Meine Zeit in Ostberlin wurde mir insofern zum "Verhängnis", als ich von Staatssekretär [Klaus] Kinkel im November 1989 gebeten, eigentlich genötigt wurde, im Bundesministerium der Justiz das Referat "Innerdeutsche Beziehungen" zu übernehmen. Der äußerst sachkundige, mit den Problemen zwischen der DDR und der Bundesrepublik langjährig vertraute ehemalige Leiter dieses Referats weigerte sich, sein früheres Aufgabengebiet unter den neuen Umständen wieder zu übernehmen. Er ahnte wohl, was auf ihn zukommen würde. Für Kinkel war ich wegen meiner "DDR-Vergangenheit" der nächste Kandidat. Er hatte mich mit seinem Angebot zur Übernahme dieses "in dieser Zeit besonders wichtigen Referats" geradezu überrumpelt. Er gab mir wegen der politischen Brisanz und Eilbedürftigkeit eine Stunde Bedenkzeit. Als er nach einer halben Stunde erneut anrief und bei mir auf eine eher zögerliche Haltung traf, fragte er in breitem Schwäbisch, "Sie wolle doch wohl nicht zurück zucke" und nahm mein Zögern als Zusage. Als ich nach einer schlaflosen Nacht ihn bat, von meiner Beauftragung abzusehen, erklärte er, nachdem er sich zunächst – wovon ich überzeugt bin – mehrere Stunden hatte verleugnen lassen, das Kabinett habe die Personalie bereits zustimmend zur Kenntnis genommen. Es gäbe kein Zurück.
Wir wurden von den Problemen durch die Grenzöffnung geradezu überschwemmt. Im gesamten Grenzverlauf gab es massenhafte Diebstahlstaten und Einbrüche, massenhaft stellten Trabbis und Wartburgs die Park- und Marktplätze der Grenzstädte zu. Massenhaft entzogen sich unterhaltspflichtige Väter durch Übertritt in die Bundesrepublik ihren Unterhaltsverpflichtungen gegenüber ihren Kindern und manches mehr. Mein Referat war mit einem Referenten, einem unerfahrenen jungen Richter aus Bayern, und mir besetzt. Neben den vielen kleinen genannten praktischen Problemen waren die grundlegenden Fragen aus rechtlicher Sicht zu beantworten, wie es denn nun nach dem Fall der Mauer mit den Beziehungen der beiden Staaten weitergehen solle. Einen Plan dafür, wie ich vom "Innerdeutschen Ministerium" erwartet hatte, gab es nicht. Worin hat eigentlich die Aufgabe dieses Ministeriums bestanden, wenn nicht auch darin, für den Fall der Fälle eine solche "Road-Map" zu entwickeln? Wir im Referat haben uns das häufig gefragt, wenn schwierige Entscheidungen anstanden und eigentlich niemand so recht wusste, wie es weitergehen solle. Anfang Januar berieten wir im Kanzleramt noch darüber, dass wohl ein zweiter Grundlagenvertrag auszuarbeiten sei. Es wurde angedacht, Regierungskommissionen für jeden größeren Politikbereich zu schaffen, die dann innerhalb eines Staatenbundes eine Art überstaatliche Zentralregierung bilden sollten. Ein paar Tage später war dies Schnee von gestern. Die DDR lief förmlich aus. Jeden Monat verließen Tausende das Land. Es war ein wahrer Exodus. Dem musste begegnet werden. Wahlen in der DDR zur Volkskammer waren für den 6. Mai angedacht, mussten aber auf den 18. März vorgezogen werden. Man befürchtete, einen Monat später kaum noch Wahlvolk zu haben.
Erste Kontakte
Im Januar 1990 nahm das Bundesministerium der Justiz Kontakt zum DDR-Ministerium für Justiz auf. Wir waren innerhalb der Bundesregierung das letzte Ministerium, das den Kontakt zum Pendant in Ostberlin herstellte. Dafür gab es keinen sachlichen, aber einen durchschlagenden persönlichen Grund. Es waren die Vorbehalte der damaligen Hausleitung im Bundesministerium der Justiz gegen den Ostberliner Justizminister Wünsche, der, obwohl der liberal-demokratischen Partei (LDPD) zugehörig, als Justizminister unter Ulbricht und als Nachfolger Hilde Benjamins, der "blutigen Hilde", Strafgesetze zu verantworten hatte, die zahlreiche Menschen als politische Verbrecher kriminalisierten und tausende politische Häftlinge produzierten. Mit ihm wollten Kinkel und Engelhardt – zu Recht – nicht verhandeln müssen.
Als Leiter des Referats "Innerdeutsche Beziehungen" fiel mir die Aufgabe zu, den ersten Kontakt zum Justizministerium in Ostberlin herzustellen. Ein Auto der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik in der DDR (StäV) brachte mich zum Ministerium. Dort wurde ich vom Abteilungsleiter für Internationale Beziehungen […] empfangen. Er war auch früher ein Gesprächspartner auf der mittleren Ebene für uns aus dem Bundesministerium der Justiz gewesen, als es um Aus- und Zulieferungsverträge und um Fragen der Staatsbürgerschaft, insbesondere der Bewohner Westberlins gegangen war. Er war ein freundlicher, aber stets unangenehmer Verhandlungspartner, ein Hardliner, gewesen und hatte meinem Vorgänger in der Leitung des Referats immer Schwierigkeiten gemacht. Nun war er wie ausgewechselt. Er begrüßte mich mit ausgesuchter Höflichkeit und all die Probleme der früheren Zeit, die er hartnäckig vertreten hatte, wischte er vom Tisch, als ich diese Punkte ansprach. Das seien nun keine Probleme mehr. Natürlich könnten wir auch für Westberlin sprechen. Ähnlich verhielt er sich, als er später mit einer Referentin nach Bonn kam. Bei einem eher persönlich gehaltenen Gespräch beim Abendessen in seinem Hotel, zu dem ich ihn und die Referentin eingeladen hatte, wies er jede Verantwortung für die frühere starre und unnachgiebige Haltung zurück. Er habe immer nur auf Weisung gehandelt. Es sei ihm selbst manchmal unangenehm gewesen. Ich fand ihn unaufrichtig und abstoßend, zumal er eine sehr wehleidige Haltung dabei einnahm. Später spielte er bei den weiteren Verhandlungen keine Rolle mehr. Ich habe ihn nicht mehr gesehen.
Meine Reise nach Ostberlin diente auch der Vorbereitung eines Treffens zwischen den Staatssekretären der beiden Ministerien. Dieses fand kurze Zeit später in Bonn statt. Es standen eine Reihe praktischer Probleme durch die Öffnung der Grenze im Mittelpunkt. Sie wurden aber ohne Schwierigkeiten von Ostberliner Seite gelöst. Der Ostberliner Staatssekretär war erst unter dem Ministerpräsidenten Modrow ernannt worden und hatte so keine Schwierigkeiten aus vorangegangenem Tun. Ich habe ihn am Flughafen Köln/Bonn abgeholt. Als wir uns die Hand gaben, zog er sie schnell wieder zurück. Sie begann zu bluten, wieder zu bluten, wie er sagte. Er hatte sich beim morgendlichen Rasieren nicht in den Hals, wohl aber in die Hand geschnitten. Die von ihm zu Hause nur provisorisch versorgte Schnittwunde war durch meinen Händedruck wieder aufgebrochen. Ich hatte durchaus zwiespältige Gefühle.
Reagieren und Anpassen
Die Dynamik der politischen Entwicklungen ließ diese ersten Treffen zu eher wenig bedeutenden Ereignissen werden, obwohl sie aus meiner Sicht – auch aus den vorangegangenen Erfahrungen an der StäV – historischen Charakter hatten. Aber schon bei dem Treffen der beiden Staatssekretäre war Bundeskanzler Kohl gerade aus Moskau zurückgekommen und hatte von Gorbatschow grünes Licht für eine Vereinigung erhalten. Die Ereignisse überschlugen sich regelrecht. Für uns Ministeriale und erst recht für meine Arbeitsgruppe brachte diese Entwicklung eine bis dato nicht gekannte Arbeitslast mit sich. Von sehr früh bis abends sehr spät verbrachten wir die Tage im Büro oder auswärts in irgendwelchen Besprechungen in Bonn oder Berlin. An Wochenenden und an Feiertagen wurde durchgearbeitet. Meine Kinder sah ich nur spät abends in den Betten und gelegentlich morgens beim Frühstück.
Im Bundesministerium der Justiz war aus meinem Zwei-Mann-Referat inzwischen eine Arbeitsgruppe mit zehn Juristen geworden. Da wir im Ministerium keine freien Personalreserven hatten, waren wir gezwungen, die Mitarbeiter aus nachgeordneten Behörden, den Obersten Bundesgerichten und aus Gerichten und Staatsanwaltschaften der Bundesländer zu uns zu bitten und sie an das Bundesministerium der Justiz abzuordnen. Es war eine bunt gemischte Truppe von Juristen unterschiedlichster Fachrichtungen und meist guter Qualität, aber alle in deutsch-deutschen Fragen totale Anfänger. Inzwischen waren die Thematik der deutschen Vereinigung und die Lösungsmodalitäten dazu sowie die Arbeitsbelastungen über die Zuständigkeiten des Einzelreferats beziehungsweise der Arbeitsgruppe "Innerdeutsche Beziehungen" weit hinausgegangen. Alle Abteilungen des Hauses, zuständig für Zivilrecht, für Strafrecht, für Wirtschafts- und Handelsrecht, für Verfahrensrecht bis hin zum Verfassungsrecht, arbeiteten an den Vorbereitungen für die Einigung und einen Einigungsvertrag.
Recht und Gesetz
Das Justizministerium war zusammen mit dem Innenministerium innerhalb der Bundesregierung für die grundsätzlichen Regelungen der verfassungsrechtlichen Überleitungen und der Geltung von einfachen Gesetzen in den sich zusammenschließenden beiden Staaten zuständig. Vorbilder für solche Regelungen gab es nicht. Der gescheiterte Versuch, mit der sogenannten Paulskirchenverfassung von 1849 ein Deutsches Reich zu gründen, konnte kein Vorbild sein. Auch die mit dem deutsch-französischen Krieg erstrittene Reichsgründung von 1871 war kein Muster für die deutsche Wiedervereinigung, ebenso wenig das in einer Volksabstimmung abgelehnte Saarstatut von 1955 oder der Vertrag über den Beitritt des Saarlandes als neues Bundesland zur Bundesrepublik Deutschland, der 1957 erfolgte. Die Fragen mussten ganz konkret bezogen auf die vorliegenden deutsch-deutschen und die internationalen Verhältnisse beantwortet werden.
Sollten alle Gesetze der DDR für deren ehemaliges Gebiet neben bundesdeutschem Recht weiter gültig bleiben? Das hätte zu nicht hinnehmbaren Entwicklungen geführt und wurde sofort verworfen. Sollte bundesdeutsches Recht ohne Ausnahme überall gelten? Auch dies erwies sich als nicht verantwortbar. In langen und schwierigen Verhandlungen mit dem Ministerium für Justiz der DDR, mit den Bundesressorts, insbesondere dem Bundesinnenministerium, und den Justizministerien der Länder rang man sich zu den umfangreichen Regelungen des Einigungsvertrages durch. Er wurde zum staatsrechtlichen Unikat und ist in der Welt, etwa für die Frage der Vereinigung von Süd- und Nordkorea, zum Vorbild für den Zusammenschluss von Staaten geworden.
Nach dem Vertrag sollte bundesdeutsches Recht weitgehend das DDR-Recht ablösen, DDR-Recht aber für zahlreiche Rechtsgebiete mit eher lokalem Bezug, für die Bundesrecht keine Lösungen bot, weiterhin gelten. Es gab eine unübersehbare Fülle von Sachverhalten und Problemen, die im Einigungsvertrag geregelt werden mussten. Jedes Ministerium formulierte seinen von ihm für notwendig gehaltenen Beitrag des Vertrages und schickte ihn an das Innenministerium und nachrichtlich an die anderen Ressorts. Über die einzelnen Beiträge wurde dann bilateral oder auf zentralen Besprechungen diskutiert, Änderungen vorgeschlagen und verworfen. Es wurde geändert und ergänzt bis schließlich ein Gesamtentwurf der Bundesregierung vorlag. Eine ungeheure Arbeit.
Die Dramatik dieser in den kurzen Worten beschriebenen Vorgänge war gewaltig. Die große Politik stand ja nicht still und wartete ab, was die Bundesregierung da produzieren werde. Und die verbündeten westlichen Staaten, insbesondere Frankreich und England waren nicht etwa Befürworter der deutschen Vereinigung. Man liebe Deutschland so sehr, dass man am liebsten zwei deutsche Staaten habe, wurde als Aussage des französischen Staatspräsidenten kolportiert. Die Verhandlungen zwischen den westlichen Verbündeten und der Sowjetunion, die sogenannten 2+4 Verhandlungen (Bundesrepublik, DDR einerseits und USA, UK, Frankreich und die Sowjetunion andererseits), zogen sich hin über das ganze Jahr 1990. Sie wurden am 12. September in Moskau mit dem Vertrag über die abschließenden Regelungen in Bezug auf Deutschland abgeschlossen. Dieser Vertrag beendete als Friedensvertrag die instabile außenpolitische Lage Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg.
Einheitsvertrag
Diese Dramatik beeinflusste natürlich auch die deutsch-deutschen Gespräche. Inzwischen waren die Wahlen in der DDR abgehalten worden und hatten CDU und FDP die Mehrheit in der Volkskammer gebracht. Inzwischen war auch die gesamtdeutsche Geltung der bundesdeutschen Währung, der "DM" durch die Währungsunion ab 1. Juli 1990 geregelt, deren überhastete Übertragung und wirtschaftlich nicht sinnvollen Wechselkurse sich nachträglich als ziemlich verheerend und ungerecht erwiesen. Aber überall wurde der Slogan der Ostdeutschen verbreitet: Wenn die DM nicht zu uns kommt, wandern wir zu ihr. Da gab es kaum eine Alternative zur Schnelligkeit.
Zur Schnelligkeit für den Einigungsvertrag gab es ebenfalls keine Alternative. Die internationalen Gegebenheiten waren nicht sehr stabil im Hinblick auf die Absicht der Deutschen, die Wiedervereinigung herzustellen. Insbesondere die Entwicklung in der Sowjetunion barg kaum vorhersehbare Gefahren auch für den Einigungsprozess. Und zudem blieb angesichts der Instabilität der DDR und der anhaltenden Übersiedlung ostdeutscher Menschen nach Westdeutschland keine andere konstruktive Lösung als die schnelle Wiedervereinigung.
Als der Vertragsentwurf aus bundesdeutscher Sicht vorlag, begannen dann die Verhandlungen mit der DDR in großer Eile. Ich erinnere mich noch gut an die erste Verhandlungsrunde in Ostberlin im Haus des Ministerrats der DDR, das frühere Alte Stadthaus, in der Klosterstraße in Berlin-Mitte. Schäuble auf unserer Seite, Krause auf Seiten der DDR leiteten die Verhandlungen. Krause verhandelte in ziemlich autoritärer Weise, insbesondere gegenüber seinen Verhandlungspartnern aus den eigenen Reihen, etwa den Vertretern der Aufbaustäbe der fünf neuen Länder, die errichtet werden sollten. Das ging so weit, dass er dem Vertreter von Mecklenburg-Vorpommern das Wort entzog und ihm Entfernung aus den Saal androhte, wenn er nicht endlich den Mund halte. Dieser hatte sich mit den Regeln über die Verteilung von Bodeneigentum zu Lasten der Länder nicht einverstanden gezeigt und wollte eine Änderung der Bestimmungen erreichen. Ich fand Krause bei dieser Gelegenheit arrogant und abstoßend. Andererseits habe ich sein Verhandlungsgeschick bewundert. Er war ähnlich souverän wie Schäuble und hatte sich in kurzer Zeit in all die schwierigen Fragen politischer und rechtlicher Art eingearbeitet. Die zweite und auch letzte Verhandlungsrunde fand in Bonn statt, im Neubau des Verkehrsministeriums.
Und dann kam endlich die Unterzeichnung im Kronprinzenpalais in Berlin unter den Linden am 31. August 1990. Wir Ministerialen aus Bonn wurden mit einer Regierungsmaschine der DDR nach Berlin-Schönefeld geflogen, um an der feierlichen Unterzeichnung teilzunehmen. Schäuble und Krause unterzeichneten die Verträge. Es war eine bewegende Zeremonie in dem total überfüllten großen Saal des Palais. In meiner Erinnerung kommt mir die Zeremonie der Reichsgründung von 1871 im Spiegelsaal von Versailles in den Sinn. Die Ereignisse sind nicht vergleichbar. Und dennoch ergeben sich in meiner Erinnerung Ähnlichkeiten des Ambientes und der Stimmung zwischen der Zeremonie in Versailles, dargestellt im Gemälde von Anton von Werner, und der Feier im Kronprinzenpalais. Der Einigungsvertrag trat am 29. September 1990 in Kraft. Entsprechend seiner Regelung trat die DDR mit Wirkung vom 3. Oktober 1990 der Bundesrepublik in Gestalt von fünf neuen Bundesländern bei. Die DDR hatte aufgehört zu existieren.
Ein Resümee
Für mich war damit meine eigentliche Arbeit in der Arbeitsgruppe "Innerdeutsche Beziehungen" beendet. Nachdem viele Institutionen der DDR "abgewickelt" worden waren, wickelte ich nun die Arbeitsgruppe ab. Die Mitarbeiter wurden wieder in ihre ursprünglichen Verwendungen geschickt, einige übernahmen neue Aufgaben etwa in den neuen Bundesländern. Zuletzt blieb ich mit meiner Sekretärin übrig. Ich entwarf die Verfügung zur Auflösung der Arbeitsgruppe und schickte den Entwurf an die Hausleitung. In der Folgezeit musste ich kämpfen, um mein altes Referat "Jugendstrafrecht" in der Strafrechtsabteilung wieder zu bekommen. Meine Mitarbeit an der deutschen Wiedervereinigung hatte etwa ein Jahr gedauert. Es war ein außerordentlich interessantes Jahr. Noch nie und nie wieder trotz vielfacher dienstlicher Belastungen habe ich so viel in meinem Leben gearbeitet.
Am 3. Oktober 1990 ist die DDR untergegangen. Durch den Beitritt gemäß Art. 23 des Grundgesetzes zur Bundesrepublik Deutschland hat sie ihre staatliche Existenz verloren. An ihre Stelle sind fünf neue Bundesländer getreten – Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen sowie Ost-Berlin, das Teil des Landes Berlin wurde. Einzelheiten sind im Einigungsvertrag vom 31. August 1990 geregelt.
Im Rückblick kann ich manche Menschen verstehen, die den alten Verhältnissen nachtrauern. Nicht wenige haben ihre soziale Sicherheit und Geborgenheit verloren, die sie im Sozialismus empfanden und die sie in scheinbarer Solidität als dauerhaft einschätzten. Aber sie haben überwiegend nicht Recht. Sie haben viel zu schnell all die Dinge vergessen oder verdrängt, die den meisten von ihnen in der DDR das Leben schwer, manchmal unerträglich machten. Aber natürlich gab es auch die Nutznießer des Systems. Von denen mag es manchen schlechter gehen, insbesondere denen, die der unteren Ebene angehörten, den einfachen Bediensteten in den DDR-Behörden. Aber den Mitgestaltern der oberen Klassen geht es wie in der DDR relativ bis ohne Einschränkungen gut. Sie haben es auch in der Marktwirtschaft des Vereinigten Deutschland verstanden, ihre Schäfchen ins Trockene zu bringen.
Neben all der Ablehnung gegenüber den Maßnahmen der kommunistischen Partei nach Gründung der DDR und dem Bau der Berliner Mauer hatte ich zu Beginn meiner Tätigkeit in Ostberlin die Hoffnung, dass sich die Politik und das Leben in der DDR, im "real existierenden Sozialismus", verbessern würde. Nach meinen Erfahrungen während unseres Aufenthalts war diese Hoffnung nicht mehr vorhanden. Sie war einer tiefen Verachtung gegenüber dem politischen System und den führenden Leuten gewichen. Die Lügen und Heucheleien der Regierenden und deren zweiter und dritter Reihe empfand ich als abscheulich angesichts der Probleme und Ungerechtigkeiten, der Schikanen und Benachteiligungen von Menschen, die nicht den offiziellen Lehren vom Glück der Menschen als oberstem Gebot für die DDR-Politik glaubten und dies ihre Umwelt auch wissen ließen. Und auch gegenüber den vielen Funktionären und Teilhabern am System, denen ich in der Öffentlichkeit, im privaten Bereich und auf der mittleren dienstlichen Ebene begegnete, empfand ich meist Verachtung, manchmal Mitleid. Einigen von ihnen bin ich nach der Wende bei den Arbeiten zur Wiedervereinigung, an denen ich beteiligt war, wieder begegnet. Erfreuliche Begegnungen waren es nicht.
Die DDR ist an ihrer Unzulänglichkeit und dem Mut vieler ihrer Bürger, sich zu widersetzen, zu Grunde gegangen. Heute ist viel vom Anschluss an die Bundesrepublik die Rede, der die DDR-Bürger ihrer Rechte und Errungenschaften beraubt habe. Das ist eine verzerrte Sicht der Ereignisse und der Entwicklungen. Die DDR war faktisch in Konkurs gegangen. Ihre Bürger haben sich im März 1990 in der einzigen freien Wahl, die sie bis dato hatten, für den "Beitritt" (Art. 23 des Bonner Grundgesetzes) zur Bundesrepublik entschieden. Es bestand für die Bundesrepublik – wenn sie es denn politisch gewollt hätte – rechtlich keine Möglichkeit, diesen Beitritt zu verhindern. Er ist – wenn man so will – selbst verschuldet. Das widersprechende Wehklagen, verbunden mit Vorwürfen an die "Wessies", ist ohne Rechtfertigung. Eine andere Frage ist die Ausgestaltung des Vertrages zur Deutschen Einheit. Er ist ein Meisterstück politischer Gestaltungskunst und ohne Beispiel in der Welt. Manche inhaltlichen Regelungen allerdings sind durchaus umstritten, etwa die Regelungen der Eigentumsverhältnisse an Grundstücken und Gewerbebetrieben. Aber das sind Entscheidungen, die den damals geltenden politischen Machtverhältnissen im Bundestag und der Volkskammer geschuldet sind, Machtverhältnissen, zu denen die DDR-Bürger durch ihre Wahlen zur Volkskammer entscheidend beigetragen haben.
Und dennoch – die Implosion der DDR und die Beendigung des "real existierenden Sozialismus", die Befreiung aus der Bevormundung der Führungskader der DDR, wie ich sie noch von 1979 bis 1983 persönlich kennen gelernt habe, sind Meilensteine auf dem Weg der Menschen in der DDR in ein Leben mit den verfassungsrechtlichen Gewährleistungen von Würde und Freiheit, mit den Möglichkeiten für ein Leben nach eigenen persönlichen Vorstellungen und Entscheidungen sowie für Wohlstand und materielle Sicherheit. Die Vereinigung Deutschlands im Jahre 1990 ist ein Beispiel von weltweit historischem Ausmaß für die Befreiung von Unterdrückung und Demütigung.
Für mich und meine Familie war der Einsatz in Ostberlin eine interessante und prägende Zeit. Noch heute gibt es freundschaftliche Beziehungen. Und noch heute erlebe ich den Ostteil von Berlin nicht wie viele andere, insbesondere Westberliner, als fremde Stadt, sondern als eine mir ans Herz gewachsene Stadt.
Zitierweise: Horst Viehmann, Dienstreise nach Pankow 1979 bis 1983 – Ein Reisebericht. Teil II: "Nachtrag 1989/1990 – Die Wiedervereinigung", in: Deutschland Archiv, 7.10.2015, Link: www.bpb.de/211839