Die Zustände in den ostdeutschen Mietwohnungen und die Wohnungsnot erinnerten manche DDR-Bürger noch in den 1970er Jahren an die "kapitalistische Ära". Dem versuchte die SED-Führung durch ein ambitioniertes Neubauprogramm entgegenzuwirken. Eli Rubin beschreibt dessen Ambitionen und die Wirklichkeit und beleuchtet dabei auch eine "andere Seite" der Plattenbausiedlungen.Der Beitrag basiert auf: Eli Rubin, Amnesiopolis: Modernity, Space, and Memory in East Germany, Oxford und New York 2016.
Amnesiopolis Macht, Raum und Plattenbau in Nordost-Berlin
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Vor 40 Jahren hat der französische Theoretiker Henri Lefebvre mit seiner Arbeit "La producion de l’espace" ein Verständnis von Raum als einer grundsätzlichen Kategorie innerhalb gesellschaftlicher Machtverhältnisse geschaffen.
Berlin-Marzahn: Ein Renommierprojekt der DDR
Am 11. April 1977 begannen Arbeiter der Brigade Adolf Dombrowski, vom Tiefbaukombinat der Volkseigenen Betriebe (VEB) in Berlin, den Boden im kleinen Dorf Marzahn, nordöstlich von Berlin, auszugraben.
Marzahn war das größte Projekt des DDR-Wohnungsbauprogramms. Dieses war vom Zentralkomitee der SED 1973 als "Kernstück"
Am Ende gelang es tatsächlich, 2,1 Millionen Wohnungen neu zu bauen und weitere eine Million Wohnungen zu sanieren.
Die Überwindung der Wohnungsmisere: ein loyalitätsstiftendes Versprechen
Das Wohnungsbauprogramm war eine Antwort auf die schlechte Wohnungsversorgung in der DDR. 1960 waren nur zehn Prozent der Wohnungen in der DDR nach 1945 gebaut worden.
Druck bekam die DDR-Regierung dabei von allen Seiten. Schon in den 1950er Jahren forderte Chruschtschow, dass kommunistische beziehungsweise sozialistische Länder mehr Ressourcen in den Wohnungsbau stecken sollten. Dieser sollte "besser, billiger, schneller" werden. Fordistische Fließbandtechnik und Plattenbau wurden bevorzugt.
Erfahrungswelten des Umzugs in eine Neubauwohnung
Im Folgenden werden einige zeitgenössische Wahrnehmungen der Wohnungssituation aus Sicht von DDR-Bürgern, die mit Methoden der Oral History erhoben wurden, exemplarisch dargestellt. Elisabeth Albrecht, eine Bibliothekarin, die mit Ihrem kleinen Sohn in einer Eineinhalbzimmerwohnung in Friedrichshain wohnte, beschrieb die Situation wie folgt:
"Das Haus war noch vom Krieg beschädigt. Der Putz bröckelte, und der Schornstein hatte Risse, nur durch Folien abgedichtet. Mein kleiner Sohn und ich litten Ende der siebziger Jahre häufig an Kopfschmerzen. Wir fühlten uns oft matt und krank [...] Bei der Messung der Luftwerte wurde ein erhöhter Kohlenmonoxid-Wert festgestellt."
"beinahe eine Ruine; dunkel und zugig, das Wasser lief die Wände hinunter, und die Toilette – eine Treppe höher gelegen – teilten wir uns mit den Nachbarn [...] Die Wohnverhältnisse waren katastrophal geworden. Das Dach kaputt, die Toiletten funktionierten nicht mehr. Die meistern Fenster durfte man nicht berühren, sonst wären sie zerplatzt [...] zu viert hausten wir in einem Zimmer.“
Für diese Menschen stellte dieser Umzug mehr als eine deutliche Verbesserung ihrer materiellen Lage dar. Er war eine Zäsur ihrer räumlich-materiellen, alltäglichen Umstände und dadurch auch ein profunder Umbruch ihrer Sinnwelt und des alltäglichen Bewusstseins. Die Lebenserfahrung der Ostdeutschen, speziell in Berlin, war eng mit den Räumen ihrer alten "Kieze" verbunden. Wie Marcel Proust in "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" beschrieben hat, funktionierten physische Spuren der Vergangenheit, wie zum Beispiel Gebäude, Straßen, Bäume, Gerüche, Klänge und so weiter als Auslöser von Erinnerungen. Solche Erinnerungen sind oft sehr persönlich, aber auch mit den Erinnerungen an politisch-soziale Vorgänge in vergangenen Zeiten verwebt. Für viele Ostberliner, die immer noch in Mietskasernen wohnten, gab es nicht nur die schlechten Wohnumstände, sie waren auch von den “Gespenstern“ des Kapitalismus, des Faschismus und des Kriegs umgeben, die in solchen Umständen steckten.
Wie problematisch solche Erinnerungen für diejenigen sein konnten, die in den alten Wohnungen zurückgeblieben waren, beschrieb eindrucksvoll ein Artikel der Neuen Berliner Illustrierte im Jahre 1979. Die Zeitung stellte Luise Schmidt, Jahrgang 1904, vor. Schmidt war ihr Leben lang Bewohnerin am Teutoburger Platz im Prenzlauer Berg gewesen und Mitglied im Wohngebietsausschuss der Nationalen Front. Schmidt sprach über das "Erbe der kapitalistischen Vergangenheit", wie die "Berliner Fenster" und "Berliner Zimmer", in denen sie ihr Leben lang gewohnt hatte und die voll waren mit Erinnerungen, die leider "nicht in einem Tag gelöscht werden können."
Eine neue Stadt "auf der grünen Wiese"
Kinder beim Sport in Berlin-Marzahn (© Bezirksmuseum Marzahn-Hellersdorf e.V.)
Kinder beim Sport in Berlin-Marzahn (© Bezirksmuseum Marzahn-Hellersdorf e.V.)
Marzahn wurde als Großsiedlung am Stadtrand geplant, wie viele andere in der DDR und im gesamten Ostblock. Der Berliner Magistrat entschied sich unter anderem deshalb dafür, weil der Stadtbaudirektor und stellvertretende Bürgermeister Günter Peters durch die Renovierung der Wohngebäude am Arnimplatz im Prenzlauer Berg wahrgenommen hatte, dass die Sanierung von Altbauwohnungen zwar zu einer Vergrößerung beziehungsweise Verbesserung der Wohnräume führte, aber gleichzeitig eine Verminderung der Gesamtzahl an Wohnungen brachte.
Auch deswegen beschloss das Politbüro am 27. März 1973, eine Großsiedlung von 20.000 Wohneinheiten in der Gegend von Biesdorf zu bauen.
Der WBS 70, den es in fünf-, elf- und 22-stöckigen Ausführungen gab, war eine Weiterentwicklung in der Plattentechnik. Er bot eine "Vollkomfortwohnung" mit Zentralheizung, Aufzug und gemeinsamen TV-Antennen. Jede Wohnung hatte zwei Tageslichtseiten.
Blick aus einer neuen Wohnung der "WBS 70", Marzahn, 1989 (© Barbara Diehl, mit freundlicher Genehmigung)
Blick aus einer neuen Wohnung der "WBS 70", Marzahn, 1989 (© Barbara Diehl, mit freundlicher Genehmigung)
Für die Stadtplaner war besonders wichtig, dass alles fußläufig erreichbar war; Kein Wohngebäude durfte mehr als 600 Meter von einer Schule, KiKo, Poliklinik oder S-Bahnhaltestelle entfernt liegen.
Gabriele Franik zum Beispiel, die mit Zwillingen schwanger war und mit ihrem Mann 1982 eine Wohnung in Marzahn bekam, beschrieb ihre erste Fahrt nach Marzahn zur Besichtigung der neuen, noch nicht fertiggestellten Wohnung wie folgt:
"Er fuhr und fuhr. Wir tauchten in eine riesige Baustelle ein: Kräne säumten unseren Weg. Überall standen angefangene Plattenbauten. Weit und breit gab es kein Straßennetz. Sandberge türmten sich, eine gigantische Schlammwüste, nirgends ein Baum, ein Strauch."
"Mein Herz schlug vor Aufregung bis in den Hals, meine Knie zitterten, als ich das Auto verließ und wir gemeinsam in die zweite Etage des nach Beton und Farbe riechenden Hauses stiegen. Mein Mann schloss unsere Wohnungstür auf... Ein riesiges Reich tat sich auf, genügend Raum für fünf Familienmitglieder. Zentralheizung, warmes Wasser aus der Wand und ein sechs Meter langer Balkon! So kann das Glück aussehen. Euphorisch fielen wir uns in die Arme. [...] Wir kamen wieder zu uns. Die Wohnung war rohbaufertig. Die Wände zeigten sich in schlichtem Betongrau. An einer Stelle hatte ein Bauarbeiter ein Zeichen hinterlassen: ‚Zwei Kästen Bier reichen. Gruß, Kalle.’ Na, denn Prost!"
"Dieser Baum wurde von mir gepflanzt, das war eine neue Erfahrung, eine gute Zeit, und – solange der Baum nicht stirbt beziehungsweise fällt – kommt solche schöne Erinnerungen immer vor, als ich hier bin und ihn sehe." Auch für Elisabeth Albrecht war die Baumpflanzung wichtig, weil sie eine neue Zeitmessung einleitete. Es gab ein Leben vor und nach dem Einzug. Und nach dem Einzug, der ein Neuanfang war, begann eben eine neue Ära – eine Ära, die auch eigene prägende Erlebnisse und Entwicklungen hatte. 1981 zog sie aus Berlin-Mitte nach Marzahn in die 9. Etage eines 11-stöckigen WBS 70-Gebäudes.
Gemeinsam mit ihrer Hausgemeinschaft versuchte sie drei Mal Bäume und Sträucher zu pflanzen. Doch ihr "Wohngebiet III" in der Nähe von Ahrensfelde lag auf einem Areal, dessen Boden von – seit Ende des 19. Jahrhunderts angelegten – Rieselfeldern zur Abwasserklärung vergiftet war.
"Beim dritten Versuch schlugen die Bäume und Sträucher Wurzeln. Der Sommer wurde sehr warm. Jeder aus dem Haus ging mal mit einem Eimer Wasser hinunter und goss die Pflanzen. In jenem Jahr grillten die Mieter zusammen vor der Tür oder feierten als Hausgemeinschaft den Kindertag am 1. Juni. Die Bäume wurden groß, und wir wuchsen zusammen. Vier Jahre später war aus der kleinen Zwei-Meter-Pappel am Eingang schon ein richtiger Baum geworden." Albrecht beschreibt den Baum und ihre Beziehung zu ihm heute so:
"Inzwischen ist mein Sohn schon lange aus dem Haus. Der Baum, den ich seinerzeit pflanzte, ragt mir nun fast zum Fenster hinein. Die Pappel ist 21 Jahre alt. Ich genieße meinen Blick ins Grüne von hier oben."
Zitierweise: Eli Rubin, Amnesiopolis: Macht, Raum und Plattenbau in Nordost-Berlin, in: Deutschland Archiv, 7.9.2016, Link: www.bpb.de/233369
PhD; Associate Professor für Geschichte an der Western Michigan University. 2004 Promotion an der University of Wisconsin-Madison. Von 2007-2009 Forschungs-/Lehrauftrag der Alexander von Humboldt Stiftung am Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam.
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