Einleitung
Am 29. September 1957 formulierte Walter Ulbricht in seiner sogenannten "Sonneberger Rede" unter dem Titel "Lernen für das Leben – Lernen für den Sozialismus" folgende Aussage: "Bei uns wird die Wahrheit gelernt und nicht irgendwelche Hirngespinste."
Nicht nur die SED begriff die Jugend als Träger und Garant für die Zukunft. Auch für die Kirchen war sie für eine gefestigte Gemeindestruktur von existenzieller Bedeutung. Aufgrund der weltanschaulichen Differenzen der Institutionen ergab sich zwangsläufig eine Konkurrenzsituation. Für die SED stand fest, dass ihr politisches Anliegen der Zurückdrängung der Kirchen aus der Gesellschaft bei gleichzeitiger Durchdringung eben jener nur erreicht werden kann, wenn sie die weltanschauliche Deutungsmacht besitzt. Die Erziehungsfrage wurde somit zu einem bedeutungsvollen Spannungsfeld.
Der Einführung der Jugendweihe kam in diesem Kontext eine zentrale Bedeutung zu, konnte man dadurch doch das Ziel der gründlichen "Aufklärungsarbeit" in politischen wie ideologischen Bereichen leisten. Die evangelische Kirche und die christlichen Familien wurden dadurch in der Erziehungsfrage vor gravierende Herausforderungen gestellt.
Es stellt sich die Frage, mit welchen Strategien die Staatsführung ihr politisches Ziel umsetzte, die Mehrheitsmeinung auf ideologischem Feld durch die Jugendweihe zu prägen.
Einführung der Jugendweihe
Der zu Beginn der 1950er Jahre eingeschlagene "Neue Kurs"
In Berlin wurde der "Zentrale Ausschuß für Jugendweihe in der DDR" (ZAJ) gegründet. Dieser war in der Folge für die Werbung und Außendarstellung dieses Anliegens zuständig. Die Ziele, die mit der Jugendweihe erreicht werden sollten, wurden aber auch weiterhin von der SED definiert und in einem Arbeitsprotokoll des Politbüros folgendermaßen formuliert: "Damit wird verhindert, daß eine große Zahl von Kindern im Alter von 12-14 Jahren durch eine systematische reaktionäre Beeinflussung seitens der Pfarrer der ‚Jungen Gemeinde‘ zugeführt wird."
Die Vorbereitungen der Jugendweihen sollten zwar in der Hand von lokalen Ausschüssen liegen, doch wurde die Partei angewiesen, „dass einflußreiche und fachkundige Genossen in diesen Ausschüssen mitwirken und erforderlichenfalls auch die Initiative zu ihrer Gründung […] übernehmen“ sowie "ständig auf die Arbeit dieser Ausschüsse Einfluß nehmen."
Die Einführung der Jugendweihe vollzog sich zu einem Zeitpunkt, der dem politischen wie gesellschaftlichen Entwicklungsprozess entsprach. Wurde auf wirtschaftlicher und sozialer Ebene bereits eine gesellschaftliche Umgestaltung vorangetrieben, so sollte diese auch durch eine weltanschaulich-ideologische Ebene unterstützt werden.
Atheismus-Ideologisierung und "Aufklärungsarbeit" als immanente Ziele
Zur Verbreitung der "wissenschaftlichen und politischen Kenntnisse des Sozialismus" kam dem atheistischen Gedankengut eine herausgehobene Bedeutung zu. Das eigens hierfür ausgearbeitete Lehrwerk "Weltall, Erde, Mensch", welches bereits 1954 mit einer Auflage von 120.000 Exemplaren erschien, machte diese systematische Zielsetzung deutlich. Dieses Buch stellte einen Frontalangriff auf den christlichen Glauben dar und zielte damit ebenfalls auf die Kirche und deren Jugendarbeit. Es sollte als Lehr- und Geschenkbuch zur Vorbereitung auf die Jugendweihe Verwendung finden. Der Anspruch war, "die marxistische Wahrheit über die Entstehung der Welt, die Gesetze der Natur und Geschichte und die im Sozialismus befreite Menschheit als Lebenssinn kommunistischer Persönlichkeiten" darzustellen.
Die Autoren des Lehrbuches gingen von der Grundannahme aus, dass sich fortschreitende wissenschaftliche Erkenntnisse, hier vor allem die der Naturwissenschaften, und der Glaube an eine Gottheit ausschließen. Das Selbstverständnis, in dem es verfasst wurde, entsprach dem eines inspirierten Lehrwerks: "Dieses Buch ist das Buch der Wahrheit."
Die SED bezeichnete die Jugendweihe trotz aller Kritik seitens der evangelischen Kirche als weltanschauungsfrei. Sie stelle lediglich eine Alternative für den Eintritt in das Erwachsenenalter dar: "Die Jugendweihe […] ist weder eine staatliche Angelegenheit, noch eine Angelegenheit einzelner Organisationen. An ihr können Jugendliche aller Weltanschauungen teilnehmen. Die Konfirmation wird von ihr nicht berührt. Es herrscht volle Glaubens- und Gewissensfreiheit […]. Die Teilnahme an der Jugendweihe ist freiwillig."
Otto Dibelius brachte daraufhin die ablehnende Haltung der evangelischen Kirche in einem Brief, der am 7. Januar 1955 verfasst und an die Pfarrer und Gemeinden der Kirchenprovinz Berlin-Brandenburg adressiert wurde, deutlich zum Ausdruck: "Wir kennen diese Jugendweihe aus der Vergangenheit zur Genüge. Der Zuschnitt wechselt, der Inhalt ist immer derselbe: Die Jugend soll, in klarem Gegensatz gegen das christliche Evangelium, einer materialistischen Weltanschauung verpflichtet werden. Unsere kirchliche Lebensordnung bestimmt deutlich und klar: ‚Kinder, die sich einer Handlung unterziehen, die im Gegensatz zur Konfirmation steht (Jugendweihe oder dergleichen), können nicht konfirmiert werden.‘"
Die SED veranstaltete in der Folge Elternversammlungen, in denen die Eltern aufgefordert wurden, gegen die strikte Ablehnung der Jugendweihe durch die evangelische Kirche Protest einzulegen. Gleichzeitig wurden Pfarrer, die sich gegen die Jugendweihe massiv zur Wehr setzten, mit Ordnungsstrafen belegt.
Politische Vereinnahmung und Instrumentalisierung
Die Zahl der Jugendweiheteilnehmer belief sich 1955 auf etwa 15 Prozent aller infrage kommenden Jugendlichen.
Die geringe Resonanz unter den Jugendlichen wurde den "reaktionären" Pfarrern zugeschrieben. Aus der SED-Kreisleitung "Wismar-Land" heißt es dazu: "Die geringe Zahl […] zur Teilnahme an der Jugendweihe […] ist zurückzuführen […] auf die starke Hetze der Pastoren in unserem Kreis."
Die Wachstumstendenz wie auch eine fortlaufende Jugendweihepropaganda setzten sich 1957 weiter fort. In einer Rede, gehalten am 31. März 1957 im Rahmen einer Feierstunde zur Jugendweihe im Dessauer Landestheater, unter dem bezeichnenden Titel "Wissen ist besser als Glauben", stellte Walter Ulbricht nochmals klar, dass es sich bei der Jugendweihe um ein atheistisches Unterfangen handeln sollte. Der Glaube trage demnach nicht zu einer Besserung der Gesellschaft bei.
Die SED forcierte nun ihre Bemühungen um eine breitere Akzeptanz der Jugendweihe in der Gesellschaft. So sollten in den Betrieben Informationsveranstaltungen abgehalten werden, welche die Erziehungsideale des Jugendweiheunterrichts erläuterten. "Abseits stehende Eltern" sollten über Gespräche am Arbeitsplatz von den Anliegen der Jugendweihe überzeugt werden.
Außerdem wurden Lehrerinnen und Lehrer angehalten, die Jugendweihe deutlicher in ihren Unterricht einzubeziehen. Dies ist eine Forderung, wie sie auch in der "Lausitzer Rundschau" (LR) vom 3. Dezember 1957 publiziert wurde: "Die Lehrer der achten Klassen müssen […] ständig auch im Unterricht – nicht nur in den achten Klassen – die Beziehung zur Jugendweihe herstellen […] Unsere Lehrer und Erzieher und unsere sozialistischen Elternbeiräte müssen erkennen, daß es in der Frage der Jugendweihe keine Neutralität geben kann."
Die Teilnehmerzahl zur Jugendweihe erhöhte sich auch im Jahr 1957. Etwa 30 Prozent der infrage kommenden Jugendlichen vollzogen die Jugendweihe.
Eröffnung des Jugendweihejahres: Walter Ulbricht spricht zu circa 1000 Jugendlichen und deren Eltern im Gesellschaftshaus in Sonneberg, Thüringen (© Bundesarchiv , Bild 183-48286-0003, Foto: Blumenthal)
Eröffnung des Jugendweihejahres: Walter Ulbricht spricht zu circa 1000 Jugendlichen und deren Eltern im Gesellschaftshaus in Sonneberg, Thüringen (© Bundesarchiv , Bild 183-48286-0003, Foto: Blumenthal)
Entgegen vorheriger Darstellungen wurde ab 1958 erstmals öffentlich die Förderung der Jugendweihe durch den Staat proklamiert und der Abteilung für Volksbildung im Zentralkomitee (ZK) der SED unterstellt. Der Verlegung der Kompetenzen in das oberste Gremium der SED ging eine Grundsatzänderung voraus, die Walter Ulbricht in seiner bereits erwähnten "Sonneberger Rede" folgendermaßen zum Ausdruck brachte: Jugendliche müssten an der Jugendweihe teilnehmen, "weil ihnen sonst wichtige Kenntnisse verloren gehen würden, die sie in ihrem späteren Leben brauchen."
Ulbrichts Aussagen stellen eine drastische Abkehr von den Freiwilligkeitsbeteuerungen der Jugendweihteilnahme aus den vorangegangenen Jahren dar und markieren gleichzeitig den Beginn einer neuen Phase der politischen Vereinnahmung der Jugendweihe, die für das Spannungsverhältnis zwischen Staat und Kirche in der Erziehungsfrage zunehmend an Bedeutung gewann. Seitens der SED-Führung sollte unmissverständlich zum Ausdruck gebracht werden, dass es keine moderate Linie in ideologischen Fragen mehr geben könne. Außerdem war die SED bestrebt, durch eine "Offensive des Atheismus" den Glauben an die Menschheit und ihre kreative Begabung, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, zu unterstützen: "Dieser Glaube an die Menschheit ist das, was wir an die Stelle des Glaubens an einen Gott usw. zu setzen haben."
Aber auch seitens der Kirchenleitung wurde der Druck auf die Eltern in Bezug auf die Jugendweihe erhöht, beispielsweise durch Otto Dibelius: "Es geht bei der Entscheidung zwischen Konfirmation und Jugendweihe um die Seele eurer Kinder und um eurer eigenen Seelen Seligkeit."
Das Konfliktpotenzial zwischen Staat und evangelischer Kirche in der Erziehungsfrage war immens. Die Kirche hielt an ihrem Entweder-oder-Prinzip fest. Der Staat verstärkte im Gegenzug seine antikirchliche Propaganda. Die Jugendweihe erhielt durch politische Interventionen spätestens zu diesem Zeitpunkt den "Charakter einer staatlich sanktionierten Ersatzkonfirmation."
Öffentlicher Druck, Sanktionen und endgültige Durchsetzung
Die gesellschaftliche Annahme der Jugendweihe war für die SED ein Gradmesser ihres ideologischen Führungsanspruchs. Da zunächst nur ein Viertel aller Jugendlichen Interesse daran signalisierte, erhöhte die SED den politischen Druck.
Jugendweiheverweigerern drohte inzwischen von offizieller politischer Seite, nicht zur Abiturstufe zugelassen zu werden, ebenso mussten Einschränkungen bei der Berufswahl befürchtet werden.
Die Mischung aus Werben, Repressalien und Gerüchten war erfolgreich. Immer mehr Jugendliche gingen zum Jugendweiheunterricht. So waren es 1958 circa 44 Prozent, 1959 sogar etwa 80 Prozent der Jugendlichen, die an einer Jugendweihe teilnahmen. Es fand ein regelrechter Wettbewerb einzelner Kommunen um die Jugendlichen statt, auch um den prozentualen Anteil derjenigen, die zur Jugendweihe gingen, für die jeweilige Region erhöhen und politisch nutzbar machen zu können.
Die Auswirkungen dieses Umstandes gingen an der evangelischen Kirche nicht spurlos vorüber. Erste Anzeichen einer Positionsveränderung innerhalb der Kirche zur Frage der Jugendweihe gab es Ende 1958. Auf der Kirchlichen Ost-Konferenz am 27. August 1958 wurde vorgeschlagen, dass Teilnehmer des Jugendweiheunterrichts zukünftig nicht mehr grundsätzlich von der Konfirmation auszuschließen seien. Es sollte demnach mindestens ein Jahr zwischen der Jugendweihe und dem ersten Abendmahl liegen. Allerdings gingen an dieser Stelle die Positionen der einzelnen Landeskirchen auseinander. Der Kirchenhistoriker Gerhard Besier schreibt dazu: „Die Thüringer Kirchenleitung gab als erste ihre resistente Haltung auf und zeigte Bereitschaft, mit der sozialistischen Diktatur zu kooperieren."
In einem ebenso raschen Tempo, wie der Zulauf zu den Veranstaltungen der Jugendweihe anstieg, nahm die Teilnahme an den Konfirmationen ab. Waren es 1956 noch drei Viertel der Jugendlichen eines Jahrgangs, die sich konfirmieren ließen, so war es 1959 nur noch ein Drittel.
Zudem sank der Anteil der evangelischen Kirchenmitglieder an der Gesamtbevölkerung von etwa 80 Prozent (1956) auf etwa 60 Prozent (1964).
Rückblickend stellte die am Institut für Marxismus-Leninismus der Ingenieurhochschule für Seefahrt in Warnemünde-Wustrow angesiedelte Forschergruppe "Wissenschaftlicher Atheismus" um Olaf Klohr in den 1970er Jahren fest, dass durch die Jugendweihe ein massiver Säkularisierungsprozess hin zu einer entkirchlichten Gesellschaft begann. Die Ergebnisse durch die massive atheistische Erziehungspropaganda wären demnach durchweg "positiv."
Resümee
Die Jugendweihe entwickelte sich in ihrer Etablierungsphase 1954 bis 1959 zu einer Art Ersatzkonfirmation. Darauf mussten die Kirchenleitungen reagieren. Sie lehnten die Jugendweihe kategorisch als glaubensfeindlich ab. Für die evangelische Kirchenleitung waren Glaube und Jugendweihe unvereinbar. Daher schloss sie eine Konfirmation für Jugendliche mit Jugendweihe zunächst aus.
Die SED schaffte es aber, zielgerichtet die Jugendweihe in der Gesellschaft zu etablieren. Für deren Anleitung wurde der ZAJ gegründet. Anfangs wurde beabsichtigt, sie nicht als Parteiarbeit erscheinen zu lassen, das änderte sich deutlich mit den steigenden Teilnehmerzahlen. Kam es bereits auf wirtschaftlicher und sozialer Ebene zu einer gesellschaftlichen Umgestaltung durch die SED, fand jetzt eine Umwälzung auch auf ideologisch-weltanschaulicher Ebene statt. Durch die systematische Institutionalisierung der Jugendweihe auf höchster politischer Ebene unterstrich die SED ihren Anspruch der Deutungshoheit im ideologischen Erziehungsbereich.
Die politisch gewollte und strategisch geplante Lösung kirchlicher Bindungen der Bürgerinnen und Bürger konnte bereits in den ersten fünf Jahren nach der Einführung der Jugendweihe teilweise realisiert werden. Einschüchterungs- und Repressionsmaßnahmen trugen ihr Übriges zum nachhaltigen Erfolg der Jugendweihe bei. Im Durchschnitt nahmen bereits 1959 etwa 80 Prozent
Zitierweise: Kornelius Ens: Die Jugendweihe als zentrales Konfliktfeld des Erziehungsanspruchs zwischen Staat und evangelischer Kirche - Entwicklungen in der Zeit von 1954 bis 1959, in: Deutschland Archiv, 2.11.2015, Link: www.bpb.de/214629.