: Die Ausstellung wurde gut rezensiert, provozierte aber auch Kritik. Was wurde Ihnen konkret vorgeworfen?
Novak: Die Aufgabenstellung lautete, nach 25 Jahren Maueröffnung eine erste Gesamtschau West-Berlins zu präsentieren. Dabei sind wir von Seiten des Beirates und der vielen Zeitzeugen immer wieder auf signifikante Themen, Ereignisse, Personen und Orte hingewiesen worden, die bei einer Tour d` Horizon durch 40 Jahre Stadtgeschichte unbedingt zu berücksichtigen seien. Unser Ziel war deshalb, eine breite Palette abzudecken, Vergessenes oder Verschüttetes hervorzuholen und historische Zusammenhänge aufzuzeigen – und gleichzeitig nicht in Trauerarbeit oder in „Westalgie“ zu verfallen.
Beutelschmidt: Das birgt sicher immer die Gefahr, als „Jäger und Sammler" zu gelten, eine Ausstellung zu überfrachten oder sich in Kleinteiligkeit zu verlieren. Auf der anderen Seite konnten wir mit dieser Konzeption aber den Erwartungen gerecht werden. Denn die Ära West-Berlin wurde noch nicht ganz als Vergangenheit, aber auch nicht mehr als Gegenwart empfunden – sozusagen ein Zwischenraum, der mit vielen Erinnerungen und Bildern verbunden ist. Die Besucher konnten sich also entweder auf eine intensive Zeitreise durch ihre Geschichte einlassen oder sich auch durch ein Themen-Hopping überraschen und inspirieren lassen.
DA: Im Rahmen dieser Ausstellung haben Sie einen Fotoaufruf veröffentlicht und unzählige Einsendungen bekommen. Was waren die Schwerpunkte der Einsendungen und welchen Eindruck hat man bekommen: Welches Bild haben sich die Leute von ihrer Stadt gemacht und Ihnen mitgeteilt?
Novak: Der Fotoaufruf „West-Berlin, privat“ hat tatsächlich viele Berliner ermuntert, ihre Bilder mit West-Berlin-Bezug einzusenden. Die Rückmeldungen deckten die ganze Palette der Familien- und Erinnerungsbilder ab, mal konventionell, mal unangepasst. Auf diese Weise entstand ein virtuelles Fotoalbum, das den vergangenen Alltag und das Lebensgefühl in Erinnerung ruft und über das Internet abrufbar blieb.
DA: Sonderrolle und Privilegien gingen nach 1990 verloren. Was hat das mit dem westlichen Stadtteil gemacht?
Beutelschmidt: Hat sich die Sonderrolle nicht von der Frontstadt zur Hauptstadt verlagert, deren Unterstützung in Teilen der Republik weiterhin umstritten ist? Und Privilegien gingen wohl auch nicht verloren. Sie kamen nur anderen Kreisen zu Gute: Denken Sie nur an neue Abschreibungsmodelle und lukrative Grundstückdeals. Verschwunden sind allerdings viele der früheren Freiräume jenseits des ökonomischen Verwertungsdrucks, die der Kreativszene ein recht sorgenfreies Nischendasein sicherten. Darüber hinaus hatten auch die wissenschaftlichen und kulturellen Einrichtungen mit den Vereinigungslasten nach dem Wegfall der Berlinförderung zu kämpfen. Nach der Wende verloren die „Stammbezirke" des Westens an Bedeutung – Zugezogene und Investoren konzentrierten sich zunächst auf Ost-Berlin.
DA: Sie sind beide nicht gebürtige West-Berliner, aber dennoch die Frage an Sie: Ist West-Berlin untergegangen wie ein Atlantis oder gibt es vielleicht doch noch ein West-Berlin?
Novak: Die allseits veränderten Ansprüche an Stadtentwicklung, Wohnen, Mobilität, wirtschaftliche Aktivität und berufliche Perspektiven konnten an West-Berlin nicht vorbeigehen. Die „Generation Y“ stellt neue Forderungen an Arbeiten und Leben. Das private Verhalten und die öffentlichen Räume sind einem ständigen Wandlungsprozess unterworfen. Das bedeutet, dass liebgewonnene Gewohnheiten und vertraute Plätze auch aufgegeben werden müssen.
Beutelschmidt: Selbst wenn das eine oder andere Straßenbild, Lokal, Kiez-Kino oder Traditionshäuser wie „Butter Lindner" wohl überleben dürften und West-Berlin nicht völlig „überschrieben" wird. Und was hatten wir bei unserer Ausstellungseröffnung den Besuchern als Motto mit auf dem Weg gegeben? Eine durchaus tröstende Weisheit von Konfuzius: „Leuchtende Tage. Nicht weinen, dass sie vorüber, sondern lächeln, dass sie gewesen."
Die Fragen stellte Clemens Maier-Wolthausen. Zitierweise: Eine Art Atlantis – das untergegangene West-Berlin, Interview mit Julia M. Novak und Thomas Beutelschmidt, in: Deutschland Archiv, 3.8.2017, Link: www.bpb.de/253495