70 Jahre hat sich der Ende März 2016 verstorbene Hans-Dietrich Genscher parteipolitisch engagiert und 42 Jahre "hauptamtlich" Politik betrieben, davon 33 Jahre als Mitglied des Bundestages, 23 Jahre als Bundesminister, 18 Jahre als Vizekanzler und gut zehn Jahre als Parteivorsitzender. Das sind gerade in puncto Ministertätigkeit bislang in der Bundesrepublik unerreichte Zahlen. Und doch führen sie historiografisch teilweise zu einem merkwürdig blassen Bild: So wird Genscher in einem Standardwerk zum "Kalten Krieg", für dessen Überwindung er sich so sehr einsetzte, nur zweimal eher beiläufig erwähnt und damit nicht nur weniger als "seine" drei Kanzler, sondern auch weit weniger als Erich Honecker!
Es gibt natürlich, gerade in der Geschichtsschreibung zur Bundesrepublik, auch andere Stimmen. Es bleibt jedoch ein Unbehagen angesichts solcher "Bilanzen" eines Politikers, der auch über viele Jahre zu den beliebtesten in der Bundesrepublik gehörte und als Elder Statesman über Ansehen verfügte wie kaum ein zweiter Deutscher.
Herkunft und erste politische Schritte
Geboren wurde Genscher nahe Halle zum Frühlingsanfang 1927.
Ein tiefergehendes Engagement hatte dies zunächst nicht zur Folge. Denn er erkrankte schwer und hatte mit den Folgen der Krankheit noch ein ganzes Jahrzehnt zu kämpfen. Insofern war es schon erstaunlich, dass er bereits im Oktober 1949 in Leipzig das erste juristische Staatsexamen ablegte. Die Erfahrungen zunehmender Unfreiheit im SED-Staat ließen Genscher im August 1952, unmittelbar nachdem in der DDR der „Aufbau des Sozialismus“ verkündet worden war, in den Westen übersiedeln. In Bremen folgten das zweite Staatsexamen und der Eintritt in die FDP. 1956 wurde der junge Rechtsanwalt dann wissenschaftlicher Mitarbeiter der FDP-Fraktion im Bonner Bundestag. Sein politischer Mentor wurde der ehemalige Justizminister und Parteivorsitzende Thomas Dehler.
Die Stuttgarter Rede 1966
Zu diesem Zeitpunkt galt Genscher vor allem als politischer Strippenzieher hinter den Kulissen, der lieber anderen zuarbeitete als selbst Profil zu entwickeln.
Von diesem Ausgangspunkt aus entwickelte Genscher eine Reihe von Prämissen und Instrumenten, die zum Ziel führen sollten: Grundlegend war für ihn, dass bei einer etwaigen Wiedervereinigung für die "Bundesrepublik einschließlich West-Berlin Frieden, Freiheit und Unabhängigkeit" gesichert sein und dass dazu auch die USA unbedingt eingebunden werden müssten.
Notwendig sei auch eine Absage an alle "nationalen Hegemoniewünsche", was Genscher sowohl explizit auf die Bundesrepublik als auch indirekt auf den Gaullismus bezog. Als Instrumente sah Genscher zunächst "zweiseitige Sicherheitsvereinbarungen" und dann – unter Aufgreifen von sowjetischen Vorschlägen – eine "gesamteuropäische Sicherheitskonferenz":
Eine grundlegende Vision
Diese Rede kann man im Nachhinein als Drehbuch für zentrale Aspekte des Kurses verstehen, den der Außenminister Genscher später verfolgen sollte. Sie stand insofern in einer liberalen Tradition, als sie die nationale Einheit – ein zentrales Anliegen der deutschen Liberalen vor 1871 und nach 1945 – in den Mittelpunkt stellte. Zugleich zog sie aber Lehren aus der deutschlandpolitischen Entwicklung in den beiden Jahrzehnten zuvor. Mit der Rede löste sich Genscher von seinem Mentor Dehler, der wie viele Freidemokraten seit Mitte der 1950er Jahre "in Adenauers Politik der Westintegration zunehmend Gefahren für die Wiedervereinigung“ gesehen hatte.
Er nahm damit einiges aus dem berühmten, nach dem belgischen Außenminister benannten "Harmel-Bericht" vorweg, in dem die NATO ein Jahr später "neben der klassischen Aufgabe der Verteidigung nunmehr die Politik der Entspannung als zweites gleichberechtigtes Ziel deklarierte“.
Der Innen- und Umweltminister
Abgesehen von einigen koalitionsinternen Aufregungen hatte die Rede zunächst keine Folgen und wurde auch nicht prominent publiziert. Es war auch unklar, ob Genscher selbst an den vom ihm gewiesenen Zielen tatkräftig mitarbeiten wollte. Denn als die FDP 1969 zwar vom Wähler geschwächt, aber vom neuen Koalitionspartner SPD durch drei klassische Ressorts mit einem bundespolitischen Einfluss wie nie zuvor ausgestattet in die Regierung zurückkehrte, streckte Genscher seine Hände nicht nach einem für seine "Vision" zuständigen Ministerium wie das für Äußeres oder für Gesamtdeutsches aus: Nach kurzem Liebäugeln mit dem Finanzressort übernahm er den „Bauchladen“ (Egon Bahr) Innenministerium.
Mit seinen vielen Kompetenzen und Aufgaben stellte dieses Ministerium gerade für den Ministerneuling eine große Herausforderung dar. Diese wurde im Fall Genschers, der als erster Liberaler die Leitung innehatte, durch das strukturelle ressortinterne Spannungsverhältnis noch gesteigert, das in der Doppelaufgabe des Innenministers liegt, sowohl die Verfassung und die von ihr garantierten Grundrechte zu wahren als auch die innere Sicherheit zu gewährleisten. Dennoch erlangte er schnell den Ruf "des sachkundigen Ressortleiters".
In Bezug auf den Umweltschutz stellte Genscher seine Aufgeschlossenheit für Innovation nun auch innenpolitisch unter Beweis: Nicht nur machte er ihn erstmals zu einer staatlichen Aufgabe, sondern er lancierte auch in rascher Folge gesetzgeberische und institutionelle Maßnahmen, die 1974 mit der Eröffnung des Umweltbundesamtes in West-Berlin gekrönt wurden, mit der der baldige Außenminister zugleich den Stand der Entspannungspolitik testen wollte. Diese Aktivitäten trugen ihm "zu Recht das Etikett ‚erster Umweltschutzminister‘ der Bundesrepublik ein".
Herausforderung innere Sicherheit
Überschattet wurden die unzweifelhaften Aktiva des Innenministers, zu denen auch eine Herabsetzung des Wahlalters gehörte, durch die rapide angewachsene Bedrohung von Staat und Gesellschaft, die von in- und ausländischen Terroristen ausging. Nicht nur forderte die Baader-Meinhof-Gruppe mit ihren marxistisch motiviertem „Kampf gegen das System“ und zahlreichen Attentaten die Sicherheitsorgane heraus. Auch die als „heitere Spiele“ geplante Olympiade in München wurde mit blutigem Terror, diesmal von Palästinensern, überzogen, der 17 Menschen, darunter viele Israelis, das Leben kostete.
Genscher zog daraus Konsequenzen für den Aufbau neuer Sicherheitsstrukturen, da er bei aller liberalen Skepsis gegenüber der Staatsmacht um die Bedeutung von "Frieden und Stabilität im Innern" für das Gedeihen und Ansehen der Bundesrepublik wusste:
Eine anders geartete Bedrohung der bundesdeutschen Sicherheit hätte Genschers Karriere 1974 beinahe beendet: Bei der Enttarnung von Günter Guillaume als DDR-Spion im Kanzleramt übernahm Kanzler Willy Brandt die "politische Verantwortung" und rettete damit in gewisser Weise seinen Innenminister, der im Vorfeld keine ganz glückliche Rolle gespielt hatte. Mit Glück und Können überstand Genscher die Tragödie von München und die "Guillaume-Affäre" politisch weitgehend unbeschadet, weshalb ihm Zeitgenossen "Anpassungsfähigkeit" und "Taktik als Lebenselixier" zuschrieben.
Im Innenministerium entwickelte er jenes Instrument, das er als Außenminister perfektionieren sollte, nämlich eine PR-Strategie, die auf "Omnipräsenz in Presse, Rundfunk und Fernsehen" zielte.
Der Parteivorsitzende
Mit seinem politischen vollzog sich auch ein innerparteilicher Aufstieg: Anfang 1968 war er zum stellvertretenden Vorsitzenden der FDP gewählt worden und gehörte so gemeinsam mit Walter Scheel und Wolfgang Mischnick jenem Triumvirat an, das die FDP in den Jahren des "Machtwechsels" und der Kanzlerschaft Willy Brandts führen sollte. Unangefochtener Parteichef war zwar Scheel, aber Genscher galt als "Eckstein der Koalition" und damit auch als Scheels "natürlicher Vize".
Sollte die FDP-Basis wirklich nach dem Wechsel vom fröhlichen Rheinländer Scheel zum bis dahin eher als spröde geltenden Hallenser Genscher mit dem neuen Vorsitzenden "gefremdelt" haben, so änderte sich das rasch. Im Spiegel der Wahlplakate wird deutlich, wie sehr bald Genscher und die FDP "eins schienen":
Problematische Abhängigkeit
Andererseits gerieten die Freien Demokraten nicht nur auf Bundesebene in starke Abhängigkeit vom öffentlichen Standing ihres Frontmannes: Waren dessen Popularitätswerte hoch wie 1980, als sich Genscher im Zweikampf zwischen Helmut Schmidt und Franz Josef Strauß geschickt als die Stimme der Vernunft präsentiert, oder wie 1990 nach dem Vollzug der deutschen Einheit, dann profitierte auch seine liberale Partei davon und erzielte jeweils herausragende Wahlergebnisse. 1983 allerdings, nachdem die Sozialdemokraten Genscher als "Verräter" an der Koalition und den Wahlaussagen von 1980 bezeichneten und er in der öffentlichen Meinung tief abstürzte, hatte dies massive Auswirkungen auf das FDP-Wahlergebnis, mit dem die Partei nur mit Mühe wieder in den Bundestag einzog.
Als Genscher sich 1992 – auch für seine Parteifreunde – unerwartet von der aktiven Politik zurückzog, hatte das zunächst ein erhebliches Chaos in der FDP-Führung zur Folge, unter anderem weil es jetzt, anders als 1974, eben keinen logischen Nachfolger gab. Mittelfristig führte es zu einer Krise der Partei, die sechs Jahre später erstmals in ihrer Geschichte aus einer Bundesregierung "abgewählt" wurde.
Der Außenminister
Genschers starke Stellung als Parteivorsitzender beruhte auf seiner Position als Außenminister. Die erwähnten Wahlergebnisse seiner Partei deuten schon an, dass die 18 Jahre im Auswärtigen Amt keine lineare Erfolgsgeschichte waren, an deren Ende als logische Folge die deutsche Wiedervereinigung stand.
Die Anfänge im Außenministerium waren unspektakulär, denn in der Tat waren die Ostverträge, mit denen sein Vorgänger gepunktet hatte, "unter Dach und Fach“, aufsehenerregende Fortschritte schienen weder hier noch bei der Westintegration zu erwarten.
Ein zweiter Ansatzpunkt war der von seinem Vorgänger Scheel beim Abschluss des Moskauer Vertrages 1970 übergebene und von der sowjetischen Führung akzeptierte "Brief zur deutschen Einheit", in dem die Bundesrepublik ihren Anspruch auf eine Vereinigung des deutschen Volks "in freier Selbstbestimmung" bekräftigte.
Rückschläge und Fortschritte
Mittelfristig wurde Genschers mit der KSZE verbundene Optimismus aber enttäuscht. In den nächsten Jahren kam es statt zu Fortschritten zum "Niedergang der Entspannung"
Der Außenminister reagierte darauf vor allem zweifach: Er unterstützte einerseits rückhaltlos die westliche Doppelstrategie, die unter der Überschrift "NATO-Doppelbeschlus"“ firmierte. Für Genscher bedeutete dies eine Politik, die "das Gleichgewicht wahrt und gleichzeitig die Hand zur Kooperation ausgestreckt hält".
Das Stagnieren der Ost-West-Entspannung versuchte Genscher andererseits ab 1981 durch Fortschritte bei der Vertiefung der westeuropäischen Einigung in gewisser Weise zu kompensieren. Die gemeinsam nach ihm und seinem italienischen Amtskollegen Colombo benannte Initiative änderte dann auch mittelfristig mit der daraus hervorgehenden Europäischen Einheitlichen Akte von 1986 grundlegend den Charakter der Gemeinschaft und ebnete indirekt den Weg zu den Vertragswerken des Europäischen Binnenmarktes. Genscher konnte – im Gegensatz zu anderen, stärker ökonomisch orientierten Liberalen – diese Richtung auch deshalb unbefangen einschlagen, da er "die Europäische Gemeinschaft stets als politisches Projekt" verstand.
Der Höhepunkt – die deutsche Einheit
Mit dem Aufstieg von Michail Gorbatschow in die Kreml-Führung kam ab 1985 auch wieder Bewegung in die Ost-West-Beziehungen. Als einer der ersten im Westen spürte der deutsche Außenminister die Veränderungen im sowjetischen Machtbereich und forderte – im Unterschied zu Kanzler Helmut Kohl und vielen westlichen Politikern – schon Anfang 1987, den sowjetischen Reformpolitiker "mit aller Konsequenz beim Wort zu nehmen".
Aber in dem Maße, wie sich die Dinge im Ostblock in Richtung Liberalisierung entwickelten, konnten auch US-amerikanische Skeptiker Genscher die Anerkennung nicht mehr verweigern. James Baker, der neue Außenminister der Bush-Administration, wurde dann auch zu einer verlässlichen Stütze im Zuge des Einigungsprozesses.
Genschers großen Anteil daran nachzuzeichnen, ist hier nicht der Platz. Auf zwei Grundpositionen von ihm soll jedoch hingewiesen werden, weil sie die Einheit maßgeblich beförderten: Ganz im Sinne seiner Stuttgarter Rede und des "Briefes zur deutschen Einheit" sollte sich die deutsche Wiedervereinigung im Einklang mit den Nachbarn und nicht als Kapitulation von Dritten vollziehen. Das hieß zum einen, die Einheit sollte als "Vereinigung von unten", also als Angelegenheit des deutschen Volkes und nicht als gezielte Wiedervereinigungspolitik, passieren.
Das Bohren harter Bretter
Es ist jüngst geäußert worden, Hans-Dietrich Genscher habe "die deutsche Sicherheits- und Europapolitik bis zur Wiedervereinigung wie kein anderer nachhaltig" geprägt.
Über den sicherlich in der Erinnerung im Vordergrund stehenden Außenpolitiker Genscher sollte nicht seine vergleichsweise kurze Rolle als Innenminister vergessen werden, auch nicht der Parteipolitiker, dessen Bilanz möglicherweise umstrittener ist. Vor allem für den Außenpolitiker, aber gewiss auch für den gesamten Politiker Genscher gilt jedoch: Wenn man nach tatsächlichen Beispielen sucht für Max Webers berühmte Definition von "Politik als Beruf" als "ein starkes langsames Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich", bietet die politische Vita von Hans-Dietrich Genscher dafür ebenso reiches wie eindrucksvolles Anschauungsmaterial.
Zitierweise: Jürgen Frölich, Taktisch versierter Pragmatiker und Visionär zugleich. Zum politischen Wirken von Hans-Dietrich Genscher (1927–2016), in: Deutschland Archiv, 19.5.2017, www.bpb.de/248082