Vor einem halben Jahrhundert befand sie sich das kulturelle Leben auf beiden Seiten der Mauer an einem Scheideweg. Klaudia Wick blickt in diesem Beitrag zurück - auf das Fernsehjahr 1966 in Ost und West.
Für die Westdeutschen ist 1966 das Jahr vor der Tötung des Studenten Benno Ohnesorg, in deren Folge die Studentenrevolte viele überkommene Gewissheiten durch neue Freiheiten ersetzen wird. Für die Ostdeutschen ist es das Jahr nach dem 11. Plenum des Zentralkomitees der SED, das als "Kahlschlag-Plenum" in die Geschichte eingeht und die wenigen, nach dem Mauerbau in Aussicht gestellten Freiräume wieder zubetoniert. Viele Babyboomer aus beiden deutschen Staaten werden 1966 freilich als das Jahr in Erinnerung behalten, in dem ein Fernseh-Delfin ihre Herzen eroberte. Das ZDF zeigt die US-Serie "Flipper" (NBC 1964-67) ab dem Neujahrstag im Nachmittagsprogramm. Weil aber 1966 auch das Jahr vor der Einführung des Farbfernsehens ist, sehen die Deutschen die prächtigen Unterwasseraufnahmen noch in Schwarz-Weiß.
Das Fernsehjahr 1966 markiert das Ende einer Aufbauphase. Seitdem die Geräteindustrie das "in die Röhre" Schauen erschwinglicher gemacht hat, kommen die Zuschauer aus allen Gesellschaftsschichten. Das Fernsehen sendet hüben wie drüben regelmäßig und abendfüllend, es hat eine eigene, vielfältige Formensprache entwickelt und mit seinen verlässlich wiederkehrenden Reihen und Serien das Freizeitverhalten der Deutschen maßgeblich verändert. Der Feierabend findet nun zuhause statt!
Fernsehen ist Zugang auf Knopfdruck: Gerade in ländlichen Gebieten ebnen die Theaterverfilmungen und Ausstellungsberichte den Standortnachteil der Provinz gegenüber den Städten ein und synchronisieren die Lebenswelten. Aber bei aller Euphorie für die neue Wirkmacht müssen die Programmmacher doch auch erkennen: Weder die Hochkultur noch die politische Debatte und erst Recht nicht die belehrenden Dokumentarspiele begründen den Erfolg beim Publikum, sondern hüben wie drüben die vielen Formen der leichten Unterhaltung. Und der Spagat zwischen Bildungs- beziehungsweise Agitationsauftrag und Zuschauerwunsch ist noch größer geworden, seit in der Bundesrepublik das Zweite Deutsche Fernsehen (ZDF) auf Sendung ist. Denn Karl Holzamer, Philosoph, Pädagoge und erster ZDF-Intendant, will die Herzen der Zuschauer mit Unterhaltsamkeit erobern. Dem Publikum ermöglicht die Konkurrenz mit dem ersten Deutschen Fernsehen der ARD ein Umschaltverhalten, das Ernstes und Erbauliches weitgehend vermeidet. Dieser sogenannte "Unterhaltungsslalom" wird in der DDR genau verfolgt und analysiert. Denn Mitte der 1960er Jahre schalten bis zu 85 Prozent der DDR-Fernsehteilnehmer das Westfernsehen ein. Sogar ein hoher Anteil von SED-Parteimitgliedern ist darunter, wie eine 200 Seiten starke Untersuchung "Zum Einfluß des Westfernsehens"
Grenzenlos fernsehen
"Der Klassenfeind sitzt auf dem Dach!", weiß der Staatsratsvorsitzende Walter Ulbricht.
Bereits wenige Wochen nach dem Mauerbau 1961 hat der Sender Freies Berlin (SFB) ein Vormittagsprogramm gestartet, das sich an die Bürger jenseits der Mauer wendet und deshalb nur von den grenznahen Sendern NDR, HR und BR übernommen wird. Zum Jahresanfang 1966 erweitern ARD und ZDF das sogenannte "Wiederholungsprogramm für Mitteldeutschland", nach Unterhaltungssendungen und Nachrichten vom Vortag schließt das Vormittagsprogramm mit einer aktuellen Presseschau ab. Viele Informationen, die den DDR-Bürgern von der eigenen Presse vorenthalten werden, finden so tagtäglich den Weg über die Grenze. "Drüben" nennt das ZDF eine neue Fernsehreihe, die ab 1966 regelmäßig aus "Mitteldeutschland" berichtet. Beim Bericht über die zentrale DFF-Nachrichtensendung Aktuelle Kamera" fällt der Blick sogleich auf das Parteizeichen des Nachrichtensprechers: Nicht Objektivität, sondern Parteilichkeit, schlussfolgert der ZDF-Moderator, sei drüben also das Prinzip der Berichterstattung.
Das gegenseitige Zitieren ist in beiden Fernsehsystemen gängige Praxis. Thilo Koch, Leiter des Westberliner NDR-Studios, hat schon 1958 in der Fernsehreihe "Die rote Optik" damit angefangen und dafür eigens einen Abfilmapparat entwickeln lassen. DFF-Chefkommentator Karl-Eduard von Schnitzler beschäftigt sich seit 1960 auf die gleiche Weise (und unter Zuhilfenahme ähnlicher Technik) in "Der schwarze Kanal" mit dem Westfernsehen. Im "innerdeutschen Fernsehkrieg" (Koch) wird ab 1969 Gerhard Löwenthal mit dem "ZDF-Magazin" für mehrere Jahrzehnte zu von Schnitzlers direktem Gegenspieler.
Vorbilddramaturgien
Die Mauer ist ein beliebter Gegenstand für das westdeutsche Fernsehen, der westdeutsche Kapitalismus ein beliebter Gegenstand für das Ostfernsehen: Weil auch der sozialistische Fernsehfilm von der Überlegenheit des eigenen Systems ausgehen soll, fehlen den Autoren oft Figuren mit glaubwürdigen inneren Widersprüchen für ihre Vorbilddramaturgien. Etliche Fernsehspiele des DFF erzählen deshalb von Menschen, die in der kapitalistischen Gesellschaft der Bundesrepublik nicht glücklich geworden sind. In "Besuch aus der Ferne" (DFF 18.9.1966) thematisiert der Regisseur Lothar Bellag die Systemunterschiede anhand zweier Freunde, die einst Studienkollegen waren: Der eine praktiziert als Landarzt mit Nachtbereitschaft, der andere ist nach dem Medizinstudium in den Westen geflohen. In Hamburg stellt der Regisseur Egon Monk in seinem Fernsehspiel "Preis der Freiheit" (ARD
Der Brecht-Schüler Egon Monk hat 1960 die Fernsehspielabteilung des NDR übernommen. Statt Bühnenstücke zu adaptieren, will der experimentierfreudige Hauptabteilungsleiter zeitgenössische Autoren gewinnen, die genuine Fernsehspiele entwickeln. Eberhard Fechner, Dieter Meichsner, Helga Feddersen, Klaus Wildenhahn oder Peter Beauvais gehören zu Monks Weggefährten. Demonstrativ zieht die Fernsehspielredaktion um auf das Gelände von Studio Hamburg, um näher am Produktionsprozess zu sein als bisher. Binnen weniger Jahre entsteht so eine neue Fernsehspielpraxis, die sich einerseits filmischer Mittel bedient, dabei aber andererseits in ihrer dramaturgischen Form der analytischen Distanz und den Vermittlungsformen des epischen Theaters verpflichtet ist. "Private Leidenschaften interessieren mich nicht",
Zeichen der Zeit
So wie sich in Hamburg die Fernsehspieldramaturgen finden, haben sich in Stuttgart beim SDR die Dokumentarfilmer gesammelt. Sie sind vom Hörfunk zum Fernsehen gekommen oder wurden beim Spiegel abgeworben. Ihre Redaktion trägt das Wort "Film" nicht einmal im Namen, sondern heißt "Dokumentarabteilung". Vieles – auch der bekannte Reihentitel "Zeichen der Zeit" – ist eine Übernahme aus dem Hörfunk. Die 16-mm-Kameras sind nur dann leichthändig und damit beweglich, wenn sie auf den Originalton verzichten. Bei Tonaufnahmen müssen sie schalldämmend verkleidet (geblimpt) werden, und das Pilottonkabel kettet Kameramann und Toningenieur wie siamesische Zwillinge aneinander. Immerhin kann Roman Brodmann, der 1965 vom ZDF nach Stuttgart gewechselt ist, seine Beobachtung einer Schönheitskonkurrenz für "Die Misswahl" (ARD/SDR 30.6.1966) schon mit einer selbst geblimpten Schulterkamera drehen, die zudem über ein Zoomobjektiv verfügt. So kommt das Kamerabild mitten aus dem Geschehen, und der Ton kann den Gesprächen der Konkurrentinnen lauschen. Stilprägend und sinnstiftend für die Dokumentarfilme der "Stuttgarter Schule" bleiben aber die Einlassungen aus dem Off, die das Gezeigte nicht selten von oben herab kommentieren.
Denken und Handeln
Das dokumentarische Arbeiten ist im Fernsehen der DDR nicht einfacher geworden, seit ein Millionenpublikum erreicht wird. Weil das Programm "Denken und Handeln maßgeblich beeinflussen" kann (DFF-Intendant Heinz Adameck)
Nach einer Verbotswelle zum 10. Jahrestag des DFF wird seit Kurzem die langfristige Programmplanung in Abstimmung zwischen Intendanz und Partei festgelegt. Besonders in der Hauptabendschiene soll so ein ideologisch konformes Programm entstehen. Die Reihe „Bilder und Beobachtungen zur technischen Revolution“ inszeniert die DDR als modernen Industriestaat. Weil es in der sozialistischen Gesellschaft keine unlösbaren Widersprüche zwischen den volkswirtschaftlichen Belangen und den Interessen des einzelnen Menschen geben darf, beschäftigt sich die Dokumentarspielreihe "Der Mensch neben Dir" damit, wie letzte Hindernisse in der Arbeitswelt auszuräumen sind. Beliebt sind auch exemplarische historische Lebensläufe. Vom Nationalsozialismus bis in die Gegenwart erzählt, sollen sie den Gründungsmythos von der DDR als antifaschistischem Deutschland wachhalten. So erinnert das Dokumentarspiel "Kein Platz für Gereke" (DFF 15.2.1966) an den bundesdeutschen Landwirtschaftsminister Günther Gereke, der 1952 in die DDR wechselte. Die Spielfilmserie "Ohne Kampf kein Sieg" (DFF 28.8.-6.9.1966) idealisiert den Rennfahrer Manfred von Brauchitsch, der ebenfalls in die DDR übersiedelte. Selbst die populären Fernsehromane sind nicht frei von ideologischen Vorgaben: In "Columbus 64" (DFF 1.-6.10.1966) von Ulrich Thein muss sich ein angehender Schriftsteller, dargestellt von Armin Mueller-Stahl, als Fahrer im Uranbergbau der Wismut bewähren. Die harten Arbeitsbedingungen im Bergbau formen letztlich aus dem richtungslosen jungen Bürger einen verantwortungsvollen Genossen. Die bereits 1965 fertig gestellte Miniserie erhielt nach dem 11. Plenum im Dezember des Jahres keine Freigabe und lief nur einmal nach massiven Eingriffen: Man störte sich an der ungeschönten Darstellung der DDR-Arbeitswelt ebenso wie am Titelsong und Mitwirken von Wolf Biermann, der seit dem Plenum generelles Auftritts- und Veröffentlichungsverbot hatte. Selbst der Dialekt des Arbeitsdirektors der Wismut Sepp Wenig, der sich ebenfalls selbst darstellte, wurde beanstandet: Weil ein hochrangiger Parteifunktionär im DFF nicht Dialekt sprechen sollte, wurde die Stimme Wenigs mit einem Schauspieler nachsynchronisiert.
Synchronisierte Lebenswelten
Im westdeutschen Fernsehen gibt es zwar auch einen edukativen Programmauftrag, aber weil sich das Fernsehen als Feierabendvergnügen etabliert, spart es gerade die Arbeitswelt weitgehend aus. Im Widerstreit zwischen Entspannungsmedium und Bildungsauftrag setzt sich die Programmidee der „Lebenshilfe“ durch.
In seinem alltäglichen Sendungsbewusstsein ist das Fernsehen Mitte der 1960er Jahre aber längst kein technisches oder kulturelles Experiment mehr, sondern ein omnipotenter Alltagsbegleiter. Die Interviewsendungen von Günter Gaus ermöglichen Begegnungen mit Politikern und Prominenten, ohne dass man sich aus dem Sessel erheben muss. Magazine wie Trollers "Pariser Journal" bringen etwas Savoir-vivre ins eigene Wohnzimmer. Nicht zu unterschätzen ist der Einfluss der neuen, die seit 1962 nicht mehr auf die dritten Programme beschränkt sind und insgesamt bis zu 20 Minuten je Tag und Sender betragen dürfen
Das neue Leitmedium lockt mit ausgesprochen zeitintensiven Formen und einer persönlichen Ansprache, die bei den Leuten ankommt. Das Fernsehen habe sich zum "Niedersitz der Massen" entwickelt, grantelt der Fernsehpublizist Egon Netenjakob in einer Kritik des Durbridge-Krimis "Melissa" (ARD/WDR 10.-14.1.1966).
Max Fechner (Mitte), Walter Ulbricht (links) und der Leiter der Sendereihe "Mit dem Herzen dabei" Hans-Georg Ponesky (rechts) im April 1966 auf der Bühne des Friedrichstadtpalast in Berlin (© Bundesarchiv, Bild 183-S93649, Foto: Illus Rudolph)
Max Fechner (Mitte), Walter Ulbricht (links) und der Leiter der Sendereihe "Mit dem Herzen dabei" Hans-Georg Ponesky (rechts) im April 1966 auf der Bühne des Friedrichstadtpalast in Berlin (© Bundesarchiv, Bild 183-S93649, Foto: Illus Rudolph)
Beim Deutschen Fernsehfunk setzt man alles daran, mit den Attraktionen des Westfernsehens mitzuhalten, ohne den eigenen sozialistischen Programmauftrag zu verraten. Einmal jährlich zum Jahrestag der Republik mobilisiert der Fernsehfunk die ganze Nation zur Beteiligung an der ganztägigen (!) Fernsehshow "Spiel mit!". In der Livesendung "Mit dem Herzen Dabei" werden verdiente Werktätige vor laufender Kamera mit telegenen Überraschungen geehrt. Beispielsweise wird eine Magdeburger Verkehrspolizistin an einer Kreuzung von tausend Autos buchstäblich umzingelt. Die Wünsche der Ausgezeichneten sind zum Teil mit geheimdienstlichen Methoden recherchiert: So sollen in der Wohnung eines Lokführers versteckte Mikrofone angebracht worden sein, um seinen Lebensrhythmus auszuspähen.
Aufbruch
"Was heute noch wie ein Märchen klingt, kann morgen Wirklichkeit sein. Hier ist ein Märchen von übermorgen: Es gibt keine Nationalstaaten mehr. Es gibt nur noch die Menschheit und ihre Kolonien im Weltraum." Mit diesem Intro startet im September 1966 eine Science-Fiction-Serie. Die Studiokulissen der "Raumpatrouille" (ARD 17.9.-10.12.1966) sind gespickt mit Geräten aus dem täglichen Bedarf wie Bügeleisen, Badezimmerarmaturen oder Bleistiftanspitzern. Das Fernsehen der kapitalistischen Gesellschaft hat nämlich nicht genug Produktionsmittel, um "Die Phantastischen Abenteuer des Raumschiffes Orion" technisch formvollendet auszustatten. Macht nichts! Die modernen Designs der Haushaltsgeräteindustrie müssen in der Not aushelfen. Noch fehlen dem Fernsehpublikum des Jahres 1966 die internationalen Vergleiche, das ZDF wird "Star Treck" (NBC 1966-69) erst sechs Jahre später als "Raumschiff Enterprise" ins Programm nehmen.
Erst einmal fiebern alle dem neuen Farbfernsehen entgegen, das im Rahmen der Deutschen Funkausstellung in Berlin im Sommer 1967 eingeführt werden soll. Den preiswertesten Farbfernseher bietet der Versandhandel an: Der Neckermann "Weitblick" kostet ‚nur‘ 1840 D-Mark. Mit der neuen PAL-Technik steht die Fernsehentwicklung wieder an einem Neuanfang. Der Theaterregisseur Peter Zadek wird eine Weile lang mit Farbe und Filtern experimentieren, in der Stuttgarter Dokumentarabteilung ist man in Sorge, dass das dokumentarische Drehen nun wieder beschwerlich werden könnte. Zum Staatsbesuch des Schahs von Persien wird Roman Brodmann am 2. Juni 1967 mit einer Schwarz-weiß-Kamera nach Westberlin fahren. Seine Bilder vom "Polizeistaatsbesuch" (ARD/SDR 26.7.1967) dokumentieren den Beginn der Studentenbewegung. Deren gesellschaftlicher Erneuerungswille wird im bundesdeutschen Fernsehen der 1970er Jahre Einzug halten und die Formensprache des Fernsehens von Grund auf verändern.
Auch der Fernsehfunk steht zu Beginn des neuen Jahrzehnts vor einem Paradigmenwechsel. Um "eine bestimmte Langeweile" (Erich Honecker 1971) im Fernsehen der DDR endlich zu überwinden, wird das Programm im Rahmen einer umfassenden Reform entideologisiert: Viele unterhaltende Fernsehformen wie "Ein Kessel Buntes" (DFF ab 29.01.1972 bis 19.12.1992) und "Außenseiter Spitzenreiter" (DFF ab 18.06.1972) oder "Polizeiruf 110" (DFF ab 27.6.1971) entfalten beim Publikum Bindungskräfte, die selbst die DDR überdauern werden. Das Fernsehen der DDR wird also in jeder Weise bunter. Die SECAM-Fernsehgeräte zeigen aber nur die DDR-Sendungen in Farbe, das Schaufenster in den Westen bleibt grau in grau.
Zitierweise: Klaudia Wick: Am Ende der Anfangsjahre - Deutsches Fernsehen in Ost und West zwischen Etablierung und Neuorientierung, in: Deutschland Archiv, 11.3.2016, Link: www.bpb.de/222312