Am 6. Dezember 1989 schickte der britische Botschafter in Bonn, Christopher Mallaby, eine für die damalige Situation erstaunlich weitsichtige Analyse des deutschen Bundeskanzlers Helmut Kohl an das Foreign Office nach London:
"Kohl spielt das Spiel seines Lebens, mit hohem Risiko. Wenn er es richtig spielt, wird er die Bundestagswahl im nächsten Jahr gewinnen und dann kann er als Kanzler der Einheit in die Geschichte eingehen. Aber nur ein falscher Tritt, und er kann alles verlieren. Die nächsten Monate – möglicherweise auch nur Wochen – sind entscheidend. Kohl weiß das."
Botschafter Mallabys Chefin, Premierministerin Margaret Thatcher, sah das vollkommen anders. Sie war eine erbitterte Gegnerin der Wiedervereinigung, Helmut Kohl erschien ihr als Nationalist, der auf die Gefühle der übrigen Europäer keinerlei Rücksicht nahm und vergessen zu haben schien, "dass die Teilung Deutschlands die Folge eines Krieges ist, den Deutschland angefangen hat“, wie sie Frankreichs Staatspräsident François Mitterrand vertraulich mitteilte.
Mitterrand spielte ein Doppelspiel. Scheinbar ein Freund Helmut Kohls, war auch er ein Feind der Wiedervereinigung. In seinen Augen hatte die Aussicht auf Vereinigung die Deutschen "in eine Art mentalen Schock versetzt"; sie seien wieder jene "bösen Deutschen" geworden, die sie einmal gewesen seien, sie würden mit einer gewissen Brutalität vorgehen, nach einer möglichen Wiedervereinigung werde Kohl mehr Einfluss in Europa haben, als Hitler je hatte, wie Mitterrand Thatcher anvertraute.
Für Kremlchef Michail Gorbatschow stand noch Anfang Dezember 1989 das Urteil der Geschichte fest: zwei deutsche Staaten. Und Russlands Außenminister Edward Schewardnadse meinte zum Zehn-Punkte-Plan Kohls: "Selbst Hitler hat sich so etwas nicht geleistet", während Gorbatschow ergänzte: "Kanzler Kohl behandelt die Bürger der DDR schon so wie seine Untertanen. Das ist ganz einfach offener Revanchismus.“
Der vielzitierte Zehn-Punkte-Plan – eine Art Fahrplan für die Wiedervereinigung – erreichte den amerikanischen Präsidenten George Bush zeitgleich mit der Verkündung durch Kohl im Bundestag am 28. November. Das war kein Übermittlungsfehler, wie man lange Zeit lesen konnte, sondern Absicht: Bush sollte keine Gelegenheit haben, etwas gegen den Plan einwenden zu können. Die Amerikaner waren über dieses Vorgehen ziemlich konsterniert.
Dies sind nur einige Hinweise darauf, wie kompliziert der Weg zur Einheit war, und dass er jedenfalls nicht so einfach war, wie auf so manchem Veteranengipfel erzählt wird.
In den 329 Tagen vom Mauerfall am 9. November 1989 bis zur Einheit am 3. Oktober 1990 agierte Helmut Kohl "wie so ein Caterpillar" - mit diesem Vergleich mit schweren Baumaschinen hat ihn Klaus Kinkel, zwischen 1992 und 1998 Nachfolger von Hans-Dietrich Genscher als Außenminister, später treffend charakterisiert. Man sei damals von morgens bis spät abends zusammen gewesen und Helmut Kohl saß
"bildlich – da oben in diesem Führerhäuschen des Caterpillar, mit riesigen Rädern, die über alles hinweggehen, und nichts konnte ihn aufhalten. Es gab kein Hindernis, das nicht beseitigt werden konnte. Er war derjenige, der mit ungeheuer zielsicherem Blick gesehen hat, was gemacht werden musste und konnte. Dabei ein Macher, kein Zögerer und kein Zauderer und kein Hinterzimmer-Visionär."
"Sagenhafte Präsenz"
Kohl beseitigte geschickt die Widerstände gegen die Wiedervereinigung in London, Paris und Moskau – abgesichert durch die Unterstützung der USA mit Präsident Bush an der Spitze. Selbst ein erklärter Gegner Kohls wie der langjährige Generalsekretär der CDU, Heiner Geißler, billigt in der Rückschau zu:
"Und jetzt begegnen wir einem Helmut Kohl, der mit einer sagenhaften Präsenz und auch mit einer politischen Weisheit ausgestattet ist, eine historische Schwellensituation meistert, der die Krise nicht hochkommen lässt, sondern der sich jetzt auf seine größte Zeit zubewegt. Es ist schon bewegend zu sehen, dass ein Politiker, dem einst bei seinem Antritt so wenig zugetraut wurde, jetzt in eine Form kommt und auch mit einer politischen Klugheit zu handeln vermag, die man wirklich nicht oft findet."
Für Kohls Kritiker waren der Sturz Helmut Schmidts und Kohls Wahl zum Bundeskanzler am 1. Oktober 1982 eher ein Versehen gewesen. Viele glaubten an ein kurzes Intermezzo und hofften auf ein Scheitern Kohls. Sie unterstellten dem CDU-Mann Unvermögen und Defizite auf fast allen politischen Feldern. Von ihm erwartete man nicht viel. Von den politischen Gegnern und der Presse wurde er denn auch jahrelang unterschätzt. Die Kritiker machten sich lustig über die „Birne“ aus der Pfalz und stellten ihn als "tumben Tor" dar.
Dabei hätten sie besser einen Blick auf die Karriere des Helmut Kohl bis zu diesem Zeitpunkt werfen sollen: Er war von Anfang an ein zielstrebiger Politiker, der, wo immer er antrat, an die Spitze wollte. Und es auch schaffte. Und zwar – worauf er mit Stolz immer wieder verwies – durch demokratische Wahlen. Sich zu profilieren und gleichzeitig für die CDU zu werben, das machte sein Erfolgsrezept in den fünfziger und sechziger Jahren aus.
Erfolgsfaktor: Taktisches Geschick
Kohls taktisches Geschick wurde schon damals vielfach unterschätzt. Dabei war er bei seinem Aufstieg immer und überall der Jüngste: 1959 als Landtagsabgeordneter in Mainz, 1963 als Fraktionschef, 1966 als CDU-Landesvorsitzender, 1969 mit 39 Jahren als Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz, 1982 als Bundeskanzler. Während seiner Amtszeit als rheinland-pfälzischer Ministerpräsident trieb er die Modernisierung des Bundeslandes voran und nutzte sein Gespür für Menschen und die Fähigkeit, neue politische Begabungen zu entdecken – ein wichtiger Schlüssel für seine erfolgreiche Landes- und später Bundespolitik. So umgab er sich mit Ministern, die die junge Garde repräsentierten, etwa Kultusminister Bernhard Vogel und Sozialminister Heiner Geißler, und versuchte, das von ihm immer wieder beschworene Prinzip der Bürgernähe in die Tat umzusetzen.
Als CDU-Landesvorsitzender saß er seit 1966 im Bundesvorstand der Partei, wo er die Altherrenriege gewaltig aufmischte. Aus seiner Sicht befand sich die CDU in einem miserablen Zustand, sie war keine Partei für eine moderne Industriegesellschaft. Immer wieder wies er auf die Defizite der Partei hin, die er nach seiner Wahl zum Bundesvorsitzenden 1973 zu einer modernen Organisation umstrukturierte – und zu einem Instrument für seine Politik machte. Das blieb so bis 1998.
Stärken und Schwächen
Kohls politische Stärke während seiner 16-jährigen Regierungszeit als Kanzler und den 25 Jahren als Bundesvorsitzender der CDU war sein ungebrochenes Vertrauen in die eigene Person; seine Schwäche bestand in seiner Unfähigkeit, jemanden gleichberechtigt neben sich zu tolerieren. Er bediente sich der Fertigkeiten anderer, vermittelte ihnen Vertrauen, aber wehe, wenn sie nicht auf seiner Schiene liefen! Dann konnte er unerbittlich nachtragend sein. Dabei scheute er vor Meinungsführerschaft in grundsätzlichen Fragen der Innen- und Außenpolitik nicht zurück.
Viele hielten Kohl für zuverlässig und vertrauenswürdig, für einen der Ihren. Er diente als Identifikationsfigur und vermittelte vielen Bürgern Vertrauen in seine unbeirrbaren Überzeugungen. Kohls besondere Stärke war seine Belastbarkeit und seine Regenerationsfähigkeit nach strapaziösen Stunden, Tagen und Wochen. Kohl ruhte in sich selbst, schien mit sich selbst zutiefst einig zu sein. Er besaß eine unkomplizierte, klare Sicht der Dinge, machte unbekümmert das, was er für richtig hielt. Er dachte und handelte nicht intellektuell, sondern organisatorisch-pragmatisch.
Zu seinen persönlichen Stärken gehörte seine Prinzipientreue. Während er im kleinen Kreis durch einen reichhaltigen Schatz an differenzierten politischen Kenntnissen beeindrucken konnte, war die öffentliche Wahrnehmung seiner Person eine ganz andere: Kohl galt als behäbig und glanzlos.
Kohl hielt viel von persönlichen Beziehungen – auch und gerade im politischen Leben. Das galt für die amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan, für George H. W. Bush und Bill Clinton, für Gorbatschow und Jelzin – und auch für Mitterrand.
Ende der Kanzlerschaft
Nach 16 Jahren Kanzlerschaft kam dann auch ein wenig Überheblichkeit hinzu: Bei der Wahlniederlage 1998 hatte sich Kohl verschätzt und seine Popularität überschätzt. Sein Handwerkszeug eines Virtuosen der Macht und seine Spürnase für politische Entwicklungen hatten versagt.
Als dann noch bekannt wurde, dass er für die Partei nicht deklarierte Spenden angenommen hatte und sich weigerte, die Namen der Spender zu nennen, geriet er in den Fokus öffentlicher und politischer Kritik. Seinem Ansehen schadeten außerdem angeblich verschwundene Akten und gelöschte Dateien im Bundeskanzleramt. Diese Vorwürfe konnten nicht bewiesen werden, die Ermittlungen wurden eingestellt.
Seit einem schweren Sturz im Jahr 2008 saß der Altkanzler im Rollstuhl. Auch wenn ihm mancher seiner Kritiker lange Zeit – vor allem wegen der Spendenaffäre – keine politische Größe zubilligen mochte: Kohls Verdienste stehen bei allen Fehlern, die er gemacht hat, außer Zweifel. In den 16 Jahren seiner Kanzlerschaft stellte er wichtige Weichen für die Zukunft Deutschlands und Europas: Er setzte den NATO-Doppelbeschluss durch, er erreichte die deutsche Einheit und förderte die Einigung Europas mit der Einführung einer gemeinsamen europäischen Währung. Am 16. Juni 2017 ist Helmut Kohl mit 87 Jahren gestorben. In der deutschen wie in der europäischen Geschichte ist ihm ein herausragender Platz sicher.
Zitierweise: Rolf Steininger, Der pragmatische Machtmensch: ein großer Deutscher und ein großer Europäer, in: Deutschland Archiv, 4.7.2017, Link: www.bpb.de/251619