Seit 2012 ziehen die fünf Flächenländer in Ostdeutschland mehr Menschen aus dem Westen oder dem Ausland an, als sie in die umgekehrte Richtung verlieren. Die Abwanderung scheint also ein Ende gefunden zu haben. Jedoch profitiert nur eine Minderheit der Gemeinden von dieser Trendwende, wie eine neue Studie des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung zeigt. Im Interview erläutern die Autoren Herangehensweise und Ergebnisse der Studie.
"Wir sollten uns freuen, dass es im Osten Deutschlands neben Berlin wieder attraktive Leuchttürme gibt." Die Autoren Theresa Damm und Manuel Slupina zu den Ergebnissen ihrer Studie "Im Osten auf Wanderschaft. Wie Umzüge die demografische Landkarte zwischen Rügen und Erzgebirge verändern"
/ 9 Minuten zu lesen
DA: Beschreiben Sie unseren Leserinnen und Lesern die zentralen Ergebnisse der Studie in fünf Sätzen.
Damm/Slupina: Die positive Nachricht ist, dass die ostdeutschen Bundesländer nach Jahren der Abwanderung wieder mehr Zu- als Fortzüge für sich verbuchen. Jedoch haben es nur rund 15 Prozent der ostdeutschen Gemeinden geschafft, zwischen 2008 und 2013 Wanderungsgewinne zu erzielen. Es sind vor allem die Großstädte, die bei Wanderungswilligen stark an Attraktivität gewonnen und den neuen Bundesländern zur Trendwende verholfen haben. Aus den meisten ländlichen Regionen ziehen die Menschen immer noch weg. Vor allem junge Menschen kehren auf der Suche nach einem Studienplatz, einer Ausbildung oder einem attraktiven Job ländlichen Regionen den Rücken und wandern in die Großstädte ab. Zunehmend verlassen aber auch ältere Menschen im Rentenalter die kleinen und entlegenen Dörfer. Sie zieht es dann häufig in das nächstgelegene Mittelzentrum, wo sie eine bessere Versorgung an Ärzten, Supermärkten oder kulturellen Angeboten vorfinden.
DA: Was war die Datengrundlage? Lag das Zahlenmaterial größtenteils vor, oder mussten Sie es neu erheben?
Damm/Slupina: Die Datenlage ist gut. Wir mussten keine zusätzlichen Erhebungen machen. Wir konnten die Bevölkerungs- und Wanderungszahlen der Statistischen Ämter des Bundes und der Länder verwenden. Jedoch lassen diese Zahlen keine Betrachtung über mehrere Jahre zu. Dafür mussten wir erst einmal alle erfolgten Gebietsänderungen einpflegen. Dies war ein erheblicher Aufwand, weil wir alle Eingemeindungen oder Zusammenschlüsse von Gemeinden rückwirkend in den Daten berücksichtigen mussten. Für die Analyse haben wir den Gemeinden zudem weitere Eigenschaften zugespielt – etwa ob sie zentral oder peripher gelegen sind oder welchen zentralörtlichen Status sie haben. Nur so lassen sich die verschiedenen Wanderungsmuster der unterschiedlichen Altersgruppen erkennen – und dies auf Grundlage von fast 2700 Gemeinden.
DA: Sie schreiben: "Die ‚blühenden Landschaften‘ des Ostens sind vielerorts Wirklichkeit geworden – allerdings überwiegend in den Städten." Was bedeutet das?
Damm/Slupina: Die blühenden Landschaften sind ein Sinnbild für einen erfolgreichen "Aufbau-Ost". An den Wanderungsbewegungen können wir nun erkennen, dass einige Regionen in den ostdeutschen Ländern als Wohnort stark an Attraktivität hinzugewonnen haben und nun auch Menschen aus dem Westen oder dem Ausland anziehen können. Im Osten Deutschlands sind das vor allem die Großstädte. Sie haben sich zu wichtigen Wachstumsinseln entwickelt. Für die ostdeutschen Bundesländer ist dies ein Glücksfall, da sich hier eine kritische Masse an innovativen Unternehmen, Forschungszentren und klugen Köpfen findet, die in einer zunehmend wissensintensiven Gesellschaft an Bedeutung gewinnen.
DA: Ist das nicht zu positiv?
Damm/Slupina: Seit der Wiedervereinigung hing "dem Osten" ein schlechtes Image an. Wer kann, der geht in den Westen – so hatte es lange den Anschein. Dass jetzt auch viele Studienanfänger aus den westdeutschen Bundesländern nach Leipzig, Dresden oder Jena gehen, ist ein Erfolg für diese Städte. Es stimmt allerdings, dass die Wanderungsgewinne der Städte auch auf Kosten des ländlichen Raums gehen. Die Kluft zwischen den wachsenden und schrumpfenden Regionen wird damit größer. Auf dem Land geraten zudem viele Versorgungsangebote und Infrastrukturen an die Grenzen ihrer Tragfähigkeit. Der öffentliche Nahverkehr wird zurückgefahren, Schulen schließen, Ärzte finden keine Nachfolger und immer mehr Häuser stehen leer. Das macht kleine, entlegene Gemeinden unattraktiv für Zuzügler. Hier bedarf es neuer, am Bedarf orientierter Versorgungsangebote, um einer möglichen Abwärtsspirale entgegenzuwirken.
DA: Die Beauftragte der Bundesregierung für die neuen Bundesländer Iris Gleicke sieht das als Ergebnis einer erfolgreichen Förderung. Was sind nach Ihrem Dafürhalten die Gründe?
Damm/Slupina: Viele Menschen zog es in den 1990er Jahren noch vor die Tore der Städte. Letztere litten noch unter den Jahrzehnten sozialistischer Stadtentwicklung, die um die historisch gewachsenen Innenstädte herum Plattenbauten hochgezogen hatte, während die alten Häuser verfielen. Als Wohnort waren sie damit kaum attraktiv. Die Städte verloren massiv an Einwohnern und lange dominierte das Schrumpfen die Stadtplanung. Mit Förderprogrammen wie etwa dem "Stadtumbau Ost" gelang es jedoch vielerorts, durch Abriss von leerstehenden Wohnungen und Aufwertung der Stadtkerne, Menschen in die Zentren zurückzulocken. Der Erfolg dieser Anstrengungen wird nun sichtbar. Städte wie Potsdam, Jena, Erfurt oder Leipzig sind sehr attraktiv geworden und haben längst wieder auf den Wachstumspfad zurückgefunden.
DA: Beim Lesen der Studie kommt einem der Gedanke, dass die Ergebnisse weniger spezifisch für die ostdeutschen Bundesländer sind, da der Befund eigentlich den bislang beobachteten Prozessen im Westen der Bundesrepublik gleicht. Wie beurteilen Sie das?
Damm/Slupina: Manche Trends und Ergebnisse sind sicherlich auf die westdeutschen Bundesländer übertragbar. Auch im Westen kämpfen einige ländliche Regionen mit Abwanderung und sinkenden Einwohnerzahlen – etwa im Norden Bayerns und Hessens, in der Südwestpfalz oder der Eifel. Daneben dürfte auch das typische Wanderungsverhalten der unterschiedlichen Altersgruppen in Ost wie West ähnlich sein. Es gibt jedoch auch einige Unterschiede: Die ostdeutschen Bundesländer sind deutlich dünner besiedelt und es gibt vergleichsweise wenige Großstädte, die im Vergleich zu Ballungsräumen im Westen über eine geringere Strahlkraft ins ländliche Umland verfügen. Dies führt dazu, dass außerhalb der Großstädte die Einwohnerzahlen im Osten fast flächendeckend sinken.
DA: Die klaren Verlierer sind kleine Dörfer. Wie wäre es zu bewerten, wenn kleine Dörfer aufgegeben werden müssen? Worin besteht aus gesamtdeutscher Sicht der Verlust? Gilt es, das unbedingt zu verhindern, oder kann das auch akzeptiert werden?
Damm/Slupina: Aus vielen kleinen und entlegenen Dörfern ziehen vor allem jüngere Menschen weg. Sie kommen nach dem Studium oder der Ausbildung mehrheitlich nicht in ihre ländliche Heimat zurück und fehlen damit auch als potenzielle Familiengründer. Wir können zwar die künftigen Wanderungsmuster nicht vorhersehen, aber dass die Menschen plötzlich wieder in entlegene Regionen ziehen und dort viele Kinder geboren werden, ist aus heutiger Sicht unwahrscheinlich. Ob nun einige Dörfer leerlaufen und welche das sein dürften, lässt sich aus heutiger Sicht nicht sagen. Es ist aber gut möglich. Ganze Regionen dürfte dieses Schicksal jedoch nicht ereilen. Denn auch in einem schrumpfenden Umfeld gibt es eine Reihe von demografisch stabilen Orten. Wichtig ist, dass jene Dörfer gestärkt werden, die gute Zukunftsaussichten haben.
DA: In der Studie gehen Sie auch auf den großen Wanderungsverlust der neuen Länder in den 1990er Jahren ein und sprechen von der „halbierten Generation“, die nun ins Familiengründungsalter übergeht. Sind die Folgen dieser Verluste eigentlich realistisch einzuschätzen?
Damm/Slupina: Nicht nur die Wanderungsverluste Anfang der 1990er Jahre haben zu der halbierten Generation geführt, sondern auch der massive Geburteneinbruch in den 1990er Jahren. Aus der Statistik lässt sich heute genau die Zahl der Menschen im Familiengründungsalter ablesen. Auch wie viele Kinder sie im Schnitt bekommen, ist bekannt. Derzeit liegt die durchschnittliche Kinderzahl pro Frau in den östlichen Bundesländern bei rund 1,5 – und damit deutlich unter dem bestandserhaltenden Niveau von 2,1. Somit lässt sich die Bevölkerungszahl nur mit Zuwanderung aus dem Westen oder dem Ausland stabil halten.
DA: In ihren Empfehlungen fordern Sie die Verantwortlichen in Politik und Verwaltung auf, die Umzugsentscheidungen von Menschen zu akzeptieren. Das ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Wieso haben Sie das in den Empfehlungen betont, und wo sehen Sie hier Defizite?
Damm/Slupina: Wir werden immer wieder gefragt, ob und wie die Politik dem Bevölkerungsschwund in den Dörfern gegensteuern kann – etwa mit verstärkten Investitionen die Menschen wieder aus den Städten aufs Land zu locken. Wir glauben jedoch, dass dies kaum gelingen kann. Denn zum einen zeigt sich in nahezu allen westlichen Industrieländern der Trend zum Leben und Arbeiten in Großstädten. Dies hat vielfältige Gründe wie etwa die steigende Bildung der Menschen oder der Strukturwandel hin zur Wissens- und Dienstleistungsgesellschaft. Nun profitieren auch einige Großstädte im Osten von dieser Entwicklung und werden zu Wachstumsmotoren. Zum anderen würde eine Politik, die versucht, die Wanderungsströme umzukehren, die Erfolge der jahrelangen Städtebauförderung verwässern. Das wäre ja absurd.
DA: Sie fordern am Ende mehr Freiraum für ländliche Regionen, neue Pflegenetzwerke und Mobilitätskonzepte zu entwickeln. Wie kann so etwas genau aussehen?
Damm/Slupina: Viele ältere Menschen würden ihren Lebensabend gerne in ihren eigenen vier Wänden verbringen. Dies ist jedoch nur möglich, wenn vor Ort die entsprechenden Angebote vorhanden sind. Kommunen sollten sich daher für generationenübergreifende und kleinräumige Netzwerke aus Angehörigen, Nachbarn, bürgerschaftlich Engagierten und professionellen Dienstleistern einsetzen. Auch Informationen darüber, wie sich die eigene Wohnung oder das eigene Haus altersgerecht umbauen lassen, können älteren Menschen das Leben erleichtern.
Viele herkömmliche Versorgungsangebote ziehen sich aus kleineren, ländlichen Gemeinden zurück, weil sie finanziell nicht mehr zu tragen sind. Dass sie wieder zurückkehren, ist aufgrund der absehbar weiter sinkenden Einwohnerzahlen nicht zu erwarten. Deshalb müssen neue Angebotsformen zum Einsatz kommen. Mobilitätsketten aus Linienbussen, Warentransporten, E-Bikes oder in den Nahverkehr eingebundene Privat-PKW können einer fortlaufenden Ausdünnung der Versorgung ebenso entgegenwirken wie mobile und temporäre ärztliche Angebote und multifunktionale Dorfläden. Damit diese innovativen Konzepte Realität werden, bedarf es häufig der Unterstützung und Mitarbeit der lokalen Bevölkerung. Länder und Gemeinden sollten über die vielfältigen Möglichkeiten unkonventioneller Alternativen aufklären und die Menschen dazu ermutigen, sich für ihr Lebensumfeld einzusetzen.
DA: Sie empfehlen, Flüchtlinge als neue Landbewohner zu gewinnen, da Sie eine Integration dort prinzipiell für einfacher halten als im anonymen städtischen Umfeld. Weiter fordern Sie Unterstützung für die Gemeinden, die sich gezielt um Flüchtlinge als neue Mitbürger bemühen. Gibt es solche Musterbeispiele tatsächlich? Geht diese Empfehlung angesichts großer Vorbehalte gegen Flüchtlinge in solchen kleineren Orten in der Fläche nicht an der Realität vorbei?
Damm/Slupina: Natürlich kann es nur in Gemeinden funktionieren, in denen sich Bürgerinnen und Bürger finden, die offen sind für neue Begegnungen und die neuen Mitbürger willkommen heißen. Nur dann können Dörfer und kleine Gemeinden mehr als eine kurzfristige Durchgangsstation für Flüchtlinge werden. Ein Erfolg wäre es schon, wenn es gelingt, zwei oder drei Familien zum Bleiben zu bewegen. In unseren Gesprächen mit den Bürgermeistern zeigte sich, dass einige von ihnen diese Chance zur Milderung ihrer demografischen Probleme erkannt haben. Ob es ihnen gelingt, zeigt sich jedoch erst in einigen Monaten.
DA: Was sind Ihre ganz persönlichen Schlussfolgerungen aus der Studie?
Damm/Slupina: Wir sollten uns freuen, dass es im Osten Deutschlands neben Berlin wieder attraktive Leuchttürme gibt. Die neuen Bundesländer brauchen diese Anziehungspunkte, wo die Menschen gerne leben, gute Jobs finden und Familien gründen. Dass dies nicht flächendeckend gilt, ist Teil eines Strukturwandels, der auch im Westen stattfindet. Die Fläche muss ja nicht dauerhaft und überall besiedelt sein. Ohnehin ist eine alternde Gesellschaft in Städten besser aufgehoben.
Fragen: Dr. Clemens Maier-Wolthausen
Zitierweise: "Wir sollten uns freuen, dass es im Osten Deutschlands neben Berlin wieder attraktive Leuchttürme gibt.", Interview mit Theresa Damm und Manuel Slupina zu den Ergebnissen ihrer Studie "Im Osten auf Wanderschaft. Wie Umzüge die demografische Landkarte zwischen Rügen und Erzgebirge verändern", in: Deutschland Archiv, 26.2.2016, Link: http://www.bpb.de/222027.
Geb. 1990, Master of Science in Public Policy and Human Development an der Maastricht Graduate School of Governance. Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung.
Geb. 1979, Diplom in Volkswirtschaftslehre an der Universität zu Köln. Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung.