Referierende:
Bekim Baliqi, Department of Political Science, Universityof Prishtina, Kosovo
Anke Giesen,Otto-von-Guericke-University Magdeburg, Deutschland
Tomáš Karger, Faculty of Humanities, Tomáš Bat‘a University in Zlín, Czech Republic Memory
Sandra Matthäus, Institut für Sozialwissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin, Institut für Medizingeschichte und Wissenschaftsforschung, Universität Lübeck
Moderation:
Oliver Rathkolb, Vorstand des Instituts für Zeitgeschichte der Universität Wien
Nach einer kurzen Einführung durch den Moderator Oliver Rathkolb (Vorstand des Instituts für Zeitgeschichte der Universität Wien) startete Bekim Baliqi (Department of Political Science, University of Prishtina, Kosovo) das erste Panel mit seinem Vortrag Interner Link: "Divided memories – divided youth". Er untersuchte, inwiefern die Erinnerung an den Krieg die Identität und politische Haltung von jungen Menschen im Kosovo beeinflusst. In seinen Studien stand insbesondere die "born during the war" Generation im Fokus, die in den 1990er Jahren sowie unmittelbar nach dem Krieg Geborenen. Baliqi konstatierte, dass im Hinblick auf die Möglichkeiten für einen Friedensprozess kollektive traumatische Erinnerungen eine große Rolle spielen. Die Erinnerungen an den Krieg verstärkten Vorurteile und Misstrauen, sowohl innerhalb als auch zwischen den ethnischen Gruppen. Unter den Jugendlichen existiere wenig Wille zur Versöhnung, und die durch öffentliche Gedenkakte re-inszenierte Erinnerung an die Traumata wirke verstärkend auf die – auf ethnischen Zugehörigkeiten basierenden – Identitätsbildungsprozesse. Dazu trage auch das weitgehend segregierte Bildungssystem bei, welches keine Begegnungen und gemeinsamen Schulbücher zulasse und die in den jeweiligen Gruppen vorherrschenden Narrative unterstütze. Diese miteinander in Konflikt stehenden Opfererzählungen könnten nur durch eine gemeinsame Bildungsanstrengung, eine "civic education", überwunden werden. Baliqi betonte, dass gerade die jüngere Generation das Potenzial hätte, mit einem stärkeren demokratischen Engagement eine angemessene Erinnerungskultur zu entwickeln, ethnische Differenzen zu überwinden und einen positiven Einfluss auf die Gesellschaft im Kosovo auszuüben.
Anke Giesen (© Barbara Klaus)
Anke Giesen (© Barbara Klaus)
Anke Giesen (Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg) untersuchte in Ihrer Forschungsarbeit Interner Link: "USSR 2.0 or a normal European Country?" den anhaltenden Streit um das einzige GULag -Museum auf dem gesamten Territorium Russlands "Perm-36" in Tschussowoi, welches 2014 verstaatlicht wurde und seitdem sein museales Narrativ massiv änderte. Giesen führte Interviews mit Mitgliedern lokaler Organisationen, die der "Generation of Transition" angehören. So sprach sie mit jungen Mitgliedern von "Memorial", einer Menschenrechtsorganisation, die sich unter anderem um die Fürsorge der Überlebenden des sowjetischen Arbeitslagersystems GULag kümmert, sowie mit Anhängern der neo-stalinistischen Organisation "The Essence of Time", die sich für eine "Soviet Union 2.0” einsetzen und konservative Werte vertreten. Sie untersuchte die Tätigkeiten beider Gruppen rund um die Reorganisation des Museums und zeigte, anhand von Analysen der Akteure und ihrer öffentlichen Verlautbarungen, die Konfliktlinien zwischen europäisch ausgerichteten, vorwärtsschauenden und international vernetzten russischen Jugendlichen und der rückwärtsgewandten, nationalistischen Bezugsgruppe auf. Die am Beispiel der Interpretationen der Gedenkstätte "Perm-36" auftretende extreme Polarisation beider Gruppierungen spiegelt die gegensätzlichen gesellschaftlichen Strömungen in der heutigen russischen Föderation wider. Es wurde wieder einmal deutlich, dass das Erbe, welches die Sozialistische Ära in Russland hinterlassen hat, noch lange nicht bewältigt ist.
Tomáš Karger (© Barbara Klaus)
Tomáš Karger (© Barbara Klaus)
Tomáš Karger (Faculty of Humanities, Tomáš Bat‘a, University in Zlín, Czech Republic Memory) stellte die – zusammen mit seinem Kollegen Jan Kalenda – erarbeiteten Ergebnisse des Forschungsprojekts Interner Link: "Remembering while Forgetting, How young Czechs grow into collective memory" vor. Die beiden Forscher untersuchten anhand der folgenden vier signifikanten historischen Ereignisse der letzten 70 Jahre, wie junge Tschechen im Alter von 12-25 Jahren sich das kollektive Gedächtnis der Tschechischen Republik aneignen: Der Terrorangriff vom 11. September 2001, das Ende des kommunistischen Regimes in der Tschechischen Republik im November 1989, der Prager Frühling 1968 und der sogenannte Februarputsch – die Machtübernahme der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei im Februar 1948. Dabei analysierten sie die unterschiedliche Bedeutung der Familienerzählung, moderner Medien, sozialer Medien sowie schulischer Erziehung für die einzelnen Zeitabschnitte und historischen Ereignisse. Die Ergebnisse zeigen, dass die einzelnen Ereignisse sehr unterschiedliche Quellen der Erinnerung und Medien der Erinnerungsbildung haben und erfordern.
Sandra Matthäus (© Barbara Klaus)
Sandra Matthäus (© Barbara Klaus)
Als letzte Sprecherin des Panels stellte Sandra Matthäus (Institut für Sozialwissenschaften, Humboldt-University zu Berlin, Institut für Medizingeschichte und Wissenschaftsforschung, Universität Lübeck) in ihrem Vortrag "The Worth of East German Identity" anhand der Theorien Pierre Bourdieus mögliche oft auch kontrastierende Zugänge zu einer neuen deutschen Identität dar. Ausgehend von einer Debatte, die sich auf der Facebook-Seite der Initiative „Dritte Generation Ost“ entzündet hatte, führte Matthäus die Anwesenden in die Aushandlungsprozesse von Identitäten ein, wie sie in den Theaterstücken "The Situation" und "Common Ground" von Yael Ronen beschrieben werden. Dabei verdeutlichte sie die unterschiedlichen Zugänge für eine Identitätsbildung. Abschließend warf Sandra Matthäus die Frage auf, ob denn nicht eine ostdeutsche Identität im Rahmen zunehmender Migration in die Bundesrepublik und den Herausforderungen, denen sich das europäische Projekt gegenübersieht, einen wertvollen Beitrag in der Aushandlung einer gemeinsamen, wertebasierten Identität aller Bewohnerinnen und Bewohner der Bundesrepublik beisteuern könnte.