In der Schlussphase des Kalten Krieges, als Moskau der direkte Zugriff auf die Sozialistische Staatengemeinschaft bereits entgleitet, treibt ein Bürgerkrieg im sozialistischen Südjemen Tausende von Ausländern an den Strand von Aden. In einer blockübergreifenden Gemeinschaftsaktion werden sie von einem halben Dutzend Schiffen aus Ost und West gerettet. Erstmals in der Geschichte der Seeevakuierungen nach 1945 ist auch ein DDR-Frachter dabei, die MS "Müggelsee" aus Rostock. Fast dreißig Jahre später öffnet das Politische Archiv des Auswärtigen Amtes die Akten, sprechen die damaligen Geschäftsträger aus Bonn und Ostberlin und erinnert der Kapitän im Ruhestand an das damalige Geschehen.
Aden 1986: Die vergessene Evakuierung. Ein Beitrag zur Krisendiplomatie beider deutscher Staaten und zur Geschichte der DDR-Handelsmarine
/ 20 Minuten zu lesen
I. Putsch und Bürgerkrieg
Am 13. Januar 1986 soll in Aden, Hauptstadt der moskautreuen Volksdemokratischen Republik Jemen (VDRJ), das Politbüro des Zentralkomitees der Jemenitischen Sozialistischen Partei (JSP) zusammentreten. Auf der Tagesordnung stehen nur Routinefragen. Anstatt des Vorsitzenden, Staatspräsidenten und Generalsekretärs der JSP, Ali Nasir Mohammed al-Hassani, erscheinen jedoch dessen Leibwächter und feuern in den Raum. Nach einem wilden Schusswechsel sterben Vizepräsident Ali Antar sowie drei weitere Mitglieder des Politbüros.
Tausende von Ausländern geraten gefährlich zwischen die Fronten: Berater und Experten aus der Sowjetunion und den Staaten des Ostblocks, Geschäftsleute aus der arabischen Welt, Arbeiter aus China, Indien, Pakistan und anderen asiatischen Staaten sowie etwa dreihundert Westeuropäer, die als Firmenvertreter oder in der Entwicklungshilfe tätig sind. Sie müssen sich in ihren Hotels, Camps oder Compounds in Sicherheit bringen. Selbst die Botschaften vor Ort, einerlei ob Ost oder West, werden beschossen. Die sowjetische, etwas abseits am Rande von Khormaksar, dem Stadtteil, in dem auch der Internationale Flughafen liegt, erhält drei Volltreffer aus Panzern. Ein Schuss ist direkt auf das Büro des Botschafters gerichtet und unterstreicht damit, dass die Sowjetunion keinesfalls mehr unangefochtene Schutzmacht ist. Die Botschaft der Bundesrepublik gerät zwanzig Minuten unter Dauerbeschuss. An der Botschaft der DDR wird das Dienstzimmer des Botschafters gezielt beschossen. Nach gut zehntägigem Kampf gibt es viele Tausend Tote und überall schwere Sachschäden. Ali Nasir kann sich jedoch nicht behaupten. Mit seinen Anhängern muss er schließlich über die Grenze in den Nordjemen nach Sanaa flüchten. Am 24. Januar, als der Bürgerkrieg endlich ausgekämpft ist, wird Ali Nasir offiziell abgesetzt und vom bisherigen Premierminister, Haidar Abu Bakr al-Attas, der während des Putsches zu einem offiziellen Besuch in New Delhi weilte, als Präsident abgelöst.
Für die Ausländer bleibt die Lage viele Tage lang unübersichtlich und im Freien lebensgefährlich. Die Sowjetunion, die nach der Unabhängigkeit des Landes im Jahre 1967 die frühere Rolle Großbritanniens als Schutzmacht übernommen hat, bemüht sich zwar, die auch für sie überraschende Entwicklung zu kontrollieren und ruft die kämpfenden Fraktionen immer wieder zur Mäßigung auf. Jedoch ohne Erfolg.
II. Die erste Rettung
Am 14. Januar 1986, mitten im Roten Meer, erhält Andreas Neuendorf, Kapitän des DDR-Frachters MS "Müggelsee", die Nachricht, dass in seinem Zielhafen Aden, Hauptstadt der VDRJ, Unruhen ausgebrochen seien. Einen Tag später instruiert ihn seine Reederei, die Deutsche Seereederei Rostock (DSR), das Schiff und die Mannschaft auf eine noch unbekannte kritische Lage im Jemen vorzubereiten, nach Erreichen der Reede vor Aden genauere Lageberichte zu senden, sich im Übrigen aber aus innerjemenitischen Machtkämpfen herauszuhalten.
Am frühen Morgen des 17. Januar erreicht die "Müggelsee" die Außenreede vor Aden. Kontaktversuche zum Lotsen oder zur Hafenverwaltung scheitern. Bei Tagesanbruch nähern sich jedoch kleinere Boote, vor allem Schlepper und Barkassen, deren Besatzungen sich als Angehörige der Hafenverwaltung zu erkennen geben. Bereits seit drei Tagen seien sie auf dem Wasser. Sie berichten schreckliche Dinge über Massaker und Hinrichtungen und bitten um Trinkwasser und Proviant. Die Mannschaft der "Müggelsee" reicht Wasser, Milch, Zucker und Brot hinüber.
Als die Boote wieder abgedreht haben, steuert der Kapitän sein Schiff so dicht wie möglich an der Felsküste entlang zur Bucht und zum Strand von Khormaksar. Hinter der Bucht liegt dicker Qualm, offenbar aus brennenden Öltanks. Auf der Küstenstraße und am Leuchtturm beobachtet die Mannschaft Jeeps, die mit leblosen Körpern gefüllt sind. Sobald das Kap umrundet und die Bucht deutlich in Sicht ist, erkennt der Kapitän durch sein Fernrohr hilflose Menschen am Strand. Er realisiert, dass sie weder weiter vorwärts ins Meer waten noch an den Strand zurückkehren können. "Im Meer wären sie ertrunken, am Strand von den Hügeln her beschossen worden", erinnert er sich.
Kapitän Neuendorf will helfen, steckt jedoch in einem Dilemma. Er hat weder eine Genehmigung der DSR noch jemenitischer Stellen, in die Küstengewässer einzufahren. Wiederholte Versuche des Funkers scheitern, mit der Botschaft der DDR in Aden Kontakt aufzunehmen. Er muss weiter auf der Reede warten. Am Nachmittag beobachtet er aufgeregtes Treiben auf den Strandstraßen. Er ahnt, dass eine Evakuierung vorbereitet wird. Als sich ein in Sichtweite befindliches sowjetisches RoRo-Schiff
Das war kühn. Im kollektiven System der DDR war es in Krisen nicht sinnvoll, selbständig Verantwortung zu übernehmen. Misslang eigenverantwortliches Handeln oder fand es keine Billigung, fiel es auf den zurück, der sich engagiert hatte. War es erfolgreich, kam der Nutzen Partei und Regierung zugute, nicht dem Einzelnen. Wozu also ein Risiko eingehen? Ohne Weisung tat man am besten nichts, und konnte dann auch nichts falsch machen.
Zunächst sucht er einen Ankerplatz nah an der Küste. Dort wird sein Schiff von der Küstenstraße her jedoch von Panzern so stark unter Feuer genommen, dass er wieder abdrehen muss. Er wendet sich daher weiter nach Westen und kann sich schließlich zwischen der "Skulptur Klupkina" und der britischen Königlichen Yacht HMY "Britannia" an der Rettung von Flüchtlingen beteiligen. Noch während der Anker der „Müggelsee“ Halt sucht, legt sich bereits ein Rettungsboot des sowjetischen RoRo-Schiffes an ihre Seite. Über die steile Backbord-Gangway gelangen deren Insassen an Bord, Angehörige der DDR-Botschaft, hauptsächlich Frauen und Kinder, angeführt von Irene Krauße, der Ehefrau des Geschäftsträgers. Sie berichtet, dass in Aden geputscht würde, die Ausländer sich in sichere Häuser hätten flüchten müssen, aber während eines Waffenstillstands, der nach drei Tagen von der Sowjetunion und der örtlichen Vertretung der Vereinten Nationen ausgehandelt worden sei, an den Strand gehen konnten, um sich evakuieren zu lassen. Sowjetische Marinesoldaten hätten sie in Rettungsbooten, die sie am Strand abgeholt hätten, zunächst auf die "Skulptur Klupkina" und von dort auf die "Müggelsee" gebracht. Sobald die "Müggelsee" fest vor Anker liegt, kann sie ihre eigenen zwei Rettungsboote in Marsch setzen. Direkt aus dem Meer nehmen sie Flüchtlinge in die Motorboote und verbringen sie längsseits an ihr Mutterschiff.
Am frühen Morgen des folgenden Tages kann der Kapitän endlich per Funktelefon mit der Chefinspektion der DSR Kontakt aufnehmen und sie über den bisherigen Verlauf der Evakuierung informieren. Die Reederei bestätigt den Empfang seines Berichtes, doch bleibt für den Kapitän offen, ob damit auch seine Teilnahme an der Evakuierung gebilligt sei. Von dieser Ungewissheit bleibt sein weiteres Handeln während der gesamten ersten Evakuierung bestimmt. Auch ohne explizite Weisung nimmt er die Rettung sofort wieder auf und fährt nochmals an den Strand zurück. Dort findet er jedoch keine weiteren Flüchtlinge mehr. Wir hätten sie auch kaum noch aufnehmen können, erinnert er sich, denn die bereits geretteten 126 Personen mussten, zusätzlich zu den regulären Besatzungsmitgliedern, versorgt, verpflegt und in einem Schiff untergebracht werden, das nur für 35 Personen ausgelegt war.
Am frühen Sonntagmorgen, dem 19. Januar, gegen 1:00 Uhr, läuft die Müggelsee in den Hafen von Dschibuti ein. Die Geretteten werden von Mitarbeitern des Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten (MfAA), die aus Berlin angereist sind, empfangen, betreut und zum Flughafen gefahren. Eine Sondermaschine der Interflug bringt sie direkt nach Schönefeld. Noch am selben Abend, so verzeichnet es der Lagebericht des MfAA, landen 110 DDR-Bürger, "überwiegend Frauen und Kinder" in Schönefeld. Weitere 18 DDR-Bürger, die auf anderen Schiffen gerettet wurden, treffen am folgenden Montagvormittag von Moskau aus in Ostberlin ein.
III. Die zweite Rettung
Noch aber harren weitere Ausländer, unter ihnen Deutsche aus beiden Staaten, im Inneren Südjemens aus. Kapitän Neuendorf nimmt unbürokratisch wichtige Notfallutensilien an Bord und überquert erneut den Bab el-Mandeb, um ein zweites Mal zu helfen. Offenbar weil diese zweite Aktion ausdrücklich unter dem Schutz des United Nations Development Program (UNDP) steht, der örtlichen Repräsentanz der Vereinten Nationen in Aden, erhält er jetzt auch eine offizielle Weisung der DSR, an der Evakuierung mitzuwirken. Er soll den Bewegungen der sowjetischen Schiffe folgen und an deren Aktionen teilnehmen. Diese Weisung wird konkretisiert, als er plötzlich vom Funker der DDR-Botschaft angerufen wird. Von jetzt ab kann er all seine Aktionen mit der Botschaft koordinieren. Aufgrund einer offiziellen Bitte des Auswärtigen Amtes (AA) in Bonn an das Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten (MfAA) in Berlin beauftragt seine Botschaft ihn ausdrücklich, auch den westdeutschen Bürgern zu helfen, die noch nicht evakuiert werden konnten. Drei Vertreter einer Hamburger Brauerei finden sich daher in der Botschaft der DDR ein, um gemeinsam mit Staatsangehörigen der DDR, die ebenfalls noch nicht gerettet werden konnten, außer Landes gebracht zu werden. Das MfAA teilt der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik in Ostberlin mit, dass die drei Westdeutschen mit der "Müggelsee" evakuiert würden.
Auch die zweite Evakuierung kann jedoch nicht im Hafen von Aden durchgeführt werden. Im Einvernehmen mit dem Botschafter der UdSSR beschließt der Geschäftsträger der DDR, Werner Krauße, "kein unnötiges Risiko einzugehen", wie es im Lagebericht des MfAA am Morgen des 22. Januar heißt. Er lässt das Ministerium wissen, die noch im Lande verbliebenen DDR-Bürger seien "in ihren Konzentrierungsräumen sicher untergebracht und gut versorgt [...] Eine Nutzung des Hafengebietes oder von Schleppern und Booten aus dem Hafen ist nicht möglich."
Erst am Mittwochnachmittag hat sich die Lage so weit stabilisiert, dass zumindest vor Little Aden wieder Evakuierungen durchgeführt werden können. Sie gelingen ohne größere Probleme, da das Wetter gut und die See ruhig ist. Die Botschaft der DDR fährt die Ausländer in ihrer Obhut, darunter die drei Westdeutschen, sicher an den Küstenabschnitt, vor dem die "Müggelsee" wartet. Wieder laufen deren Rettungsboote aus. Unter dem Schutz des UNDP gelangt ein Großteil der noch in Aden verbliebenen evakuierungswilligen Ausländer sicher an Bord.
Doch ist die zweite Aktion noch nicht beendet. Per Funk bittet der Geschäftsträger der DDR, weitere Flüchtlinge aus dem benachbarten Gouvernement Abyan abzuholen. Durch die Kampfhandlungen seien sie dort eingeschlossen. Als eines der letzten Evakuierungsschiffe muss die "Müggelsee" daher noch am selben Abend weiter ostwärts an den Küstenabschnitt vor Al Kud fahren, um auch dort Menschen an Bord zu nehmen. Am nächsten Morgen beginnt sie sofort mit den Rettungsmaßnahmen.
Diese sind seemännisch weit schwieriger als in Little Aden. Die Rettungsboote können nicht bis an den Strand heranfahren, da eine Sandbank den Zugang blockiert. Das von der "Müggelsee" ausgesandte Boot bleibt vor der Sandbank liegen, und die Flüchtlinge müssen sich anhand eines Seils zum Rettungsboot tasten. Dort warten Mitglieder einer FDJ-Jugendbrigade, die im Landesinneren tätig war und jetzt ebenfalls auf ihre Evakuierung wartet, um sie in das Boot zu heben. Allmählich kommt die Flut und das Wasser steigt, doch nach einer guten Stunde ist auch diese vielleicht schwierigste Etappe des ganzen Rettungswerks vollbracht. Vierundzwanzig weitere Personen gelangen sicher in das Rettungsboot und werden über das raue Meer auf das rettende Schiff draußen auf der Reede gefahren. Alle Ausländer, die das Land verlassen wollen, sind gerettet. Die "Müggelsee" kann mit voller Kraft erneut nach Dschibuti auslaufen. In ihrer Mitteilung zur Lage am Mittag des folgenden Tages stellt das MfAA akribisch fest: "Der MS ´Müggelsee` gelang es, 74 DDR-Bürger, und ca. 70 Bürger anderer Staaten (CSSR, BRD, Pakistan, Jordanien, Syrien, Sri Lanka, Indien, Algerien und Irak) zu übernehmen."
Rätselhaft bleibt Kapitän Neuendorf allerdings die nur zu erahnende Präsenz eines zweiten Schiffes. Wie ein Schatten folgt es allen Bewegungen der "Müggelsee". Der Kapitän vermutet ein Kriegsschiff als geheimen "Beschatter", wie er im Kalten Krieg zur diskreten Überwachung fremder Schiffe nicht unüblich war. Nach Abschluss der Evakuierung beschließt er, dem Phänomen auf den Grund zu gehen. Mit voller Fahrt hält er auf das Echo zu. Von der Brücke ist schemenhaft ein Schiff zu erkennen, das gestoppt vor ihm liegt. Der Kapitän identifiziert es als ein zweites Handelsschiff der DSR, die MS "Sangerhausen". "Seltsam" findet Kapitän Neuendorf heute seine Begegnung mit diesem DDR-Schiff, das sich ihm niemals zu erkennen gab. "Sie war typisch für die damalige Zeit, als es noch keine so umfassende Aufklärung wie heute gab", kommentiert er.
Einen gespenstisch-gestrigen Auftritt hat auch einer der Geretteten, einer der im Jemen tätigen DDR-Professoren. Kaum hat sich Kapitän Neuendorf seinen Gästen im Sportraum des Frachters vorgestellt, erhebt sich der Professor, um den Genossen Kapitän daran zu erinnern, dass auch "Bürger aus dem NSW an Bord" seien, im Klartext: Deutsche aus dem "Nicht-Sozialistischen Wirtschaftsgebiet". Von denen möchte er sich distanzieren. Kapitän Neuendorf reagiert kühl. Er weiß, dass viele DDR-Bürger an Bord offiziell zur Berichterstattung über Westkontakte verpflichtet sind. In einem ruhigen Moment begibt er sich zu den drei Westdeutschen und versichert sie seiner Gastfreundschaft. Heute lässt er seiner Empörung freien Lauf. Kaum habe seine Mannschaft Flüchtlinge ohne Ansehen der Person gerettet, meldete sich schon ein Denunziant, der sie nach Ost und West trennen wollte. Zum Glück sei der Professor aber der einzige gewesen, der sich über "Nicht-Sozialisten" an Bord beklagte. Alle anderen, so versichert der Kapitän, hatten völlig freien Umgang miteinander und haben sich gemeinsam über ihre Rettung gefreut.
Kurz nach Mitternacht des 24. Januar läuft die "Müggelsee" erneut in das afrikanische Dschibuti ein. Um 2:30 Uhr sind die DDR-Bürger und die für Berlin bestimmten Passagiere als erste abgefertigt und wieder auf festem Boden. Sie besteigen sofort eine Sondermaschine der Interflug und sind bereits gegen 6:00 Uhr desselben Tages wieder in Ostberlin. "Einhundert DDR-Bürger, darunter sieben Kinder", "24 Bürger der CSSR und drei BRD-Bürger", listet das MfAA auf, landen sicher in Schönefeld.
Im Endergebnis bleibt der DDR eine makellose Bilanz der ganzen Aktion. Alle, die evakuiert werden mussten, kommen sicher wieder in Ostberlin an. Die Botschaft der DDR kann landseitig auf einen gelungenen Beitrag zur Rettung ihrer Bürger, dreier Westdeutscher und zahlreicher Ausländer, die "Müggelsee" seeseitig auf einen erfolgreichen nautischen Einsatz zurückblicken. In zweimaligem Pendelverkehr zwischen Aden und Dschibuti hat sie über 300 Menschen gerettet und der DDR-Handelsmarine in unübersichtlicher und gefährlicher Situation den Dank vieler Flüchtlinge eingebracht.
IV. Ein gemischter Empfang
Mitte März, zweieinhalb Monate nach ihrem Auslaufen, erreicht die "Müggelsee" wieder ihren Heimathafen. Der Empfang in Rostock ist allerdings seltsam gemischt. Zunächst erfüllt mit Stolz auf die "Helden von Aden" – schon am Tag nach ihrem Eintreffen werden der Kapitän, die Offiziere und die Mannschaft mit offiziellen Ehrungen bedacht. Noch an Bord werden alle Besatzungsmitglieder im Auftrag des Ministers für Verkehrswesen der DDR, Otto Arndt, ausgezeichnet. Für ihre "außerordentliche Einsatzbereitschaft" erhalten die Offiziere vom ersten Stellvertreter des Generaldirektors, Günther Zierrat, Verdienstmedaillen der Seeverkehrswirtschaft. Kapitän Neuendorf erhält die Auszeichnung in Gold, der Erste Offizier und der Leitende Ingenieur erhalten sie in Silber, die weiteren Offiziere und andere führende Besatzungsmitglieder in Bronze. Die Mitglieder der Deck- und der Maschinencrew werden als "Aktivisten der sozialistischen Arbeit" geehrt oder mit der "Artur-Becker-Medaille" in Silber ausgezeichnet. In VOLL VORAUS, dem "Organ der Kreisleitung der SED Seeverkehr und Hafenwirtschaft für die Handelsflotte der DDR" vom 31. März 1986, werden sie in Wort und Bild als Vorbilder herausgestellt. "Alle Besatzungsmitglieder haben durch ihr bewusstes Auftreten als Bürger unseres Staates das politische Ansehen der DDR im Ausland gestärkt", lobt Zierrat und unterstreicht, "dass proletarischer Internationalismus und aktive Solidarität wesentliche Eigenschaften der Seeleute unserer Handelsflotte sind."
Deutlich geben Reederei und Staatssicherheit dem Kapitän zu verstehen, dass auch in seiner Person Gründe lägen, die eine triumphale Heimkehr nicht rechtfertigten. Dreißig Jahre später spricht Neuendorf diese Gründe offen an. Er beklagt, wie die DDR in ihren letzten Jahren den Druck auf Seeleute verstärkte, wie die Staatssicherheit ihn bedrängte und schließlich bestrafte, als er an ihn gerichtete Forderungen zurückwies.
Zu diesen Forderungen gehörte vor allem das Ansinnen, aktiv für die Dienste der Staatssicherheit zu arbeiten. Für das Privileg, weiter ins Ausland reisen zu dürfen, soll er sich offiziell als Informeller Mitarbeiter (IM) verpflichten. Als Angehöriger der Funktionselite der DDR hätte er Staat und Partei auch politisch zu dienen. Neu für ihn waren diese Zumutungen nicht. Schon vor seiner Ausreise Weihnachten 1985 war er den Nachstellungen der Staatssicherheit ausgesetzt. Zwar mussten Kapitäne, da sie auch in das westliche Ausland reisen durften, von jeher für besondere politische Zuverlässigkeit bürgen und daher auch Parteigenossen werden, nicht jedoch IM. Eine "freiwillige" Bereitschaftserklärung als IM sollte Kapitän Neuendorf jedoch schon als Stammkapitän der MS "Hettstedt" unterschreiben, einem Containerschiff der Neptunklasse, das er seit Anfang 1985 führte. Er weigerte sich und wurde daher Ende des Jahres "abgelöst" und auf die "Müggelsee" mehr verbannt als versetzt. Zur Weihnachtszeit 1985 bestand deren Mannschaft zu achtzig Prozent aus solchen "Ablösern". „Mir wurde bedeutet“, erinnert sich der Kapitän, „diese Fahrt sei eine letzte Chance. Wenn ich nicht bald eine IM-Bereitschaftserklärung unterzeichne, würde ich nicht mehr zur See fahren können.“
Diese Drohung war Neuendorf bei seinem Handeln vor Aden stets bewusst. Sein Gewissen hatte ihn jedoch bewogen, auch ohne Weisung an der Evakuierung teilzunehmen. Ob er damit "politisch korrekt" gehandelt hatte, blieb offen. Nach seiner Rückkehr nach Rostock wird er zwar zunächst für sein seemännisches Handeln geehrt, doch wird ihm zugleich die Erwartung, sich endlich auch politisch zu "bewähren", deutlich in Erinnerung gerufen. Er bemerkt, dass die Staatssicherheit einen doppelten Kurs fährt. Zunächst hofft sie, ihn mit staatlichen Ehrungen für sich zu gewinnen. "Du kannst groß herauskommen", bedeuten ihm hohe Offiziere, "wenn Du jetzt unterzeichnest". Als er dies verweigert, schützt ihn eine Zeit lang sein zumindest in Seefahrtkreisen verbreiteter Nimbus als "Held von Aden", doch bald ist die Schonzeit vorbei. Die Staatssicherheit verfolgt eine immer härtere Linie und wird mit ihrem Drängen immer direkter. Die ideologische Lockerung, die Gorbatschow mit seiner Politik der Perestroika eingeleitet hat, vollzieht die DDR nicht mit. Als Kapitän Neuendorf definitiv nein sagt, mit der Staatssicherheit zusammenzuarbeiten, treten die absehbaren Folgen ein: er darf nicht mehr zur See fahren, muss eine Arbeit an Land annehmen, seine Kinder dürfen nicht studieren. Bis zum Fall der Mauer steht er im staatsbürgerlichen Aus.
Wie der Kapitän wird die gesamte Aktion vor Aden mit Vergessen bestraft. Mit einem Einsatz ihrer Handelsmarine, der zwar seemännisch erfolgreich, aber letztlich Folge einer politischen Niederlage ist, und mit Seeleuten, die zwar beruflich ihr Bestes geben, sich aber der Mitarbeit bei der Staatssicherheit entziehen, will die DDR nicht werben. Eine Handelsmarine, die dem proletarischen Internationalismus dienen soll, aber mit einem Kapitän, der sich nicht freiwillig der Staatssicherheit verschreibt, das passt nicht zusammen. Als Episode, die keiner offiziellen Erinnerung wert ist, liegt der Einsatz der "Müggelsee" daher bis heute in den Archiven der DSR und der Staatssicherheit.
V. Was bleibt
Der Bürgerkrieg, der die Seeevakuierung vom Januar 1986 auslöste, ist heute vergessen. Das gilt für die westliche Welt, für die der Jemen ohnehin ein gescheiterter Staat mit bis heute andauernden Unruhen ist, für das sozialistische Lager, das nicht mehr besteht, wie für den Jemen selbst. Für die kommunistische Staatenwelt blieb der jemenitische Bürgerkrieg ein eigentlich systemwidriger Betriebsunfall im Sozialismus. Sie ignorierte ihn und zog es vor, ihn mit einem "business as usual" zu überdecken, statt politische Konsequenzen zu ziehen. Innerhalb der sozialistischen Staatengemeinschaft tat sich gerade die DDR besonders schwer, sich der neuen Lage anzupassen. Trotz der Wünsche der nach wie vor sozialistischen neuen jemenitischen Regierung und der Ermunterung der Sowjetunion, die Kooperation mit dem Südjemen fortzusetzen, kehren das evakuierte Botschaftspersonal und die Baustellenkader erst Wochen, nachdem sich das Leben in Aden normalisiert hat, und die neue jemenitische Führung fest im Sattel sitzt, in den Jemen zurück. Sie bleiben professionell bemüht, so weiter zu machen wie vorher, doch ist die politische Situation nach dem Putsch deutlich verändert. Miriam Müller, die den Export des ostdeutschen Marxismus in den Jemen in all seinen Phasen detailliert untersucht hat, spricht nach 1986 von einer "Eiszeit" der Beziehungen zwischen früher "besten Freunden".
Über den "Stand der Aufarbeitung der Ereignisse vom Januar 1986" berichtet die Botschaft der DDR ein letztes Mal am 8. Februar 1990. Zum vierten Jahrestag des Putsches stellt sie "ein neues, sachliches und emotionsfreies Herangehen" an den Bürgerkrieg fest. Faktoren dafür seien unter anderem die "Forcierung des Einheitsprozesses beider Jemen ab Ende 1989", eine öffentliche Diskussion über die "Gleichbehandlung aller Märtyrerfamilien" sowie über Reformen und Demokratisierung in der VDRJ. Letztes Tüpfelchen sei der Anfang Januar 1990 verkündete Rückzug des ehemaligen Staatspräsidenten aus der politischen Arena gewesen.
Mit heutigen Augen liest sich dieser Bericht der Botschaft an das MfAA, drei Monate nach dem Fall der Mauer und wenige Monate vor dem Ende der DDR, wie ein Widerhall der DDR-internen Diskussion vor der deutschen Vereinigung. Nicht rein zufällig sind 1990 sowohl der Norden und der Süden des Jemen wie der Westen und der Osten Deutschlands zu neuen Staaten gefügt worden. Der Niedergang des Kommunismus steht hinter beiden Entwicklungen. Allerdings ist der Jemen bis heute ein stets vom Zerfall bedrohter, gewalttätiger Staat und Trainingsort von Terroristen geblieben.
Auch die Evakuierung vom Januar 1986 ist heute praktisch vergessen. Die Hochschule für Seefahrt Warnemünde/Wustrow, an der die DDR bis 1990 ihre zivilen Schiffsoffiziere ausbildete, hat den Ablauf der Rettungsaktion nie ausgewertet. Sie war "keine sozialistische Tat", kommentiert Kapitän Neuendorf dieses Versäumnis. Doch ist die Aktion vor Aden eine der größten nautischen Taten nach dem Zweiten Weltkrieg und vielleicht die einzige internationale Seeevakuierung, an der ein deutsches Schiff beteiligt war. Dreißig Jahre danach verdient das Ereignis daher durchaus, wieder in das öffentliche Bewusstsein gehoben zu werden. Am Ende des Kalten Krieges und am Beginn der von Präsident Gorbatschow repräsentierten letzten Phase der Entspannung, demonstriert es ein neues Zusammenwirken von Ost und West, von den drei Globalmächten Sowjetunion, Großbritannien und Frankreich, in gewissem Maße aber auch zwischen beiden deutschen Staaten, das durchaus schon wie ein Vorbote des Wandels von der Konfrontation zur Kooperation erscheint. Die "Britannia" rettet Ostdeutsche, die "Müggelsee" Westdeutsche, die "Skulptur Klupkina" und alle anderen Rettungsschiffe nehmen jeden an Bord, der evakuiert werden möchte. Gorbatschow hatte nicht nur den eisernen Griff auf seine Verbündeten gelockert, sondern auch den Antagonismus zum Westen. Angesichts der Kämpfe im Südjemen, die alle Ausländer gemeinsam bedrohten, rückten Ost und West zusammen.
Zitierweise: Hans Jürgen Wendler, Aden 1986: Die vergessene Evakuierung. Ein Beitrag zur Krisendiplomatie beider deutscher Staaten und zur Geschichte der DDR-Handelsmarine, in: Deutschland Archiv, 13.1.2016, Link: www.bpb.de/218486
Weitere Inhalte
Dr., ehemaliger Diplomat und Historiker. Forschungsschwerpunkte sind transatlantische Beziehungen, europäische Geschichte im 20. Jahrhundert und internationale Kulturpolitik. Gastdozent an der University of California in San Diego sowie an der FU Berlin (im Rahmen des FUBEST- und des FUBiS-Programms).
Ihre Meinung zählt: Wie nutzen und beurteilen Sie die Angebote der bpb? Das Marktforschungsinstitut Info GmbH führt im Auftrag der bpb eine Umfrage zur Qualität unserer Produkte durch – natürlich vollkommen anonym (Befragungsdauer ca. 20-25 Minuten).
Vielen Dank für Ihre Unterstützung!