Die Autoren dieses Beitrags sind Schüler der achten Klasse eines Dessauer Gymnasiums. In ihrem Beitrag zum Geschichtswettbewerb um den Preis des Bundespräsidenten "Anders sein. Außenseiter in der Geschichte" schildern sie eindrücklich das Leben von Vertragsarbeitern aus China im Dessau der 1980er Jahre. Das Deutschland Archiv veröffentlicht eine leicht angepasste Fassung des Wettbewerbsbeitrags.
Chinesische Vertragsarbeiter in Dessau – 388 : 100.000
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Die Idee
Im Rahmen des Geschichtsunterrichts hatte uns unsere Geschichtslehrerin auf den Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten mit dem Thema: "Anders sein. Außenseiter in der Geschichte" aufmerksam gemacht. Mir kam sofort die Idee, Vertragsarbeiter in Dessau zur Zeit der DDR zu untersuchen. Da auch meine Mitschülerin Kim Interesse am Wettbewerb und am Thema zeigte, entschlossen wir uns, gemeinsam zu arbeiten.
Wir vermuteten, dass viele Akten zu Vertragsarbeitern vorliegen würden, da unsere Heimatstadt Dessau-Roßlau (ehemals nur Dessau) zu DDR-Zeiten eine Industriestadt war. Hier waren Betriebe der Metall-, Elektro- und Schwerindustrie angesiedelt. Bei einem ersten Arbeitstreffen zu dem Thema kamen wir auf fünf wichtige Länder, aus denen Arbeitskräfte zeitweise in Dessauer Betrieben gearbeitet haben. Diese Länder waren Angola, Kuba, Mosambik, Vietnam und China.
Allerdings war unser erster Besuch im Stadtarchiv wenig erfolgreich. Auch der Besuch der Ausstellung "Bruderland ist abgebrannt" im Alternativen Jugendzentrum Dessau-Roßlau brachte uns nur eine Grundeinführung in die Problematik. Sie konnte uns aber nicht wirklich weiterhelfen, da Beispiele aus unserer Stadt beziehungsweise Region fehlten. Wir wollten daher auf das "Bauhaus" als Thema umschwenken – hier waren Lehrkräfte und Studenten durchaus "anders". Herr Thöner, der Leiter der Sammlung der Bauhausstiftung, verwies uns dann auf das Landesarchiv Sachsen-Anhalt. Hier fanden wir viele umfangreiche Aktenbestände zu kubanischen, vietnamesischen, mosambikanischen und chinesischen Vertragsarbeitern. Nach einer Überblickssichtung entschieden wir uns, das Leben der chinesischen Vertragsarbeiter in unserer Heimatstadt zu untersuchen. Unser Arbeitsthema lautete: "Chinesen in Dessau – begrüßt und abgelehnt".
Nachfolgende Fragen möchten wir mit unserer Arbeit näher untersuchen: Warum kam es zum Aufenthalt der Chinesen in Dessau? Und welche gesetzlichen Grundlagen gab es dafür? In welchen Dessauer Betrieben arbeiteten sie und welche Berufe lernten sie? Und vor allem: Wie wurde ihr Aufenthalt organisiert? Daraus folgten Fragen wie: Worin waren die chinesischen Arbeiter anders als die DDR-Bürger? Und was uns auch interessierte: Wie ging man mit den chinesischen Arbeitern in der Stadt Dessau und im Volkseigenen Betrieb (VEB) Waggonbau Dessau um?
Unsere Hauptquellen waren mehrere dicke Ordner mit Betriebsakten des VEB Waggonbau und die Betriebszeitung Kupplung aus dem Jahr 1987. Zwei lange Interviews führten wir mit den damaligen Gruppenleitern Herr Zuchowski und Herr Spitzhüttel, die uns insbesondere darüber Auskunft gaben, ob die Chinesen Fremde in Dessau während ihres Aufenthaltes geblieben sind, oder Freunde fanden und sich hier integrierten.
Ankunft
Aus den Betriebsunterlagen des VEB Waggonbau geht hervor, dass es sich bei dem geplanten Einsatz von chinesischen Vertragsarbeitern Ende der 1980er Jahre in Dessau um ihren erstmaligen Einsatz in der DDR handelte. Die Ausbildung der chinesischen Arbeiter erfolgte im Rahmen des Technologietransfers zwischen der Volksrepublik (VR) China und der DDR. In Wuhan
Rechtliche Grundlagen der beruflichen Tätigkeit
Die rechtlichen Grundlagen für den Aufenthalt der chinesischen Vertragsarbeiter bildeten die "Grundsatzvereinbarung zwischen der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik und der Regierung der Volksrepublik China über die Beschäftigung und Qualifizierung chinesischer Werktätiger in sozialistischen Industriebetrieben der Deutschen Demokratischen Republik" (im Folgenden Grundsatzvereinbarung) und die "Objektvereinbarung zwischen dem Ministerium für Schwermaschinen und Anlagenbau der Deutschen Demokratischen Republik und dem Ministerium für Eisenbahnwesen der Volksrepublik China über die Beschäftigung und Qualifizierung chinesischer Werktätiger in sozialistischen Industriebetrieben der Deutschen Demokratischen Republik".
In der Grundsatzvereinbarung heißt es im Artikel 1, dass die Werktätigen "für die Dauer von zwei bis vier Jahren" beschäftigt werden, sie "zwischen 18 und 25 Jahre alt sein" sollten und über "gute Voraussetzungen zur Erfüllung der Arbeits- und Qualifizierungsaufgaben verfügen" sollten.
In dreimonatigen Lehrgängen sollten den Werktätigen neben sprachlichen Grundkenntnissen auch fachliche Grundkenntnisse vermittelt werden. Für diese Zeit sollten sie 400,- Mark brutto erhalten und insgesamt für die Fort- und Weiterbildung 15 bezahlte Freitage im Jahr.
Im Artikel 7 heißt es:
"(1) Die Unterbringungen der chinesischen Werktätigen erfolgt, getrennt nach männlichen und weiblichen Personen, in Gemeinschaftsunterkünften, deren Ausstattung dem Niveau von Arbeiterwohnheimen für Werktätige der Deutschen Demokratischen Republik entspricht." [...]
"(3) Die Einsatzbetriebe sichern den chinesischen Werktätigen die Inanspruchnahme der kulturellen, sportlichen und sozialen Einrichtungen sowie der Versorgungs- und Dienstleistungseinrichtungen der Betriebe."
Gruppenleiter und Sprachmittler waren von chinesischer Seite aus in den Betrieben einzusetzen.
Aus dieser Grundsatzvereinbarung ist abzulesen, dass die chinesischen Vertragsarbeiter nur eine befristete Zeit in der DDR verbringen sollten. Während ihres Aufenthaltes galten aber für sie dieselben rechtlichen Arbeitsschutzbestimmungen (AGB,) wie für die Werktätigen der DDR. Getrennt nach männlichen und weiblichen Personen sollten sie in Gemeinschaftsunterkünften untergebracht werden. Eine Wohnintegration gemeinsam mit Dessauer Bürgern war nicht erwünscht. Die Vertragsarbeiter sollten separiert werden. Untergebracht in Wohnheimen war auch eine Kontrolle der Arbeiter besser möglich. In der Grundsatzvereinbarung fehlten auch Aussagen zu gemeinsamen Kontakten mit deutschen Werktätigen und zu gemeinsamen Veranstaltungen.
Ausbildung und Verantwortlichkeiten im VEB Waggonbau Dessau
Die Verantwortlichkeiten für die Umsetzung der grundlegenden Bestimmungen vor Ort im VEB Waggonbau Dessau (WBD) lagen in den Händen des Betriebsdirektors Herr Möbius, des Direktors für Kader und Bildung Herr Mädler, des Direktors für Produktion Herr Mauder, des Direktors für Technik Herr Metz, des Reisestellenleiters Herr Nicklisch und des Leiters der Betriebsakademie, Herr Simon.
In mehreren zeitlichen Durchgängen reisten schließlich am 17. Februar 1987 130 Personen, am 1. Mai 1987 weitere 130 Personen und am 1. Juli 1987 noch einmal 128 Personen ein. Insgesamt 388 chinesische Werktätige kamen ab Februar 1987 in Dessau an. Darunter befanden sich sechs Gruppenleiter, drei Sprachmittler und acht Köche. Sie kamen in eine damalige Großstadt mit 100.000 Einwohnern.
Die chinesischen Vertragsarbeiter wurden als Schlosser mit Schweißerpass, Werkzeugmacher, Lackierer, Facharbeiter für Holzbearbeitung mit Plastkenntnissen, Facharbeiter für Umschlag und Lagerung und Zerspaner (Dreher, Fräser, Hobler, Bohrer) ausgebildet. In diesen Berufsfeldern waren auch die Dessauer Werktätigen im Betrieb tätig. Diese Berufe waren insgesamt notwendig, um Kühlwaggons zu bauen. Dass ihnen, wie den vietnamesischen Vertragsarbeitern, die schmutzigsten und gefährlichsten Arbeiten zugewiesen wurden, wie in der Ausstellung "Bruderland ist abgebrannt" zu lesen war, kann hier nicht bestätigt werden.
Je nach Berufsbild wurden die chinesischen Vertragsarbeiter auch im Zwei- und Dreischichtsystem eingesetzt. Ihre Entlohnung erfolgte differenziert. Während der absoluten Grundausbildung erhielten sie, wie ihre deutschen Kollegen, 400,- Mark (brutto), als Facharbeiter 764,- Mark
Anders sein – Chinesische Werkstätige vor Ort
Die sozialistische DDR und die sozialistische Volksrepublik China waren "sozialistische Bruderländer". Die Werktätigen besaßen ähnliche Erfahrungen, was eine vorherrschende kommunistische Partei anbetraf: staatliche Kontrolle, Mitgliedschaft in gesellschaftlichen Organisationen, wenig Individualität. In dieser Hinsicht waren sie im Vergleich zu den DDR-Bürgern nicht anders. Nach Aussage von Herrn Spitzhüttel waren sie vorrangig atheistisch geprägt – wie auch die Mehrheit der Dessauer.
Gleichwohl waren die Chinesen "anders". Sie waren für die Dessauer etwas "Neues". Vietnamesische Vertragsarbeiter waren ihnen schon bekannt, aber keine chinesischen. Ähnlich wie die vietnamesischen Vertragsarbeiter gab es bei den Deutschen ein Bild vom fleißigen, anpassungsfähigen Chinesen. Welches Selbstbildnis sie hatten, können wir nicht sagen, da uns kein chinesischer Augenzeuge zur Verfügung stand. Wir denken, dass man neugierig auf sie war. Darin bestärkt uns auch ein Schreiben eines Herrn Hans-Jürgen aus Görlitz an die Kaderabteilung des VEB WBD, der aus einem Artikel in der Frauenzeitschrift Für Dich von den chinesischen Vertragsarbeitern in Dessau erfahren hatte und nun Brieffreundschaften aufbauen wollte, da "persönliche Kontakte" seiner Meinung nach "wichtig zum Kennenlernen der anderen Seite" seien. Sehr gerne hätte er eine Briefpartnerin. Er könne auch in Englisch, Deutsch, Französisch und Russisch schreiben.
Wir gehen davon aus, dass hier leider kein Kontakt zustande gekommen ist. Das war sicherlich nicht erwünscht, da die Kolleginnen und Kollegen nach zwei beziehungsweise vier Jahren ja das Land wieder verlassen sollten. Sein Wunsch nach einer Brieffreundin – er war zu dem Zeitpunkt Soldat der Nationalen Volksarmee (NVA) – lässt auch die Frage aufkommen, ob er nicht eine Freundin gesucht hat. Aber insbesondere solche engen Bindungen waren nicht erwünscht. Eine Integration – hier eine enge private Freundschaft, eventuell auch spätere Heirat – sollte nicht zustande kommen.
Sprache
Die DDR-Bürger hatten keinen Bezug zur chinesischen Sprache. In der Schule lernten sie ab der fünften Klasse verbindlich Russisch. Ab der siebten Klasse war es dann möglich, Englisch oder auch an machen Polytechnischen Oberschulen Französisch zu erlernen. Zwei Fremdsprachen zu erlernen, war nicht verbindlich in der DDR. Insofern war es dann auch schwierig, sich bei der Arbeit miteinander zu unterhalten, da eine vermittelnde Sprache, beispielsweise Englisch, häufig fehlte. Beide Seiten waren also auf Dolmetscher angewiesen.
Die im Folgenden genannten Beispiele für spätere persönliche Kontakte zeigen uns, dass hier Beziehungen nur entstehen konnten, weil die betreffenden chinesischen Werktätigen schnell die deutsche Sprache erlernt hatten.
Esskultur und Lebensgewohnheiten
Hauptnahrungsmittel in China ist der Reis. Teilweise wird gemeinsam in einem großen Topf die Speise gekocht, so dass man sich gemeinsam mit Stäbchen oder auch mit den Fingern das Essen daraus entnimmt. Auch benutzen die Chinesen für das Würzen ihrer Speisen andere Gewürze. Deshalb brachten die chinesischen Vertragsarbeiter auch acht eigene Köche mit, die dann nicht nur für die Chinesen, sondern frei käuflich auch für die anderen Werktägigen kochten. Dieses Angebot, so Herr Zuchowski und Herr Spitzhüttel, wurde gerne angenommen. Erstmalig kamen ja die Werktätigen mit diesem Essen in Kontakt. Es gab keine chinesischen Restaurants in Dessau. Von Herrn Spitzhüttel erfuhren wir, dass die Werksküche im Laufe der Zeit auch andere Küchengeräte anschaffte, um beispielsweise Fleischtaschen herstellen zu können.
Die Dessauer zeigten schon Interesse am Essen des Anderen. Das war durchaus auch ein Grund, warum drei chinesische Vertragsarbeiter zum 50. Geburtstag von Frau Zuchowski eingeladen waren und dort die Gäste bekochten. Auch bei Besuchen im Wohnheim wurde für die deutschen Gäste gekocht, was diesen gut gefiel.
Neugierig war man auf das Essen des Anderen, nicht unbedingt auf seine Essgewohnheiten. So berichtete uns Herr Spitzhüttel, dass anfangs chinesische Vertragsarbeiter beispielsweise beim Essen von Rippchen die Knochen auf den Tisch gespuckt hätten. Darüber regten sich deutsche Werktätige auf und es gab ein klärendes Gespräch mit den Chinesen, die andere Tischsitten annahmen. Hier sind also die Chinesen eigentlich auf die Deutschen mit ihren Vorstellungen zugegangen. Herr Spitzhüttel teilte uns mit, dass er weitere Vorfälle eigentlich nicht kennen würde. Irgendwelche Gerüchte tauchten dann wohl auch auf, es würden Hunde fehlen. Dabei handelt es sich um ein typisches Vorurteil. Nichts davon bestätigte sich.
Beide Gruppenleiter berichteten uns, dass die Einstiegsuntersuchung beim Arzt, bei der man den Oberkörper freimachte, für die Chinesen ungewöhnlich war. Sie werden durch die Sachen hindurch abgehört. Und so saßen im Vorbereitungszimmer ganz schamhaft nicht nur ein junger Mann, sondern mehrere, die auch zu dritt und zu viert in den Behandlungsraum gingen. Daran gewöhnten sie sich aber, da sie für eine spätere Krankschreibung bei der Arbeit auch die ärztliche Untersuchung brauchten. Anfangs hatten insbesondere die sehr jungen Chinesen auch Heimweh.
Schwer fiel insbesondere auch den jungen Chinesen das Durcharbeiten von acht Arbeitsstunden mit den entsprechenden Pausen. Hier traf beispielsweise Herr Zuchowski manchen Chinesen, der insbesondere in der Nachtschicht einfach eingeschlafen war. Aber das war ein beruflicher Gewöhnungsprozess. Natürlich waren die jungen Chinesen oftmals in Gruppen unterwegs, so wie das auch für deutsche Jugendliche zutrifft. Und manchmal waren sie auch lauter – aber auch das trifft auf deutsche Jugendliche zu. Und bei einer deutschen privaten Feier wird es auch manchmal lauter, deshalb soll man im Vorfeld die Nachbarn informieren. Mit solchen Vorbehalten wurde Herr Spitzhüttel konfrontiert, er sieht diese Vorbehalte nicht als typisch chinesische Verhaltensweisen an, sondern ordnet sie allgemein jungen Menschen zu, wie wir auch.
Sprache, Essen, Essgewohnheiten machten die Chinesen sicherlich zu Anderen. Aber so anders waren sie im Vergleich zu deutschen Jugendlichen, die auch gemeinsam unterwegs waren, eigentlich nicht. Sie suchten durchaus nach Freundinnen und wollten auch etwas erleben und eben auch feiern. Und sie sollten ja auch anders sein und bleiben – wir denken, das war auch das Faszinierende für die Dessauer Werktätigen, die näher Kontakt zu ihnen suchten. Herr Zuchowski und Herr Spitzhüttel haben die Chinesen mit großer Offenheit empfangen und mit viel Toleranz und Verständnis. Konflikte wurden benannt. So entstanden durchaus Freundschaften zwischen den Arbeitskollegen. Immer wenn Wang Yie in der Nähe ist, besucht er Herrn Spitzhüttel noch heute. Vor einem halben Jahr war es das letzte Mal.
Miteinander arbeiten – miteinander leben?
Die chinesischen Vertragsarbeiter waren Gäste auf Zeit. Entweder für zwei oder für vier Jahre. Ein Daueraufenthalt in der DDR war nicht geplant. Dass man sich hier in eine deutsche Frau verliebt und eine Familie gründet, war eben so wenig vorgesehen. Nach Ablauf der Aufenthaltszeit sollte man zurück nach Hause. Das waren die "staatlichen" Ansichten der VR China und der DDR. Dies waren sicherlich auch zuerst einmal die Vorstellungen der Chinesen. Aber natürlich können da auch Veränderungen eintreten. Das war nicht "geplant" und "erwünscht". Während ihrer Zeit in Dessau waren die chinesischen Vertragsarbeiter Mitglieder von Arbeitskollektiven und in diesem Rahmen nahmen sie an den Aktivitäten ihrer Brigaden teil. Oftmals wurden sie auch in die Familien ihrer Arbeitskollegen eingeladen, sie nahmen an Familienfesten teil und unternahmen auf dieser privaten Ebene Ausflüge in der DDR. Man arbeitete miteinander, man feierte auch miteinander, selten sah man sich auch einmal wieder, nachdem die DDR untergegangen war. Integriert waren die chinesischen Vertragsarbeiter sicherlich nicht. Aber, das werden unsere Beispiele zeigen, die Dessauer Werktätigen waren neugierig auf sie und oftmals gute Gastgeber.
Kulturelle und sportliche Teilhabe
Die Quellen zeigen, dass die chinesischen Vertragsarbeiter in die geplanten sportlichen Veranstaltungen ihrer Arbeitskollektive im Rahmen der Betriebssportgemeinschaft (BSG) durchaus eingebunden waren. Dabei trifft der Begriff „geplant“ zu. Individuelle Betätigung war wenig anzutreffen und sicherlich auch wenig erwünscht, da dann der sozialistische Staat DDR diesen Bereich nicht hätte kontrollieren können. So wurde den chinesischen Arbeitern über die Mitgliedschaft in der Betriebssportgemeinschaft die Teilnahme an den Bezirksmeisterschaften ermöglicht. Sie konnten selbstständig Wettbewerbe organisieren. Zur Verfügung stand dafür sonnabends die Sporthalle der Zweiten Polytechnischen Oberschule (POS). Ebenso konnte ein Sportvergleich zum Jahreswechsel zwischen Dessau und Bautzen durchgeführt werden.
Anhand verschiedener Dokumente wird deutlich, dass der Maßnahmenplan zur Beschäftigung und Qualifizierung chinesischer Werktätiger konkret umgesetzt wurde. Am 1. Januar 1988 wandte sich der VEB Waggonbau Dessau an das Leipziger Opernhaus mit der Bitte um Karten für den Besuch der Aufführungen der Operette „Die Fledermaus“ und des Balletts „Schwanensee“. Da hierfür zu spät angefragt wurde, war es nicht mehr möglich, Karten zu erhalten. Das Opernhaus bot aber als Ausgleich je zehn Karten für die Veranstaltungen am 13. März 1988, 18. März 1988, 20. März 1988 und für den 10. April 1988 20 Karten an.
In den monatlichen Kulturplänen der Kommission Kultur und Sport des Betriebes waren für die chinesischen Werktätigen die Vorführung von Filmen in chinesischer Sprache, der Besuch von Veranstaltungen des Landestheaters wie beispielsweise "My fair Lady" am 19. Januar 1988 und sportliche Vergleichskämpfe wie beispielsweise ein Volleyballkampf TVR-China eingeplant.
Aufgrund der Vereinbarung zwischen dem VEB Waggonbau Dessau und dem Landestheater Dessau vom 8. April 1987 wurde zugesichert, dass je 50 Werktätigen der Besuch von Theaterveranstaltungen und je 133 Werktätigen der Besuch von Ballettvorführungen ermöglicht wird. Auch dachte man über eine besondere Form des Anrechts für die chinesischen Vertragsarbeiter nach.
Die chinesischen Werktätigen wurden auch in die staatliche organisierte Urlaubversorgung eingebunden. Als Auszeichnung sollte es vom 16. bis 29. August zwei chinesischen Kollegen im Alter bis 25 Jahre in Anerkennung guter Arbeitsleistungen ermöglicht werden, zu der Zechiner Hütte zu fahren. 50 Ferienplätze standen vom 26. April bis 3. Mai 1988 im Ferienheim im Pöbeltal zur Erholung zur Verfügung und für Januar und Februar sollte je ein 1 Bett-Zimmer in Kipsdorf genutzt werden können.
Um die Einbindung der chinesischen Werktätigen in das kulturelle Leben der Stadt planen zu können, wurde eine Rahmenvereinbarung für die Jahre 1987 bis 1991 zwischen dem Betrieb und dem Rat der Stadt Dessau, Abteilung Kultur, abgeschlossen.
Nachfolgende Tagesfahrten waren immer für je 42 chinesische Werktätige vom Mai bis Oktober 1988 geplant:
7. Mai 1988: Eisennach - Wartburg
21. Mai 1988: Dresden - Bastei
4. Juni 1988: Potsdam
18. Juni 1988: Meißen - Moritzburg-Manufaktur
2. Juli 1988: Erfurt - I GA
16. Juli 1988: Lübbenau
6. August 1988: Rostock
20. August 1988: Harz-Hexentanzplatz
3. September 1988: Potsdam
17. September 1988: Altenburg - Zeitz
15. Oktober 1988: Dresden- Stadtrundfahrt
22. Oktober 1988: Weimar- Schloss Thiefurt
Zuerst einmal waren wir von den vielfältigen kulturellen Angeboten für die chinesischen Vertragsarbeiter während ihres zweijährigen Aufenthalts in der Stadt Dessau überrascht. Die Quellen zeigen sehr anschaulich, dass ihnen eine kulturelle Teilhabe ermöglicht werden sollte. Sie wurden in die betrieblichen und städtischen sportlichen und kulturellen Möglichkeiten eingebunden. Wir haben den Eindruck – insbesondere, wenn man an den Besuch des Leipziger Opernhauses und die Tagesfahrten denkt –, dass man die Werktätigen als Gäste betrachtete, denen man Schönes und Interessantes während der Zeit ihres Aufenthaltes zeigen wollte. Aber damit blieben sie auch immer unter sich. Für sie wurde geplant und organisiert, wenig mit ihnen.
Dieses Vorgehen ordnet sich aber auch in das System der DDR ein. Einen freien Markt von Urlaubsplätzen gab es in der DDR kaum. Die Gewerkschaftsorganisation Freier Deutscher Gewerkschaftsbund (FDGB) besaß ein Monopol auf die Urlaubsplätze und vergab sie betrieblich. Hierin wurden auch die chinesischen Arbeiter – wie die deutschen – eingebunden. Individueller Urlaub wie beispielsweise Zelten, individuelle Fahrten in das sozialistische Ausland oder das Nutzen offizieller Hotels waren in der DDR wenig möglich.
So blieben die chinesischen Arbeiter, nach Auswertung der offiziellen betrieblichen Dokumente, Gäste, um die man sich durchaus bemühte. Denen man auch den zwei- beziehungsweise vierjährigen Aufenthalt angenehm gestalten wollte. Sie sollten mit der Kultur ihres Gastlandes vertraut gemacht werden. Veranstaltungen im Wohngebiet, um sich besser kennen zu lernen, konnten wir nicht finden. Über andere Kontakte als zu deutschen Arbeitskollegen können wir leider nicht berichten. Eine deutsch-chinesische Familiengeschichte können wir leider auch nicht erzählen.
In diese Bewertung ordnet sich auch die Bemerkung in einem Dokument ein, das über ein geplantes Frühlingsfest berichtet. Es heißt hier: "Im Anschluss kann getanzt werden. Mädchen werden nicht eingeladen."
Separieren – das Wohnen im Wohnheim
Ausgehend von der Grundsatzvereinbarung, Artikel 7
Weniger angenehm empfanden sie sicher die Heimordnung. Diese galt für die Bewohner der Gemeinschaftsunterkunft. Sie durchzusetzen, war Aufgabe des Heimleiters in Zusammenarbeit mit dem Heimkomitee und natürlich den Bewohnern.
Folgende Auszüge aus der Heimordnung sollen den Charakter dieser Einrichtung deutlich machen:
-
Artikel 1:
"Die für die chinesischen Werktätigen errichteten Wohnheime sollen ihnen angenehmes Wohnen und ungestörte Erholung ermöglichen." […]
Artikel 2:
"In jedem Wohnheim ist vom Betrieb ein Heimleiter einzusetzen. Der Heimleiter hat die Einhaltung der Heimordnung […] zu gewährleisten." […]
Artikel 3:
Es ist ein Heimkomitee von den Heimbewohnern zu bilden, das die "Initiativen der Heimbewohner zur Verschönerung des Wohnheimes und der Umgebung unterstützt". […]
Artikel 4:
Für das Verhalten im Wohnheim gelten folgende Regeln:
"Die Einweisung der chinesischen Werktätigen in die Zimmer erfolgt durch den Betrieb." […]
"Das Betreten des Wohnheimes in schmutziger Arbeitskleidung ist nicht erlaubt, ebenso das Hinauswerfen von Gegenständen und Unrat. In den Wohnheimen gibt es für das Abstellen von Altstoffen (Papier, Flaschen u. ä.) spezielle Räume."
"Das Halten von Haustieren ist nicht gestattet."
"Jedes Wohnheim hat ein Krankenzimmer."
"Der Aufenthalt im Wohnheim ist grundsätzlich nur den Heimbewohnern gestattet. Besucher haben sich beim Heimleiter zu melden. Minderjährige haben keinen Zutritt zum Wohnheim. Während der nächtlichen Ruhezeit von 22.00 - 5.00 Uhr sind Besuche nicht gestattet." […]
Wir haben diese Hausordnung mit der Hausordnung des "Deutschen Jugendherbergswerks", die bis 2008 galt, verglichen.
Bei der Untersuchung dieser Hausordnungen stellten wir Gemeinsamkeiten und Unterschiede fest. Gemeinsam ist beiden Ordnungen, dass
das Rauchen nicht gestattet ist,
die Zimmer in der Regel nach Geschlecht getrennt sind,
mit der Einrichtung sorgsam umzugehen ist,
der Konsum von alkoholischen Getränken verboten ist,
Tiere nicht mitgebraucht bzw. gehalten werden dürfen,
eine Nachtruhe einzuhalten ist.
Als wesentlichen Unterschied sehen wir, dass es im Dessauer Wohnheim nicht gestattet war, Besuch mitzubringen. Eigentlich ist uns das unverständlich, da dieses Wohnheim die Wohnung für zwei beziehungsweise vier Jahre darstellte und in meine Wohnung lade ich natürlich auch Besuch ein. Da gibt es auch keine Nachtruhe, aber ich nehme natürlich Rücksicht auf meine Nachbarn.
Wir können diesen Punkt in der Hausordnung nur so verstehen, dass damit die chinesischen Vertragsarbeiter durchaus von der Dessauer Bevölkerung abgegrenzt werden sollten. Dennoch luden die Chinesen durchaus ihre Arbeitskollegen in dieses Wohnheim ein und hier wurde auch gefeiert.
Und doch Kontakte
Innerhalb der Arbeitskollektive gab es durchaus private Kontakte. Das bestätigten uns unsere Zeitzeugen, Herr Zuchowski und Herr Spitzhüttel. Beide waren Gruppenleiter und damit für circa 20 chinesische Vertragsarbeiter in ihrer Abteilung verantwortlich.
Als Gruppenleiter ordneten sie die Chinesen, entsprechend ihrer schon vorhandenen Ausbildung und ihrer Fähigkeiten, bestimmten Arbeitsbereichen zu. Täglich suchten sie die Kollegen auf. Teilweise leiteten sie sie auch fachlich an, sie waren Ansprechpartner, wenn es Probleme und Schwierigkeiten gab. In diesem Zusammenhang hatten sie einen besonders engen Kontakt zu den Dolmetscherinnen und Dolmetschern und den chinesischen Gruppenleitern, denen von ihren Kollegen Achtung entgegengebracht wurde. Sie waren auch älter, circa 30-35 Jahre und oftmals sicherlich auch Mitglieder der Kommunistischen Partei Chinas, vermutete Herr Spitzhüttel.
Beide deutschen Gruppenleiter hatten enge Kontakte zu den chinesischen Gruppenleitern. So waren drei Chinesen Gäste beim 50. Geburtstag von Frau Zuchowski. Hier bekochten sie in der Wohnung der Familie Zuchowski die Gäste. Gemeinsam besichtigte man auch Potsdam. Herr Zuchowski wurde dann von seinen chinesischen Kollegen auch zum chinesischen Frühlingsfest eingeladen.
Auch Herr Spitzhüttel informierte uns über gegenseitige Besuche von deutschen und chinesischen Arbeitskollegen. Die Dessauer waren durchaus neugierig auf ihre Kollegen. Ihnen selber war ja ein Urlaubsbesuch in der VR China nicht möglich und so erfuhren sie viel Neues über eine durchaus unbekannte kulturelle Welt. Voraussetzung für solche Begegnungen war aber immer die Tatsache, dass die chinesischen Vertragsarbeiter über gute Deutschkenntnisse verfügten, so dass eben Gespräche ohne Dolmetscher möglich waren. Und es gab durchaus Chinesen, die gute und schnelle Fortschritte beim Erlernen der deutschen Sprache machten.
So fuhr Herr Spitzhüttel mit durch den chinesischen Gruppenleiter ausgesuchten Kollegen nach Dresden und Potsdam.
Es gab aber auch andere Kontakte. Schnell hatten die Chinesen erkannt, welche Dinge auf den Trödelmärkten von den Deutschen begehrt und damit gut verkäuflich waren und so wurde auch auf dieser Ebene Kontakt mit der Bevölkerung aufgebaut, indem man begehrte Dinge, die man aus dem Urlaub mitbrachte oder mitbringen ließ, dort verkaufte.
Oftmals, so Herr Spitzhüttel, übernachteten die chinesischen Kollegen auch nicht im Wohnheim, sondern suchten ihre Kollegen in den anderen Betrieben des Kombinats Schienengebundene Fahrzeuge auf, so in Bautzen, Ammendorf oder Görlitz. Damit blieb man aber wieder unter sich.
Ressentiments
Unsere beiden Gesprächspartner Herr Zuchowski und Herr Spitzhüttel waren beide deutsche Gruppenleiter. Beide hatten die Aufgabe, die chinesischen Vertragsarbeiter in das berufliche Umfeld einzubinden. Aus unseren Gesprächen hatten wir den Eindruck, dass sie den Chinesen aufgeschlossen gegenüberstanden. Insbesondere die Biografie von Herrn Spitzhüttel, der für vier Jahre Entwicklungshelfer in Mozambique war, bevor er die Arbeitsaufgabe als Gruppenleiter übernahm, zeigt uns sein Interesse und seine Offenheit "Fremdem" gegenüber. Das muss aber nicht bei allen Dessauer Werktätigen des VEB WBD und Dessauer Bürgern so gewesen sein. Dies sollen nachfolgende Beispiele verdeutlichen.
Nur "unfreundliche" Busfahrer?
In einem Bericht vom 19. September 198927 beschreibt der chinesische Gruppenleiter Si Zuojun einen Vorfall, der sich vier Tage zuvor ereignet hatte. Er klagt an, "dass der Busfahrer seine Berufsmoral verletzt hat". Was war geschehen? Aus Sicht des Gruppenleiters war ein Busfahrer erneut zu spät gekommen. Zudem: "Obwohl noch 2 Kollegen vor der Mitteltür standen, gab der Busfahrer das Abfahrtszeichen und schloss gleichzeitig die Türen." Der Gruppenleiter Si Zuojun hat gerufen: "Es gibt noch Kollegen draußen!" Jedoch hatte sich ein Kollege, Heng Binghai, bereits einen Fuß in der Mitteltür eingeklemmt. "Inzwischen ist der Fahrer schon losgefahren." Er sah, dass die Tür noch nicht geschlossen war und hielt an. Der Kollege Heng Binghai ging nach vorne. Ihm folgte der Gruppenleiter Si Zuojun, welcher Angst hatte, dass es zu einer Auseinandersetzung zwischen den Parteien kommen könnte. Gemeinsam mit dem Dolmetscher ist dann mit dem Busfahrer gesprochen wurden. Der Busfahrer begründete sein Verhalten damit, dass er im Spiegel den Kollegen nicht richtig gesehen hatte und schnell fahren wollte, weil er schon Verspätung hatte. Er hat sich dann bei dem chinesischen Kollegen entschuldigt. Der Gruppenleiter nahm die Entschuldigung an, da er dachte, sie wäre ehrlich gemeint. Seiner Meinung nach war das im Nachhinein nicht der Fall, da der Busfahrer im Betrieb den Vorfall anders darstellte. Und zum Schluss seines Berichtes stellt Si Zuojun fest, dass Verspätungen der Busse bei zwei Busfahrern ständig auftraten und sie dann auch die Kollegen nicht mitnahmen.
Aufgrund dieses Berichtes fanden Kontrollen statt.
Erwünscht im Wohngebiet?
In den Akten im Landeshauptarchiv befindet sich auch ein Schreiben des Rates der Stadt Dessau an den VEB WBD. Darin wird der Betriebsleitung mitgeteilt, dass bei einem Einwohnerforum am 6. April 1988 "Probleme [aufkamen] im Zusammenwirken mit den chinesischen Werktätigen und … der Wunsch laut [wurde] zur gemeinsamen Aussprache WKA VI
1990 zurück nach China – aber nicht alle
Mit der friedlichen Revolution 1989 veränderten sich die politischen Verhältnisse in der DDR entscheidend. Ein Jahr später existierte die DDR nicht mehr und damit hatte auch die Grundsatzvereinbarung zwischen der VR China und der DDR keine Grundlage mehr. Deshalb wurden auf der Grundlage der "Verordnung über die Veränderung von Arbeitsverhältnissen mit ausländischen Bürgern, die auf der Grundlage von Regierungsabkommen in der DDR beschäftig und qualifiziert werden" vom 13. Juni 1990 die Arbeitsverhältnisse vorfristig beendet.
Herr Spitzhüttel hat Teile der chinesischen Vertragsarbeiter 1990 bis zum Abflug auf dem Flughafen Schönefeld begleitet. Hier haben beispielsweise Chinesen dann um politisches Asyl gebeten – das sie auch erhalten haben.
Zitierweise: Moritz Gärtner, Kim Kamenik, Chinesische Vertragsarbeiter in Dessau – 388 : 100.000, in: Deutschland Archiv, 23.9.2016, Link: www.bpb.de/234448
Schüler und Schülerin am Gymnasium Philanthropinum in Dessau.
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