Kommunistenverfolgung in der alten Bundesrepublik
/ 16 Minuten zu lesen
Die Justizvollzugsanstalt Wolfenbüttel (© Reise Reise - Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org)
Dass es in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) aus politischen Gründen Inhaftierte gab, ist gemeinhin bekannt, aber auch in der Bundesrepublik Deutschland wurden Menschen wegen ihrer politischen Überzeugung verfolgt, bestraft und inhaftiert. Zur Auflösung der Fußnote[1] Mit dem sogenannten Adenauer-Erlass vom 19. September 1950 begann die Strafverfolgung von Mitgliedern einer von der Bundesregierung als verfassungsfeindlich eingestuften Organisation. Der Erlass richtete sich offiziell sowohl gegen rechts- als auch gegen linksextreme Gruppen. Hauptziel des Erlasses waren jedoch kommunistische oder kommunistisch geprägte Vereinigungen. Das Verbot der rechtsextremen Sozialistischen Reichspartei (SRP) vom 23. Oktober 1952 markierte einen ersten Höhepunkt in der Verfolgung politisch geprägter Delikte.
Frontstellungen
Der Hintergrund dieser Ereignisse war der deutsch-deutsche Systemkonflikt der 1950er und 1960er Jahre. Er war eine auf nationaler Ebene stattfindende Auseinandersetzung innerhalb des Kalten Krieges, dessen Front durch Deutschland verlief. Eine mögliche Wiedervereinigung des geteilten Deutschland bestimmte die Innen- und Außenpolitik der handelnden Akteure. Die beiden deutschen Teilstaaten verstanden sich jeweils als Kernstaat eines wiederzuvereinigenden Deutschlands. Im Westen stand die Bundesrepublik als demokratisch legitimierter Nachfolgestaat des "Dritten Reichs", im Osten die DDR als Vertretung eines antifaschistischen neuen Deutschlands. Zur Auflösung der Fußnote[2] Aufbau und Sicherung des jeweiligen Teilstaates besaßen Priorität im deutsch-deutschen Konflikt. Die Mittel, dies zu erreichen, waren erstens die Beschleunigung der Staatswerdung und Erlangung der Souveränität nach innen und außen, zweitens die Einflussnahme auf die Schutzmächte USA und Großbritannien im Westen und die Sowjet Union im Osten und drittens die Immunisierung der eigenen Bevölkerung gegenüber dem anderen Teil Deutschlands. Die Entwicklung von teilstaatlicher Identität und Akzeptanz des eigenen politischen Systems hing entscheidend von der erfolgreichen Auseinandersetzung mit der Gegenseite ab. Im Schnittpunkt dieser Konfliktlinien stand die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) mit ihrem Anspruch auf soziale, politische und nationale Repräsentation der gesamtdeutschen Arbeiterklasse. Zur Auflösung der Fußnote[3]
In ihrem politischen Kampf gegen den Kommunismus sowie dessen Unterstützer und Sympathisanten stützte sich die Bundesrepublik auch auf strafrechtliche Methoden. Sie reformierte ihr politisches Strafrecht und führte alte Straftatbestände aus der Weimarer Republik und der Zeit des Nationalsozialismus, die die Besatzungsmächte nach dem Zweiten Weltkrieg außer Kraft gesetzt hatten, wieder ein. Als wirksamste Mittel im Kampf gegen den Kommunismus erschien die präventive Abwehr der kommunistischen Gefahr. Es wurde ein System aus Repression und Verfolgung geschaffen, das die lückenlose Unterdrückung jeglicher Form kommunistischer Betätigung ermöglichte. Der Kern der strafrechtlichen Verfolgung von Kommunisten in der Bundesrepublik war das 1. Strafrechtsänderungsgesetz von 1951. Die Verurteilten waren oft hohen Haftstrafen ausgesetzt. Das Strafgefängnis Wolfenbüttel war einer der Vollzugsorte für verurteilte Kommunisten und Personen, die dafür gehalten wurden. Dieser Beitrag betrachtet die Haftbedingungen von politisch Inhaftierten als eine von vielen Auswirkungen der Kommunistenverfolgung in der Bundesrepublik.
Das erste Strafrechtsänderungsänderungsgesetz
Das erste Strafrechtsänderungsgesetz (1. StÄG) vom 30. August 1951 fixierte, vor dem Hintergrund des Ost-Westkonflikts, die Strafvorschriften des Zweiten Teils des Strafgesetzbuches (StGB) zu Hochverrat, Staatsgefährdung und Landesverrat. Zur Auflösung der Fußnote[4] Politisch richtete sich das Gesetz ausschließlich gegen Kommunisten, deren Unterstützer, Sympathisanten und Kontaktpersonen. Ziel war eine möglichst lückenlose Erfassung des gewaltlosen Widerstands gegen die Politik der Bundesregierung und die Etablierung präventiver Maßnahmen gegen kommunistische Tätigkeiten, die den Staat und seine freiheitlich demokratische Grundordnung (fdGO) bedrohen könnten. Diese Gefahr bestand, aus Sicht der Verfasser des Gesetzes, mehr in Form einer Massenbewegung, denn in Einzeltätern. Zur Auflösung der Fußnote[5] Als Neuerung führte das 1. StÄG den Tatbestand der Staatsgefährdung ein. Hierunter wurde eine Form von gewaltloser politischer Betätigung definiert, bei der eine faktische Gefährdung des Staates objektiv nicht festgestellt werden musste. Mit generalklauselartigen Formulierungen stellten die Verfasser den jeweils verhandelnden Richtern einen großen Ermessensspielraum zur Verfügung. Ein wichtiger Aspekt bei der Urteilsfindung war die Tatsache, dass die vorsitzenden Richter den Delinquenten eine strafbare Handlung unterstellen können mussten. Die Handlung eines Täters wurde zur Staatsgefährdung, wenn eine als verfassungsfeindlich eingestufte Organisation sie beeinflusste. Zur Auflösung der Fußnote[6] Dies führte dazu, dass auch straffreie Aktionen, wie das Verteilen von Flugblättern gegen die Remilitarisierung der Bundesrepublik, bestraft wurden. Die Verfasser des 1. StÄG von 1951 schufen ein Gesinnungsstrafrecht, in dem die objektive Ermittlung von strafbaren Tatbeständen zunehmend in den Hintergrund rückte. Dagegen spielte die subjektive Einschätzung der individuellen Fälle durch die Beteiligten der Rechtsprechung gegen Kommunisten eine immer wichtigere Rolle. Der Jurist und Strafverteidiger Heinrich Hannover äußerte sich zu der beschriebenen Auflösung des Tatbestandsstrafrechts wie folgt:
"Wir sind dank der Auflösung des Tatbestandsstrafrechts heute so weit, daß selbst ein Jurist, der die Rechtsprechung des 3. Strafsenats des Bundesgerichtshofs genau kennt, nicht mit Sicherheit voraussagen kann, ob ein bestimmtes politisches Verhalten strafbar ist oder nicht, da es lediglich einer politischen Wertung – um nicht zu sagen, einer willkürlichen Entscheidung – des Richters bedarf, um aus einem irgendwie gearteten Verhalten eine Förderung kommunistischer Ziele zu machen." Zur Auflösung der Fußnote[7]
Politisch Inhaftierte im Strafgefängnis Wolfenbüttel der 1950er und 1960er Jahre
Zwischen 1954 und 1962 waren nachweislich 85 Personen aus politischen Gründen im Strafgefängnis Wolfenbüttel inhaftiert. Die Überlieferung der Gefangenenpersonalakten aus den 1950er und 1960er Jahren ist lückenhaft. Die Menge aller politisch Inhaftierten wird auf eine Zahl im unteren dreistelligen Bereich geschätzt. Der erste Gefangene wurde im Juni 1954 eingeliefert. Zur Auflösung der Fußnote[8] Die nächsten Einlieferungen sind erst auf die Monate Januar und März 1955 datiert. Für April 1955 sind nur drei politische Gefangene nachgewiesen. In den folgenden Monaten stieg die Anzahl der politischen Häftlinge bis zum Januar 1956 an. Zu diesem Zeitpunkt waren mit 19 Personen die meisten politischen Gefangenen inhaftiert. Februar und März 1957 markieren mit zehn erfassten Personen einen relativen Höhepunkt.
Politisch Inhaftierte im Strafgefängnis Wolfenbüttel 1954 bis 1958, Niedersächsisches Landesarchiv Wolfenbüttel, 68 Nds (© Lukkas Busche)
Vor dem zweiten relativen Hoch zwischen April und Mai 1961 sind im Schnitt drei bis vier politische Insassen für Wolfenbüttel feststellbar. Im Dezember 1962 wurde der letzte politische Gefangene entlassen.
Politisch Inhaftierte im Strafgefängnis Wolfenbüttel 1958 bis 1962, Niedersächsisches Landesarchiv Wolfenbüttel, 68 Nds (© Lukkas Busche)
Die aus politischen Gründen Inhaftierten im Strafgefängnis Wolfenbüttel der 1950er und 1960er Jahre wurden zwischen 1896 und 1939 geboren. Die meisten Angeklagten wurden im Alter von 19 bis 42 Jahren verurteilt. Das Gros der Gefangenen (30 Personen) wurde in ihrer Eigenschaft als Mitglied der Freien Deutschen Jugend (FDJ) und/oder der KPD (31 Personen) verurteilt. Sie hatten sich in der Illegalität weiter für sie betätigt. Darüber hinaus gehörten neun Verurteilte anderen in der Bundesrepublik nunmehr verbotenen Organisationen wie der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED), dem Freien Deutschen Gewerkschaftsbund (FDGB) oder der Gesellschaft für deutsch-sowjetische Freundschaft (GDSF) an. Bei etwa 30 Personen konnte keine Mitgliedschaft nachgewiesen werden.
Gesellschaftlich ist die Gruppe der Betroffenen, bis auf wenige Ausnahmen, in das Arbeitermilieu einzuordnen. Die meisten Inhaftierten waren verheiratet und hatten Kinder. Die Ehefrauen mussten sich also in der Abwesenheit ihrer Männer alleine um das familiäre Einkommen kümmern, was sie nicht selten vor Probleme stellte. Besuche für die nächsten Angehörigen waren nur alle zwei Monate zulässig. Zur Auflösung der Fußnote[9] Entsprechend viele Häftlinge stellten Anträge auf Besuchsverlängerungen oder Sonderbriefe, um persönliche und familiäre Angelegenheiten mit ihren Angehörigen zu besprechen. Bei der Ehefrau von Paul D. wird die Verzweiflung besonders deutlich. In mehreren Briefen wendete sie sich an das Strafgefängnis und bat um Hilfe in ihrer finanziellen Notlage. Am 11. September 1960 schrieb sie:
"Ich war lange nicht so lebensmüde wie jetzt, nun bekommt mein Mann schon Jahrelang [sic] keine Arbeit, jetzt fängt es bei mir auch an. […], wir haben doch 2 Kinder, da fragt kein Mensch nach, was aus denen werden soll und von was wir leben sollen. […] Mein Leben lang werde ich ihnen dankbar sein, wenn sie uns helfen würden und meinem Mann irgend etwas [sic] besorgen, kann doch als Fahrer oder sonst was.“ Zur Auflösung der Fußnote[10]
In Einzelfällen beantragten die politischen Gefangenen Hafturlaub. Ablehnungen und Befürwortungen stehen in etwa im gleichen Verhältnis. So lehnte die Anstaltsleitung den Antrag von Waldemar B. auf Urlaub wegen der Erstkommunion seiner Tochter ab. Zur Auflösung der Fußnote[11] Herbert W. bekam vier Tage Hafturlaub zugesprochen, um zu heiraten. Zur Auflösung der Fußnote[12] Hausstrafverfahren wurden bei Verstößen gegen die Hausordnung eingeleitet. Hierzu zählten beispielsweise Auseinandersetzungen mit Wachhabenden oder der Versuch der Ehefrauen ihren Männern bei einem Besuch etwas zuzustecken. Die verhängten Sanktionen reichten von Verwarnungen und gestrichenen Fristbesuchen, bis zum kurzzeitigen Arrest. Zur Auflösung der Fußnote[13]
Berthold K.
Der Fall Berthold K. steht exemplarisch für die individuellen Haftbedingungen im Strafgefängnis Wolfenbüttel der 1950er und 1960er Jahre und berücksichtigt die Vorgeschichte des Inhaftierten. Zur Auflösung der Fußnote[14] K. wurde am 8. Oktober 1902 in Oelsnitz Kreis Zwickau als fünftes von neun Kindern geboren. Bis zu seinem 17. Lebensjahr war er bei seinen Eltern aufgewachsen, hatte die Volksschule besucht und anschließend verschiedene Berufe ausgeübt. Seine Eltern waren bereits früh verstorben. 1926 kam er nach Hannover, um in einer Druckerei zu arbeiten. Bis 1935 war er häufig arbeitslos und musste betteln, weswegen er sechsfach vorbestraft war. Sein Urteil von 1955 führt seine Vorstrafen bis ins Detail aus. Unter anderem verurteilte ihn das Oberlandesgericht (OLG) Hamm 1934 zu zwei Jahren Zuchthaus wegen Vorbereitung zum Hochverrat in Tateinheit mit Beteiligung an einem verbotenen Verein. Als strafbare Handlung wurde ihm das Verteilen von Flugblättern für die "Proletarischen Freidenker" vorgeworfen. Am 2. August 1940 wurde K., wieder vom OLG Hamm und erneut wegen Vorbereitung zum Hochverrat, zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt. K. verbüßte beide Strafen und gab in den 1950er Jahren eine 50 prozentige Erwerbsunfähigkeit als Folge seiner Haftzeit an.
Im Jahr 1950 wurden K. für sein während der Zeit des Nationalsozialismus erlittenes Unrecht Entschädigungszahlungen von mehr als 12.000 Deutsche Mark zugestanden. Zusätzlich bezog er eine monatliche Rente von 120 Deutsche Mark. Der Regierungspräsident in Hannover entzog ihm 1957 das Ruhegehalt allerdings wieder. Grund war K.s Tätigkeit für die verbotene KPD. K. war seit 1920 KPD-Mitglied und trat der Partei bereits 1945 wieder bei. Bis 1955 war er Stadtteilgruppenleiter von Hannover-List. In dieser Zeit wurde er kurzfristig aus der Partei ausgeschlossen. Die Gründe dafür sind unbekannt. Nach dem KPD-Verbotsurteil von 1956 blieb K., wie viele andere politisch Inhaftierte, Parteifunktionär. Ab August 1957 war er Mitmieter einer Garage, die als Lagerraum genutzt wurde. Im Dezember stellten die zuständigen Ermittlungsbehörden in der Garage mehr als eine Tonne gelagertes kommunistisches Schriftgut sicher. Bis zu seiner Festnahme am 3. Dezember 1957 beteiligte sich Berthold K. aktiv an Kurierfahrten in einem Lkw zur Verteilung der Tageszeitungen "Freies Volk" und "Neue Niedersächsische Volksstimme".
Gerichtsverfahren und Haftgrund
Das Landgericht Lüneburg verurteilte Berthold K. am 9. Mai 1958 wegen Staatsgefährdung zu einer Gefängnisstrafe von zwei Jahren. Die Untersuchungshaft von 158 Tagen wurde angerechnet. In seiner Verhandlung legte ihm das Gericht Geheimbündelei in verfassungsfeindlicher Absicht in Tateinheit mit Staatsgefährdung und Verstoß gegen das KPD-Verbotsurteil von 1956 zur Last. Zusätzlich zur Haft verhängte die IV. große Strafkammer sogenannte Nebenstrafen, die erst nach dem Strafvollzug einsetzten. Im Fall Berthold K. erkannte das Gericht auf die Zulässigkeit von Polizeiaufsicht und die Unfähigkeit zur Ausübung öffentlicher Ämter, den Verlust des Wahl- und Stimmrechts und der Wählbarkeit für eine Dauer von drei Jahren.
K. wurde auf dem Höhepunkt der Kommunistenverfolgung verurteilt. Die Mehrheit der für Wolfenbüttel nachgewiesenen Urteile ergingen 1955 (20), ein Jahr vor dem KPD-Verbot. Die Annahme, das KPD-Verbot habe zu einem Anstieg der Verfahren gegen Kommunisten geführt, ist falsch. Im Sommer 1956 besaß die Partei nur noch ca. 70.000 Mitglieder, Tendenz rapide fallend. Zur Auflösung der Fußnote[15] Die im Fall K. aufgeführten Straftatbestände Staatsgefährdung und Geheimbündelei sind am häufigsten in Urteilen gegen Kommunisten zu finden. Ein weiteres, vielfach vertretenes Delikt sind landesverräterische Beziehungen. Die verhängten Haftstrafen liegen zwischen drei Monaten und drei Jahren Gefängnis. Der Großteil der in Wolfenbüttel Inhaftierten politischen Gefangenen musste eine Strafe zwischen sechs Monaten und einem Jahr und drei Monaten verbüßen. Auch wenn der gesetzlich mögliche Strafrahmen in der Regel nicht voll ausgeschöpft wurde, kann nicht von milden Urteilen gesprochen werden.
Aufnahme, Unterbringung und Beschäftigung
Am 3. September 1958 wurde K. in das Strafgefängnis Wolfenbüttel eingeliefert. Bei seiner Aufnahme wog er 57 Kilogramm, bei einer Größe von 1,60 Meter. Er wird als ledig, konfessions- und kinderlos mit einer Pflegetochter auf dem Aufnahmebogen geführt. Als ersten offiziellen Vermerk zur Person des Berthold K. notierte Oberlehrer Zur Auflösung der Fußnote[16] W.:
"K. ist 56 Jahre alt. Keramik-Kaufmann (selbständig). Ledig. Keine Kinder. Seit 1920 in Hannover. Hat eine Pflegetochter (Kind von seiner früheren Braut). Vorstrafe: In der Zeit des dritten Reiches zweimal Zuchthaus. Tat: Staatsgefährdung § 20 a pp. Geht nach Strafverbüßung in die eigene Wohnung zurück. "Ich fühle mich nicht als Verbrecher". Überzeugter Kommunist." Zur Auflösung der Fußnote[17]
Die erste Unterbringung für K. war Abteilung 18 in Haus II. Am 15. September 1958 wurde er in eine höhere Stufe verlegt und durfte damit an den Gemeinschaftsveranstaltungen der politischen Häftlinge teilnehmen. Später befand er sich auf Stube 26 in Haus III. Er arbeitete als Tütenkleber, in der Druckerei und verrichtete Kartonagearbeiten. K. führte also sowohl Zellenarbeiten als auch Aufgaben in Betrieben aus. Auf ihren Zellen mussten die politischen Insassen Papiertüten kleben, Umschläge falten und Netze stricken. Betriebe waren unter anderem die Firmen Hammer aus Lübeck, Streiff & Helmoldt sowie Noltemeyer. Hier wurden Produktverpackungen gefertigt. Die Arbeit wurde nach Pensen abgerechnet. Für jedes geleistete Pensum verdienten die Insassen zwischen 25 und 60 Pfennig pro Tag. Zur Auflösung der Fußnote[18] Der Lohn wurde dem Eigengeld der Gefangenen zugeschrieben, wovon sie wiederum verschiedenste Dinge einkaufen konnten.
Lebensmittel/ Einkäufe
Einkäufe durften regelmäßig einmal monatlich getätigt werden. Die gekauften Artikel reichten von Toiletten- und Hygieneartikeln über Material zur Weiterbildung, wie Lehrbücher, bis hin zu Lebensmitteln. Letztere benötigten eine Genehmigung der Anstaltsleitung. Wenn Gefangene Lebensmittel kaufen wollten, forderte die Anstaltsleitung die Meinung des Anstaltsarztes an. Dieser sprach sich im Hinblick auf die Verfassung der Insassen für oder gegen einen Einkauf aus.
Im September 1959 reichten die Insassen der Stube von Berthold K. gemeinsam einen Antrag auf einen Einkauf von Obst und Gemüse ein. Ein Regierungsmedizinalrat Dr. K. gab hierzu eine medizinische Stellungnahme ab. Er vertröstete die Inhaftierten zunächst und verlangte einzelne Anträge. Im Oktober wurde ein Einzelantrag des Gefangenen K. befürwortet. Jetzt durfte er einmalig Obst und Gemüse im Wert von vier Deutschen Mark einkaufen. Die erhaltene Einkaufsliste führt folgende Lebensmittel und Preise auf: ein Kilogramm Äpfel: -,90 / ein Kilogramm Zwiebeln: -,70 / ein Kilogramm Bananen: 1,20 / ein Kilogramm Weintrauben: 1,60.
Postalische Sendungen von Lebensmitteln waren verboten. Doch auch hier scheint die Ausnahme die Regel zu bestätigen: Gerhard K. bekam nach einer Anweisung des niedersächsischen Ministerpräsidenten ein Geburtstagspaket seiner Ehefrau ausgehändigt, das über das Rote Kreuz versandt wurde und ausschließlich Lebens- und Genussmittel enthielt. Zur Auflösung der Fußnote[19] Zu seinem 57. Geburtstag beantragte Berthold K. einen Sondereinkauf, um für seine Stubenkameraden Kaffee, Kuchen und Zigaretten zu erwerben. Er wollte eine kleine Feier abhalten. K. argumentierte mit seiner langen Haftzeit im Nationalsozialismus. So würde er bereits den zehnten Geburtstag im Gefängnis verbringen. Der Antrag wurde abgelehnt. Neben diesen Besonderheiten beantragte K. zusätzliche Kleidung zum Schutz vor Erkältungen und ein spezielles Haarwaschmittel zur Fortführung einer Schuppenkur. Beide Anträge wurden zuerst abgelehnt und zu einem späteren Zeitpunkt teilweise genehmigt.
Schriftverkehr: Briefe und Pakete
Während seiner gesamten Haft führte K. einen regen Briefwechsel mit seiner Pflegetochter. Sie hatte sich der Regelung seiner privaten Angelegenheiten angenommen. Hierzu zählten seine Wohnungssituation und ein Entschädigungsverfahren in seiner Wiedergutmachungsangelegenheit. Die Insassen des Strafgefängnisses Wolfenbüttel durften nach Haftantritt einen Brief schreiben. Anschließend galt ein Turnus von vier Wochen. Die aus- und eingehende Post war einer strengen Zensur unterworfen. Zur Auflösung der Fußnote[20] Es sind vereinzelt Briefe überliefert, die aus unterschiedlichen Gründen angehalten wurden. Bei eingehenden Briefen waren es meist Solidaritätsbekundungen aus der DDR oder Post von Angehörigen, die Hinweise über das politische Tagesgeschehen enthalten. Ausgehende Briefe von Gefangenen wurden dagegen wegen Informationen zum Haftalltag oder abfälliger Äußerungen über die Bundesrepublik und die bundesdeutsche Justiz zurückgehalten. Der Erhalt von Geld, Briefmarken, Paketen und Päckchen war nicht gestattet.
Bedingte Entlassung
Alle politisch Inhaftierten hatten die Möglichkeit, ein Gesuch auf vorzeitige bedingte Entlassung einzureichen. Die einzige Bedingung hierfür war, dass sie bereits zwei Drittel ihrer Haftstrafe verbüßt hatten. Bevor das zuständige Gericht eine Entscheidung traf, mussten sich die Bediensteten des Strafgefängnisses Wolfenbüttel zur Führung des Antragstellers äußern. In einer abschließenden Stellungnahme sprach sich die Anstaltsleitung für oder gegen eine bedingte Entlassung aus. Auf diese Weise beeinflusste sie den Entscheidungsprozess des jeweiligen Gerichts. Am 21. Mai 1959 reichte K. sein Gesuch auf vorzeitige bedingte Entlassung beim Landgericht Lüneburg ein. Die befragten Aufsichtsbeamten äußerten sich positiv über K.s Persönlichkeit, beschrieben ihn als ordentlich, ruhig, bescheiden und fleißig. In seiner abschließenden Stellungnahme äußerte sich Regierungsrat Dr. S. wie folgt:
"Er ist zwar ein überzeugter Kommunist, aber in idealem Sinne, und nicht der Typ eines radikalen und fanatischen Funktionärs. Da er sich schon seit seiner frühesten Jugend mit dem kommunistischen Gedankengut beschäftigt hat, wird es schwer sein, ihn eines Besseren zu belehren. Ich möchte aber auf Grund des hier von ihm gewonnenen Eindrucks annehmen, daß er sich hüten wird, künftig wieder gegen die demokratische Rechtsordnung zu verstoßen. Man sollte ihm die Möglichkeit geben, sich zu bewähren." Zur Auflösung der Fußnote[21]
Am 10. Juli 1959 lehnte das Landgericht Lüneburg K.s Gesuch auf bedingte Entlassung ab. In ihrer Entscheidung argumentierte die Strafkammer mit einer Aussageverweigerung K.s in einem anderen Strafverfahren, in dem er als Zeuge gehört werden sollte. Aus diesem Verhalten konstruierte die Kammer eine von K. ausgehende staatsgefährdende Bedrohung. Gegen diese Entscheidung legte K. Beschwerde ein. Dr. S. bezeichnete K. in seinen folgenden Stellungnahmen weiterhin als einen überzeugten Kommunisten, über den eine klare Zukunftsprognose nicht möglich sei. Dennoch sprach er sich am Ende seiner Aussagen immer für eine Entlassung K.s aus. Schließlich wurde er am 1. Dezember 1959 bedingt entlassen, nur einen Monat vor dem offiziellen Ende seiner Haftzeit am 7. Januar 1960. Seine Bewährungszeit betrug vier Jahre mit den Auflagen, nicht an Aktionen des Internationalen Kommunismus und politischen Veranstaltungen in der Sowjetzone teilzunehmen.
Fazit
Im Strafgefängnis Wolfenbüttel waren zwischen 1954 und 1962 mindestens 85 Personen aus politischen Gründen inhaftiert. Alle wurden auf der Grundlage der im 1. StÄG enthaltenen sogenannten Staatsschutzparagraphen verurteilt. Die meisten politisch Inhaftierten hatten sogenannte Organisationsdelikte verübt und sich auf unterschiedlichen Ebenen an alltäglicher Parteiarbeit beteiligt. Die erfüllten Aufgaben reichten von Flugblattaktionen bis zur leitenden Tätigkeit eines Ortsverbandsvorstehers. Der zweiten großen Gruppe der Verurteilten wurden Kontaktdelikte zur Last gelegt. Sie hatten in der Bundesrepublik für das Ministerium für Staatssicherheit meist militärische Ziele ausspioniert. Bei den weitergeleiteten Informationen handelte es sich jedoch nie um Staatsgeheimnisse.
Die Haftsituation der politisch Inhaftierten war von Häftling zu Häftling verschieden. Die zahlreichen individuellen Anträge der Häftlinge zeigen, wie vielschichtig die Haftbedingungen sein konnten. Abgesehen von einem generellen Tabakverbot für alle Inhaftierte, schien es den Insassen möglich gewesen zu sein, nahezu alles bewilligt zu bekommen. So umfassen die Anträge sowohl Lebensmittel, Kleidung, Sonderbriefe und Besuchsverlängerungen als auch Teilnahmen an Gemeinschaftsveranstaltungen, Verlegungen und eine Gitarre. Diese kurze Aufzählung soll jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass alle diese Dinge auch abgelehnt werden konnten und teilweise wurden. Hingegen gibt es keine Hinweise auf gewalttätiges Verhalten der Bediensteten gegenüber den politisch Inhaftierten. Die einzig strittigen Personen sind Anstaltsleiter Regierungsrat Dr. S. und Oberlehrer W. Sie beeinflussten durch ihre Stellungnahmen zur Führung von Einzelpersonen die Entscheidungen der Gerichte hinsichtlich der gestellten Gesuche auf eine vorzeitige bedingte Entlassung maßgeblich.
Das Strafgefängnis Wolfenbüttel der 1950er und 1960er Jahre war ein Ort, an dem politische Insassen ihre Behandlung durch ihr regelkonformes Verhalten positiv beeinflussen konnten. Eine in Einzelfällen erwiesene Einzelhaft der politisch Inhaftierten im Anfangsvollzug und die anschließende Gleichbehandlung mit kriminellen Insassen, durch die Bediensteten des Strafgefängnisses Wolfenbüttel, stellt jedoch eine Benachteiligung dar. Schließlich handelte es sich nicht um Kriminelle, sondern um Personen, die wegen ihrer politischen Einstellung strafrechtlich verfolgt wurden. Ihre Taten gingen dabei oft nicht über die Teilnahme an Massenkundgebungen oder der Verteilung von Flugblättern hinaus. Schwere Gewaltverbrechen waren bei politisch Inhaftierten nie der Grund für eine Verurteilung. Zur Zeit des Kalten Krieges, in der Ära Adenauer, kam es darauf an, die innenpolitische Opposition von links zu unterdrücken. Der deutsche Antikommunismus kulminierte im Verbot der KPD, einer demokratischen Partei in einem Staat mit demokratischer Verfassung. Der Beschluss eines Parteiverbots wiederholte sich nach dem 17. August 1956 bislang nicht wieder.
Zitierweise: Lukkas Busche, Kommunistenverfolgung in der alten Bundesrepublik. Zur Situation der politisch Inhaftierten im Strafgefängnis Wolfenbüttel der 1950er und 1960er Jahre am Beispiel des Berthold K., in: Deutschland Archiv, 29.4.2016, Link: www.bpb.de/225517