I. Macht-Räume im regionalen Staatsapparat
Die DDR-Führung hatte den Anspruch, mit ihren Programmen zur städtebaulichen und territorialen Entwicklung umfassende Lösungen durchzusetzen. In den Städten und Gemeinden der DDR bot sich jedoch häufig ein ganz anderes Bild.
In den 1970er Jahren verfielen in Karl-Marx-Stadt, dem heutigen Chemnitz, in der Innenstadt hunderte Altbauwohnungen. Um die Wohnungsnachfrage in der wachsenden Bezirksstadt bedienen zu können, sollten im Fritz-Heckert-Gebiet am Rande der Stadt statt der bisher geplanten 25.000 Wohneinheiten 37.000 Wohnungen neu gebaut werden. Aus städtebaulicher wie volkswirtschaftlicher Sicht schien die Entscheidung unverantwortlich. Rückblickend äußerte der damalige Stadtarchitekt Karl-Joachim Beuchel:
"Wir mussten das erweitern! Weil die Modernisierungen nicht in Gang kamen wie eigentlich geplant. Da mussten immer mehr Neubauwohnungen am Rande der Stadt gebaut werden, und damit das Neubaugebiet erweitert werden. Und da war klar: Das kann so nicht richtig sein – da geht was verkehrt!"
Für die Fachplaner vor Ort erschien die Entscheidung paradox. Doch ohne den industriellen Neubau waren weder die Deckung des Wohnungsbedarfs in den Regionen, noch das politische Programm der Honecker-Ära realisierbar: Im Jahr 1990 sollte die "Wohnungsfrage" endlich planmäßig gelöst und damit alle Bewohner der DDR mit angemessenem Wohnraum versorgt sein. Doch man baute neue Wohnungen, während viele Altbauwohnungen unbewohnbar wurden, und das Ziel rückte in unerreichbare Ferne. Eine Situation, mit der Funktionäre, Fachplaner und Bewohner in den Städten und Gemeinden täglich umgehen mussten.
Städtebauprogramme und ihre Bedeutung für die Regionen
Das Problem wurzelte bereits in einer Haltung, die mit dem Fokus auf den Aufbau des Sozialismus die vermeintlich temporäre Vernachlässigung einer Reihe von Aufgaben und Problemen in Kauf nahm. In den 1950er und 1960er Jahren strebte die politische Führung die Umgestaltung der gesamten Republik an: Die Unterschiede im Lebensniveau zwischen Stadt und Land sowie zwischen dem ländlichem Norden und dem urbanisierten Süden sollten ausgeglichen werden. Frankfurt (Oder), im heutigen Land Brandenburg östlich von Berlin gelegen, galt als Vorzeigebeispiel für die Entwicklung eines ländlichen Agrarbezirks zum Industriebezirk. Hier entstanden an der polnischen Grenze Eisenhüttenstadt und Schwedt als neue sozialistische Städte mit industrieller und symbolischer Bedeutung. Ganz im Gegensatz zur Idee der egalisierenden Urbanisierungspolitik begann der Aufbau entsprechend mit einer massiven territorialen Ungleichbehandlung. Mit dem Blick auf die anderen Kreise, die kaum Aufbauleistungen erhielten, erklärte Harry Mönch, Ratsvorsitzender des Bezirkes Frankfurt (Oder), dass Schwerpunktsetzungen immer auch die Vernachlässigung anderer bedeuteten:
"Da wurde ich in einer Sitzung mit Genosse Stoph, da ging es um Wohnungsbau, wurde ich von der Plankommission gelobt, weil im Bezirk Frankfurt (Oder) achtzig Prozent des komplexen Wohnungsbaus auf fünf Standorte verteilt war – hat der gesagt, "Das ist gut!". Ja. Aber so gut wie schlecht. Denn die anderen Kreise-, ist ja Ihre Frage auch, die haben nichts gekriegt. […] da haben wir alle nur Reparatur […] gemacht, aber wenig neuen Wohnungsbau."
Schulterzuckend konstatierte Mönch im Gespräch das Dilemma, das nicht nur die übrigen Kreise, sondern ganz besonders auch die südlichen Bezirke der DDR betraf: Die klare Prioritätensetzung entsprach den Schwerpunktvorhaben der 1950er und 1960er Jahre, die längerfristige Verbesserungen erst hervorbringen sollten. Doch zum Ende der 1960er Jahre häuften sich statt spürbarer Erfolge die Krisenerscheinungen: Das Bauwesen war mit den relativ einseitigen Schwerpunktvorhaben nicht nur überlastet, auch war man den weiterhin virulenten Problemen, insbesondere einer ausreichenden Bereitstellung von Wohnraum, noch nicht effektiv begegnet. Ein Einschnitt in der Städtebaupolitik und Territorialplanung schien überfällig.
Städtebau als örtliche Aufgabe in den 1970er und 1980er Jahren
Die Kurskorrektur wurde mit der Ablösung Walter Ulbrichts durch Erich Honecker als Erstem Sekretär des Zentralkomitees der SED eingeleitet. Mit der "Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik" wurde die wachstumsorientierte Strukturpolitik der Ära Ulbricht von einer gegenwartsorientierten Versorgungspolitik abgelöst, mit der die Lebensverhältnisse in der DDR unmittelbarer verbessert werden sollten.
Für Lothar Fichtner, 1981 bis 1990 Ratsvorsitzender des Bezirks Karl-Marx-Stadt, bedeutete das in seiner Verantwortung gegenüber dem gesamten Bezirk eine ganz andere Ausgangssituation als für den eben gehörten Harry Mönch in Frankfurt (Oder): In allen Kreisen des Bezirkes waren bis zum Ende der 1980er Jahre Neubauvorhaben umgesetzt worden. Doch der Verfall der Altbausubstanz, die brennende Frage des Städtebaus, blieb davon unberührt. Die Neuorientierung in der Baupolitik ließ sich mit den großen Plattenbauwerken und Baukombinaten der Bezirke, die auf den industriellen Wohnungsneubau ausgerichtet waren, nicht ohne weiteres umsetzen.
"daß es keine Stadt oder Gemeinde geben darf, in der bis 1980 die Wohnverhältnisse der Bürger nicht durch Modernisierung oder Neubau von Wohnungseinheiten verbessert werden."
Der Bezirk hielt aber an der bisherigen Linie eines konzentrierten Einsatzes der Mittel für Werterhaltung und Modernisierung in den Kreis- und Mittelstädten fest. Arnold betonte, dass der Bedarf an Baureparaturen dennoch in allen Gemeinden gesichert werden müsse:
"Das erfordert, in den Gemeindeverbänden die Initiativen der Bürger, der Kollektive aus kleineren Betrieben und den LPG für die Modernisierung und den Eigenheimbau zu mobilisieren und auch örtliche Reserven und Potenzen zur Bereitstellung von Baumaterial zu erschließen."
Weil die programmatisch geforderten Veränderungen mit den Mitteln der staatlichen Plan- und Bauwirtschaft nicht umgesetzt werden konnten, wurden seit den 1970er Jahren weitere flankierende Maßnahmen politisch gefördert: Individueller Eigenheimbau und private Instandhaltung, etwa auch mit Hilfe von "Feierabend- und Rentnerbrigaden" sollten durch die Zuteilung notwendiger Baumaterialien angeregt werden, Städte und Gemeinden sollten ihre Probleme durch "sozialistische Gemeinschaftsarbeit" aus eigener Kraft lösen. Die Betonung kommunaler Aufgaben und bürgerschaftlichen Engagements, nicht nur wie bis dahin üblich für die Gestaltung des Wohnumfeldes, sondern auch im Bereich der Sanierung, Instandhaltung oder gar dem Neubau lässt sich als Rückzug der zentralstaatlichen Ebene aus der Verantwortung deuten. Während diese Aufgaben nun mehr denn je auf den Schultern der örtlichen Verwaltungen lastete, blieb der Planungsanspruch der Zentrale unangetastet und stand nicht selten in eklatantem Gegensatz zu dem, was vor Ort möglich und erforderlich schien.
II. Entwicklung regionaler Macht-Räume im Rahmen der zentralistischen Planwirtschaft
Grenzen der Planwirtschaft und regionale Handlungsräume
Informelle Strategien spielten dann eine zentrale Rolle in der Herrschaftspraxis, wenn die Möglichkeiten ausgeschöpft waren, um wichtige Projekte im formal vorgesehenen Rahmen zur realisieren. Leitende Funktionäre im regionalen Staatsapparat hatten zwar die Möglichkeit, Aufgaben und Investitionen für ihren Verantwortungsbereich in den jährlichen Planberatungen zu verhandeln. Die verschiedenen Schwerpunktsetzungen und Programme, die auf zentraler Ebene entschieden wurden, ließen jedoch wenig Spielraum für lokalpolitische Entscheidungen. Konfrontiert mit Problemen, die im Rahmen der Planwirtschaft entsprechend nicht gelöst werden konnten, setzte beispielsweise der Ratsvorsitzende des Bezirks Karl-Marx-Stadt Lothar Fichtner in einem projektbezogenen Netzwerk zusammen mit den leitenden Wirtschaftsfunktionären, Baudirektoren und Kreisräten des Bezirkes die Modernisierung des Chemnitzer Opernhauses um, die im rechtlich verbindlichen Plan nicht vorgesehen war. Weithin sichtbare Projekte wie dieses wurden so als "Schwarzbauten" umgesetzt und beim Besuch des Bauministers beispielsweise als Arbeit an Fernwärmetrassen ausgegeben.
"Aber solche Leute unterzubringen war ein Problem! Ich kann doch nicht sagen, er muss nach Berlin fahren, also da gab's schon echte Probleme, wo wir also auch eine Lösung finden mussten, ja? […] da wurde gesagt, der Staatsapparat muss dafür sorgen, dass das und das besser wird. Ob das im Plan war oder nicht, hat ja die Leute nicht interessiert."
Diese Erwartungshaltung beschrieb auch Fichtner, der in einem Arbeitskreis mit Kollegen aus dem Bezirk und der Hilfe von Funktionären die Fichtelberg-Schwebebahn in Oberwiesenthal restaurieren ließ, nachdem das zuständige Verkehrsministerium aufgrund mangelnder Kapazitäten jede Unterstützung verwehrt hatte:
"Der Verteidigungsminister, hatte sein Ferienheim, also das Ferienheim des Ministeriums für Verteidigung oben in Oberwiesenthal, ne ganz kleine Hütte heute […]. Äh die hätten uns gesagt ‚Was seid ihr denn für’n Bezirk, bringen nicht mal so ne Bahn zustande? Kann doch wohl nicht wahr sein! Ne, setzt euch mal hin, überlegt mal was, wir, wir organisieren da ne ganze Verteidigung fürs ganze Land und ihr bringt nicht mal ne Schwebebahn hier zum Fahren. Das kann doch wohl nicht sein!‘ Na, die hätten uns dann Maß genommen dafür."
Auch in den Diskussionen und Reformen zur Organisation der Arbeit des Staatsapparates wurde immer wieder die "Eigenverantwortung" der örtlichen Organe betont, ebenso ihre Nähe zur Bevölkerung und ihre Kompetenz, örtliche Probleme besonders im wirtschafts- und sozialpolitischen Bereich zu lösen.
Schwarzbauten, Zweckentfremdung staatlich verplanten Baumaterials und Feierabendtätigkeiten trieben im privaten wie planwirtschaftlichen Bereich teils anarchisch anmutende Blüten – wohl auch basierend auf der Erfahrung, dass die eigenen Vorhaben auf regulärem Weg kaum umsetzbar waren.
Fachplanung im Staatsapparat
Auch den Stadtarchitekten und leitenden Regionalplanern, die immer wieder Probleme ansprachen und Lösungen entwarfen, waren die Grenzen regionaler Gestaltungsmöglichkeiten präsent. Ständig stießen sie auf unumstößliche baupolitische Vorgaben, ökonomische Restriktionen und technische Pfadabhängigkeiten. Zwar wurden Programme aufgelegt, um den Problemen im Städte- und Wohnungsbau zu begegnen, die aber nicht unmittelbar und im nötigen Umfang realisiert werden konnten. Ein entscheidender Grund war die Konzentration auf den typisierten industriellen Plattenbau, der erst über lange Entwicklungsphasen an die städtebaulichen Erfordernisse angepasst werden konnte.
Erfolge wie die Modernisierung des Altbaugebietes Brühl in Karl-Marx-Stadt standen im krassen Gegensatz zur Konzentration der Ressourcen auf Neubauvorhaben wie das Fritz-Heckert-Gebiet, die auch durch die Verantwortlichen vor Ort nicht zu verhindern waren. Zu groß war der Druck auf den Wohnungsmarkt, zu gering die Kapazitäten für den Werterhalt. So trafen sich in den Projekten persönlicher Erfolg und Enttäuschungen über die Ausrichtung der Baupolitik: Das volkswirtschaftliche Paradoxon war unübersehbar – für jede zweite Wohnung, die gebaut wurde, verfiel eine Altbauwohnung und wurde unbewohnbar.
Fachplaner wie Funktionäre erfuhren die Grenzen der eigenen Wirksamkeit im politischen System der DDR – und so dominierten neben dem Narrativ der persönlichen Machbarkeit resignative Momente: "Aber keiner konnte die Bremse einwerfen. Keiner konnte das ändern", "Aber, Beschluss ist Beschluss", "da konnte man nichts machen".
Schluss
Die Beispiele zeigen eine immer wieder an den regionalen Bedürfnissen ausgerichtete Praxis der Fachplaner und Funktionäre, die sich – zur Not auch vorbei an den offiziellen Spielregeln und zentralen Vorgaben – unter Ausnutzung ihres sozialen Kapitals für Projekte vor Ort einsetzten. Diese Existenz von eigenen Macht-Räumen, das heißt der Möglichkeit, Vorhaben nach eigenen, auch abweichenden Vorstellungen umzusetzen, trug mittelfristig zur Stabilität in den Regionen und zur Bindung der Verantwortlichen an das Herrschaftssystem bei. Umfassende Erfolge waren in den so stabilisierten Strukturen jedoch nicht zu erreichen. Die Vorhaben blieben regional begrenzt, ausbleibende Grundsatzdiskussionen und Reformen verhinderten strukturelle Verbesserungen in der Organisation von Fachplanung und Planwirtschaft und die Entfaltung einer wirksamen Regionalpolitik.
Die politisch forcierte Ausrichtung auf die gesamtstaatliche Entwicklung, auf Kosten der nachgeordneten Ebenen, führte über die Jahre zu überall sichtbaren Problemen, die die Legitimation des Herrschaftssystems zunehmend in Frage stellten. Das Gefühl, dass verbindliche zentrale Programme an den Problemen vor Ort vorbeiführten, bestand auch in Teilen des Herrschaftsapparates, insbesondere der Fachplanung. Die Wahrnehmung von Defiziten bestärkte örtliche Funktionäre darin, von Auflagen und Programmen abzuweichen.
Die Orientierung und Ausrichtung der Akteure auf der regionalen Ebene des Herrschaftsapparates wurden in den Jahren 1989 und 1990 besonders deutlich. Architekten und Stadtplaner zogen sich auf ihre fachplanerischen Kriterien zurück, die oft im Widerspruch zur staatlichen Baupolitik gestanden hatten. Die leitenden Mitarbeiter des Staatsapparates gingen in vielen Fällen pragmatisch mit den veränderten Bedingungen um, was die sachbezogene Verwaltungsarbeit in den Territorien auch in der Übergangszeit ermöglichte. Besonders hart trafen Kritik und Anfeindungen aus den Reihen der Bevölkerung die Funktionäre des Parteiapparates, die mit ihrer Orientierung an Kurs und die Ideologie der Staatspartei kaum als Vertreter ihrer Region wahrgenommen worden waren.
In der Krise der 1980er Jahre trat der regionale Herrschaftsapparat letztendlich nicht als Impulsgeber auf. Stattdessen war die Loyalität zum sozialistischen Staat ausschlaggebend: Auch die regional rückgebundenen Funktionäre argumentierten im Rahmen des autoritären Diskurses, statt ihre Machtpositionen abweichend, etwa im Sinne ihrer Territorien, auszuüben.
Zitierweise: Lena Kuhl, Regionale Macht-Räume im Zentralismus? Die "Eigenverantwortung" der örtlichen Organe der DDR, in: Deutschland Archiv, 14.7.2016, Link: www.bpb.de/230157