Schwindende Chancen
Der Mauerbau und die Verrechtlichung der politisch-sozialen Stigmatisierung verschärften in der DDR die Ausgrenzung von Andersdenkenden.
Die sozialrassistische Konstruktion dieser Ordnung hat Thomas Lindenberger benannt.
Einige wache Amtsträger der evangelischen Kirche öffneten seit den 1960er Jahren ihre Türen. Dies war der Beginn der offenen Jugendarbeit, die sowohl integrieren als auch Tabuthemen ansprechen wollte.
Fragen und Thesen
Die Offene Arbeit (OA) reagierte auf die Blockaden, die der sozialistischen Jugend das Korsett des einheitlichen Menschenbildes aufzwangen.
Bislang ist die Entwicklung der alternativen Jugendarbeit meist isoliert von diesen Bedingungen als kontinuierlicher Prozess stilisiert worden, der 1989 in der Friedlichen Revolution gipfelte. Es fragt sich allerdings, ob die dafür notwendige Kontinuität und das so vorausgesetzte zielführende Handeln tatsächlich so existent waren. Denn einmal war dieses soziale Feld vielmehr von Diskontinuität geprägt, weil es als direkter Referenzpunkt der Repressionspraxis diente. Dauerhaftigkeit war dagegen an Kooperationen mit der Herrschaft gebunden, der Verbleib an einem Ort an stabile Lebensverhältnisse. In der Offenen Arbeit konzentrierten sich dagegen die Kreuzpunkte der Instabilität. Dieser Ort als Hort der Freiheit scheint deshalb eher als utopische Sehnsucht auf, weniger als realisierbare Alternative. Vielmehr zeigt sich ein soziales Machtfeld, in dem spätestens in den 1980er Jahren die ausgrenzende Dynamik der „Diktatur der Grenzen“ griff.
Entstehung und Orte der Offenen Arbeit
Die Offene Arbeit gründete sich als Refugium im Kontext jugendlicher Lebenswelten. Das unterschied sie von staatsoffiziellen Institutionen. Die Bezeichnung dieser Jugendarbeit mit dem Attribut „offen“ reagierte auf die zunehmende Schließung der staatlichen Räume sowohl im Wortsinne als auch in übertragener Bedeutung. Trotz der Differenzen zwischen den Generationen wollte man offen sein und mit Integrationsangeboten ein Gegengewicht zur allseits spürbaren Ausgrenzung setzen. Mit dem Kulturwandel ging der Wunsch nach einem selbstbestimmten, zugewandten und solidarisch gebundenen Leben einher. So entwickelten sich unterschiedliche Orte. Die Suchenden und Ausgegrenzten wollten jenseits der vorgegebenen Marschlieder Verantwortung übernehmen, was sich in den drei Attributen „einfach, gewaltfrei, solidarisch“ spiegelt.
Einzelne Seelsorger öffneten kirchliche Räume, so 1963 in Karl-Marx-Stadt, Mitte der 1960er Jahre in Saalfeld
Bei allen regionalen Unterschieden sollten die Jugendlichen in den neuen Räumen ihren altersspezifischen Bedürfnissen entsprechend verweilen dürfen. Dazu gehörten selbst gewählte Themen, wilde Rhythmen, wehende Haare, Miniröcke, Glockenhosen, die Neugier auf die Welt da draußen und die Abkehr vom apokalyptischen Arbeitswahn.
Vor Ort organisierten sich die Aktiven der neuen Jugendarbeit unter diesen Prämissen in „Vorbereitungskreisen“, die den Hinzukommenden die Mitarbeit erleichtern sollten. In der Realität entwickelten diese, da abhängig vom örtlichen Milieu, nur begrenzte Reichweite. In Rudolstadt und Saalfeld trugen überwiegend kirchliche Angestellte die thematische Arbeit, in Jena ein zunehmend von inoffiziellen Mitarbeitern des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) dominierter Kreis, in Erfurt diverse thematische Gruppen. Der emanzipatorische Anspruch wurde bestenfalls verhalten thematisiert und entfaltete sich gegen Widerstände möglicherweise in Erfurt stärker als in Gera, Jena oder Rudolstadt, wenn auch in Weimar und Jena selbstbewusste Frauen auftraten.
Bis zum Ende der 1970er Jahre hatte sich die Offene Arbeit bereits als Kreuzpunkt gesellschaftlicher Probleme gezeigt. Sie spiegelte die Art, mit diesen Konflikten umzugehen. Einen besonderen Stellenwert nahmen die Ausgrenzung und mit ihr das Schweigen über Strittiges als gesellschaftliche Strategie ein. Sie hatte als gesellschaftliches Konfliktlösungsmodell nach der NS-Zeit nicht nur überdauert, sondern zog sich durch alle Lebensbereiche und wurde durch politisch-ideologische Interventionen forciert.
Als 1978 das UNO-Jahr gegen Apartheid ausgerufen wurde, beschlossen deshalb einige Jugendliche um Kreisjugendpfarrer Walter Schilling und Stadtjugendpfarrer Uwe Koch in Rudolstadt, ein DDR-weites Alternativfestival unter dem Stern der Toleranz zu organisieren: JUNE 78.
Die Diskussion setzte sich in jenem Jahr auf dem „Markt der Möglichkeiten“ des Erfurter Kirchentages fort. Die emanzipatorischen Ideen bildeten einen Kontrapunkt zur Militarisierung, die Gehorsam und Unterordnung forderte.
Der Aufbruch zu Empathie und Differenz setzte sich in Rudolstadt im Folgejahr mit „JUNE 79“ im „Internationalen UNO-Jahr des Kindes“ fort.
Anlässlich von „Jugend 86“ trat schließlich der wutheulende Punk auf die Rudolstädter Bühne. Die neue Jugendkultur artikulierte deutlich die erfahrene Ausgrenzung und verweigerte sich der herkömmlichen Kommunikationsmuster. Die Basis gemeinsamer Verständigung schien aus den Fugen geraten.
Die Tendenz, Äußerungs- und Lebensstile der Nachwachsenden nicht als gesellschaftliches Problem zu würdigen, sondern als persönliches Problem zu stigmatisieren, ließ sich andererseits nicht überall durchsetzen. Fritz Dorgerloh, seit 1980 beim Bund der Evangelischen Kirchen für die Jugendarbeit zuständig, lud nun die Offene Arbeit zu einem überregionalen Treffen nach Buckow bei Berlin ein. Daraus erwuchsen seit 1982 die jährlichen Treffen in Hirschluch in Brandenburg.
Mit dem international beachteten Martin-Luther-Jahr rückten Staat und Kirchenstrategen 1983 enger aneinander. In mehreren Großstädten der DDR fanden Kirchentage statt, und in Wittenberg ereignete sich die bekannte Pflugschar-Schmiedeaktion, die sich gegen das neue Wehrdienstgesetz und die Militarisierung von Erziehung und sozialem Leben richtete. So geriet die Jugend umgekehrt näher in das Raster disziplinierender Überwachung, die Forderungen der Offenen Arbeit schienen zu versanden.
Die Berliner Blues-Messen, bei denen seit 1979 konkrete Lebensrealitäten angesprochen und auch die Militarisierung angeprangert wurde, standen unter staatlichem wie auch innerkirchlichem Druck.
Konzepte und Praxis zwischen Ausgrenzung und Suche nach Sinn
Bis heute fällt es schwer, über zerstörte Biografien und nachhaltige Kränkungen besonders der aktiven und kreativen Mitglieder zu sprechen: Probleme erwuchsen sowohl aus externen Konflikten wie inneren Verständigungshürden. Hinzu kamen zwei Ansätze, die sich ergänzten, doch damals konkurrierten. Die eine Schule, der Pfarrer Walter Schilling zuzurechnen ist, hatte mit dem „Konzept der Konzeptlosigkeit“ die Gruppe im Zentrum ihrer Bemühungen gesehen. In ihr selbst sollte das Neue entstehen, dort würden Kreativität und Spontaneität freigesetzt werden.
Der Stil der Gruppen entschied sich am Potenzial ihrer Mitglieder und resultierte neben den Erfahrungen mit geheimpolizeilicher Repression aus parteigebundenen oder parteifernen Lebenswelten. Daraus speisten sich Konfliktkultur und Horizont. Dabei zeigen sich Unterschiede zwischen der ersten DDR-Generation (geboren um 1953) und den Jüngeren (geboren ab Beginn der 1960er Jahre). Hinzu kam die durch Repression forcierte Fluktuation. Die konflikthaften biografischen Verläufe führten zusammen mit der massiven gesellschaftlichen Abwertung zu Gruppenspannungen. Die Schwierigkeiten in Schule, Arbeit, Studium und Beruf ließen die Freundschaften, Familien und Lebensgemeinschaften nicht unversehrt. Erfolge waren kaum messbar, die Misserfolge zeigten sich dagegen in häufigen Sanktionen, in Haft und Ausschlusserlebnissen. Vor diesem Hintergrund lässt sich die wichtige Rolle von Großveranstaltungen und öffentlichen Auftritten auf den Blues-Messen oder Werkstätten ableiten, die als Erfolge, produktive Erlebnisse und Gruppensolidarität verbucht werden konnten.
Dies unterschied sie von der Generation jener, die, in den 1960er Jahren geboren, bereits in der Kindheit Ausgrenzungen durchlebt hatten. Ihre Integrationschancen waren oft bereits in der Schule gekappt worden, sodass sie, nicht selten kirchlichen Elternhäusern erwachsen, Wege ohne Vorbild finden mussten, Trampelpfade im bürokratisierten Staatssozialismus, doch von der Parteidisziplin verschont blieben. Einerseits mussten diese vielfach unter ihren Möglichkeiten bleiben, was in der patriarchalen DDR und der ebenso strukturierten Alternativszene besonders die Frauen traf. Andererseits hatten ihre Wahrnehmungsmuster weniger unter der parteilichen Zurichtung gelitten.
Die Abwertung jedoch beherrschte die Gruppen. Mit ihr fanden patriarchale und sexistische Wahrnehmungsmuster, Denkweisen und Handlungsstrukturen Eingang in die sich als alternativ bezeichnende Szene. Diese spiegelten die Gesellschaft und gingen mit Feindbildern einher, die mit dem Versuch, der Härte des Staates mit eigener Härte zu begegnen, in einer Sackgasse mündeten.
Auch die Nachgeschichte zeigt ein wiederkehrendes Erinnerungsmuster. So offenbart das Beispiel der Jenaer Friedensgemeinschaft die hauptsächliche Erinnerung an die männlichen Protagonisten, denen Kreativität und Intellektualität zugestanden wird. Die Frauen dagegen sind in Vergessenheit geraten oder werden auf einen Platz bei der „unpopulären Fleißarbeit“ verwiesen.
Offene Arbeit als Spiegel der Gesellschaft
Die Offene Arbeit war entstanden, um Ausgegrenzte zu beschützen und Heranwachsende zu bestärken. Dies erforderte Vertrauen. Dieses ist ein zerbrechliches Gut, das sich im System des Misstrauens nur noch ausnahmsweise entfaltete. Selbst die Sozialintegration innerhalb der Gruppen war jenen verwehrt, die vor der Repression in die großen Städte geflüchtet waren und umso mehr in prekären Verhältnissen lebten.
Die Ziele der Jugendarbeit hätten einen Rahmen benötigt, der den Schritt von der Kritik zu Produktivität, zu Experimenten und Kreativität geöffnet hätte. Dieses ist ein soziales Handeln, das ohne ein förderndes Umfeld misslingt.
Trotz des Autonomieanspruchs war die Offene Arbeit enger mit der Mehrheitsgesellschaft verflochten, als es schien. Einerseits hatten viele Randständige und Ausgegrenzte diese Orte als einen Freiraum beansprucht, in welchem sie der Ausweglosigkeit der staatlich gesetzten Grenzen entkommen wollten. Doch diese waren keine Orte der Freiheit, sondern ermöglichten bestenfalls beschränkte Produktivität. Sie blieben ein Feld, in dem sich die herrschaftlichen Symbole nicht aufhoben, sondern wandelten: in alternative Macht- und Positionskämpfe, als Spiegel einer die eigenen Erfahrungen verdrängenden und sich still stellenden Gesellschaft.
Zitierweise: Katharina Lenski, Sozialistisches Menschenbild und Individualität. Die „Offene Arbeit“ – ein Ort der Freiheit? Entstehung, Konzepte und soziale Praxis alternativer Jugendkultur im Staatssozialismus (1961-1989), in: Deutschland Archiv, 15.3.2017, Link: www.bpb.de/242954