Meine Aufgaben und Zuständigkeiten [in der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik bei der DDR (StäV)]
Jedes hatte seine besonderen Schwierigkeiten und meist konnten wir kaum oder nur wenig helfen. Es war schwer, häufig bitter, Menschen in Notlagen zu sehen, die man durch ein wenig mehr menschliche Haltung hätte lindern können. Bei der Gegenseite unserer Bemühungen stießen wir meist auf taube Ohren und auf die kleinliche Unerbittlichkeit bei den Organen der DDR beziehungsweise dem einzigen offiziellen Gesprächspartner, der uns zur Verfügung stand, der Konsularabteilung des Ministeriums für auswärtige Angelegenheiten, dem MfAA, und dessen Befehlsgebern im Hintergrund. Uns schienen subalterne Spießbürger am Werk. Sie entsprachen dem Bild, das der DDR-Außenminister Fischer in der Öffentlichkeit abgab – spröde, ohne jeden Charme und ohne jede Souveränität, Apparatschiks, wie man sie sich landläufig vorstellte, die noch immer die sogenannten deutschen Tugenden von Befehl und Gehorsam ohne Rücksicht auf Verhältnismäßigkeit und Menschenwürde hoch hielten.
Dies mutete umso schrecklicher an, als es durchaus einzelne Gesprächspartner gab, die durch Intelligenz und Witz aus der Reihe der üblichen Technokraten herausfielen, wie es die Leiterin der Konsularabteilung, Frau S.
Rituale und "Non-papers"
Es war uns allerdings klar, dass die Bediensteten der Konsularabteilung keine eigenständige Entscheidung treffen konnten, sondern nur das Sprachrohr anderer Behörden waren. Ich ging alle 14 Tage mit einem Berg von Gesprächsnotizen, die die Daten der Beschwerden von Bundesbürgern und eine Kurzfassung des Sachverhalts enthielten, in die Konsularabteilung des MfAA. Ich brachte dort die Fälle zu Gehör und bat um Abhilfe. Beschwerden von Westberlinern, "Bürgern der besonderen politischen Einheit von Westberlin", wie sie offiziell genannt wurden, mussten gesondert nach denen von Bundesbürgern vorgebracht werden. Hielten wir uns nicht an das Ritual, nahm man die Notizen nicht entgegen. Die Gesprächsnotizen waren sogenannte "Non-Papers", die im Streitfall nicht existierten. Ohne diese Gesprächsnotizen wäre es ganz unmöglich gewesen bei der Fülle der Vorgänge, die einzelnen Fälle ordnungsgemäß zu bearbeiten. Ich überreichte sie für jeden einzelnen Fall meinem Gesprächspartner, manchmal mit kurzer Erläuterung, wenn es nötig war wegen der Kompliziertheit des Sachverhaltes oder wenn ich die besondere menschliche Bedeutung eines Falles klar machen wollte.
Meine Gesprächspartner waren zunächst Herr R., ein älterer, unbeholfener, aber freundlicher Mann, von einem Bediensteten im Auswärtigen Dienst, wie man sie sich üblicherweise vorstellte, nach Habitus und Gestus, nach Sprache und Argumentation weit entfernt. Er wurde kurz nach meinem Dienstantritt offenbar krank, so jedenfalls eine kurze mündliche Mitteilung seines Nachfolgers mir gegenüber. Ich habe ihn nicht wieder gesehen. Begleitet wurde ich von einem Beamten des gehobenen Dienstes der StäV, der sich Notizen vom Gesprächsablauf machte. Seine Begleitung und Hilfe war an sich entbehrlich, wir praktizierten aber die Begleitung dennoch, da auch die DDR-Seite immer zu zweit agierte, einem Gesprächsführer und einem Begleiter, der eine Art Handlanger [...] darstellte und keine Silbe von sich gab. Aus Gründen der formalen Waffengleichheit hielten wir es auch so. Auf unserer Seite war die Begleitung kein begehrter Job, da die Zeit für die viele sonstige Arbeit verloren war. Für mich war das Anlass, einen jungen, tüchtigen und pfiffigen Mitarbeiter des mittleren Dienstes mit der regelmäßigen Wahrnehmung der Begleitung zu betrauen. Für ihn war das eine schöne Abwechslung und kam seiner repräsentativen Neigung entgegen. Er machte seine Sache gut, wir verstanden uns prächtig, und er gab mir aus seiner stillen Beobachtung der MfAA-Mitarbeiter manchen wertvollen Ratschlag.
R.s Begleiter war etwa Mitte dreißig, vielleicht auch ein wenig älter. Für mich war ein Wesensmerkmal seine Unbeholfenheit und Steifheit, wenn er uns an der Eingangstür abholte, hinter der er bereits wartete, wenn wir mit dem Auto vorfuhren, die Tür aufriss und uns in das Gesprächszimmer komplimentierte, sowie seine fast ausdruckslosen wasserhellen Augen, mit denen er uns während des Gesprächs anstarrte. H. war sein Name. Er wurde R.s Nachfolger. H.s Nachfolger als [Handlanger] wurde ein junger Mann, der nicht selten unangenehm aggressiv wurde, wenn man ihm am Telefon eine Bitte vortrug. Dies geschah selten. Meist kam eine telefonische Verbindung mit dem konsularischen Dienst der DDR nicht zustande. Später wurde er an die Ständige Vertretung der DDR in Bonn versetzt. Auch dort fiel er durch seinen aggressiven Ton und seine mangelnde Hilfsbereitschaft auf. Sein Name ist mir entfallen.
Die Begegnungen und Gespräche waren eine Farce. Erfolge in unserem Bemühen um menschliche Erleichterungen gab es kaum. Schon der Ablauf und das ganze Ambiente waren nicht ernst zu nehmen, waren geradezu lächerlich, was angesichts der menschlich bedrückenden Angelegenheiten, um die es ging, eine tragische Komponente hatte. Nach dem Empfang an der Eingangspforte und nach Eintritt in das Gesprächszimmer, an dessen Tür Herr R., später Herr H., zur Begrüßung stand, nahmen wir an einem Couchtisch in tiefen Kunststoff-Sesseln Platz, die im Sommer einen schwitzenden Hintern verursachten und mich wegen meines nicht geringen Körpergewichtes wenig entfernt davon auf Fußbodenhöhe erniedrigten. Meine Knie erreichten fast Schlüsselbeinhöhe. Als Herr R. ausschied und Gesprächspartner Herr H. wurde, bot er uns regelmäßig sofort nach dem Platznehmen Club-Cola und DDR-Zigaretten an, meist Marke Turf, und begann ein belangloses Gespräch über das Wetter, auf das ich in der Anfangszeit entsprechend antwortete. Er wollte sich offenbar durch international übliche Gepflogenheiten von dem bäuerlich-biederen Stil seines Vorgängers, der mir viel sympathischer war, abheben, vergrößerte aber die Lächerlichkeit des ganzen Geschehens. Loriot hätte seine Freude an uns gehabt. Ein kahlköpfiger schwer beleibter Mann, versunken bis zum Hals in einem gummiartigen Sessel, davor ein schlankerer Mensch, der Gastgeber, der im Stehen über einen mit Kunstmarmor bedeckten Couchtisch devot gebeugt, versuchte, mit einem plump gestylten Feuerzeug in mehrfach vergeblichen Ansätzen, Feuer für die ziemlich weit entfernte Zigarette des Versunkenen zu geben. Daneben, links und rechts die beiden Gehilfen, zum Sprunge bereit, die vergeblichen Versuche bei Bedarf in genussreiches Rauchen zu verwandeln. In dieser Zeit des Hofierens holte mein Begleiter unsere Gesprächsnotizen aus seiner Aktentasche und legte sie vor mich auf den Couchtisch. Dabei wurde regelmäßig das gestickte Deckchen verschoben und zu Falten gedrückt. Herr H. zog es immer wieder ganz penibel gerade. Später, als ich mit den Gepflogenheiten vertraut war, erweiterte ich die Gesprächsthemen und fragte H. und seinen Begleiter, je nach Anlass, ob sie Kinder hätten, diese schon zur Schule gingen, ob und wo sie Urlaub gemacht hätten und ähnliche persönliche Sachen. Mir war das stereotype Wettergerede einfach zu blöd. Anfangs ging er auf meine Gesprächsthemen so gut wie gar nicht ein und bat mich schnell, zur Sache überzugehen, später gab er diese Zurückhaltung auf, wenn auch nur zaghaft. Noch später nahm er auch gelegentlich eine der Zigaretten, die ich ihm meinerseits auch immer anbot, lobte höflich ihren Geschmack und tat so, als habe er noch nie von Marlboro oder Stuyvesant gehört, geschweige denn sie geraucht.
Üblicherweise durfte ich mit meinen Anliegen beginnen. Nur dann, wenn die DDR-Seite einer Sache offenbar besonderen Nachdruck verleihen wollte und ihr erhöhte Brisanz zumaß, nahm sich Herr H. das Recht der ersten Rede und begann seinerseits ohne Ankündigung mit der Sache. Eine solche Bedeutung wurde beispielsweise meiner Zulassung als Beobachter zum Prozess vor dem Obersten Militärgericht in der Littenstraße gegen den ehemaligen DDR-Grenzsoldaten Jablonski zugemessen, der auf seiner Flucht in den Westen einen mit ihm Streife laufenden Kameraden heimtückisch in den Rücken geschossen und tödlich verletzt hatte. Diese Mitteilung wurde vorgezogen.
Haftbedingungen von Bundesbürgern in der DDR
Eine ernste und nicht hinnehmbare Angelegenheit waren die Haftbedingungen, denen bundesdeutsche Inhaftierte etwa in Bautzen II oder der Rummelsburg, einem Gefängnis in Berlin-Köpenick, ausgesetzt waren. Ich hatte diese Bedingungen in einem Grundsatzpapier als nicht vereinbar mit der Charta der Vereinten Nationen und dem Internationalen Zivilrechtspakt, dem die DDR 1978 beigetreten war und damit viel Propaganda machte, gerügt und es – wegen der Brisanz natürlich erst nach Billigung des Leiters der StäV – als Gesprächsnotiz H. übergeben. Dabei hatte ich mit deutlichen Worten die Zustände in den Gefängnissen als nicht hinnehmbar verurteilt. H. hatte das bei der Übergabe ohne Kommentierung entgegen genommen und die Prüfung durch die "zuständigen Organe der DDR" zugesagt. Monate später wurde dieses Papier Anlass für die Durchbrechung des üblichen Rituals der Erstansprache zur Sache. H. nahm sofort zu Beginn unseres Gesprächs – natürlich erst nach dem üblichen freundlichen Smalltalk – ein umfangreiches Antwortpapier aus seiner Mappe, setzte ein ernstes Gesicht auf und las das Papier vollständig vor, unter anderem auch Passagen, die meine Bewertung bei der Übergabe des Papiers als Verleumdung qualifizierten und all meine Beanstandungen als provozierend zurückwiesen. Dabei gebrauchte H. nicht etwa die persönliche Formulierung, wie sie in einem Gespräch zwischen zwei Menschen normal ist, sondern sprach von mir wie von einer dritten, nicht im Raume anwesenden Person. "Herr Ministerialrat Viehmann hat den Strafvollzug der DDR völlig falsch dargestellt und das Personal der Strafvollzugseinrichtungen verleumdet." Während des monotonen Vorlesens machte H. ein Gesicht, das in seiner angeborenen oder im Dienst erworbenen Ausdruckslosigkeit wohl zornige Zurückweisung signalisieren sollte. Seine wasserhellen Augen bemühten sich, der Wut der zuständigen Organe Ausdruck zu geben, brachten aber eher einen jämmerlichen Blick zustande, der zwischen dem Papier und dem Blickkontakt zu mir unstet hin- und herging. H. machte den Eindruck eines Menschen ohne Leidenschaften und ohne Substanz, ein formalistischer Vertreter seiner Befehlsgeber. Wären Sache und Situation nicht so traurig gewesen, ich hätte den beschriebenen Vorgang als lächerlich empfunden!
Wenig erfolgreich
Wir erreichten bei all unseren vielen Ansprachen nur ganz gelegentlich eine Änderung der Haltung der DDR. Die Ablehnungen unserer Bitten um mehr menschliche Behandlung einer Sache, etwa einem Ersuchen eines Bundesbürgers um Reiseerlaubnis für einen DDR-Bürger zur Beerdigung der verstorbenen Mutter oder zur Hochzeit der Schwester erfolgten unter Berufung auf einen Paragrafen des Reisegesetzes formalistisch ohne inhaltliche Begründung. H. trug das ohne Bedauern in der Stimme vor, monoton und mit dem lächerlichen Ernst seiner wasserhellen Augen. Die vorgetragene Ablehnung wirkte auf mich wie die Bestrafung der Reise begehrenden Menschen, vielleicht weil die in der Bundesrepublik lebenden Verwandten von einer Reise nicht in die DDR zurückgekommen waren oder weil der DDR-Bürger einen Ausreiseantrag gestellt oder sich lediglich durch einen Besuch bei uns in der bundesdeutschen Vertretung verdächtig gemacht hatte oder aus anderen Gründen, derer es viele gab. Als ich anfangs auf international vereinbarte Rechte auch für DDR-Bürger hinwies, wurde das mit der Bemerkung abgetan, ich dürfe nur die Angelegenheiten von Bundesbürgern vortragen, die Rechte von DDR-Bürgern lägen bei den Organen der DDR in guten Händen.
Eine Zollsache, die mich empörte, wurde wie vieles andere mit dem Hinweis auf die Gesetzlichkeit der DDR ohne weitere Begründung abgewiesen. Zunächst hatte Herr H. die Sache überhaupt nicht annehmen wollen. Er hatte die ihm gegebene Gesprächsnotiz gelesen, sein strenges Gesicht aufgesetzt, die Notiz mir wieder zurückgereicht mit der Bemerkung, die könne er nicht entgegennehmen. Als ich keinerlei Anstalten machte, sie zurückzunehmen, legte er sie auf den Tisch zwischen uns. Zur Begründung gab er auf meine Frage an, der Inhalt ignoriere, dass zwischen Wedding in Berlin (West) und Prenzlauer Berg in der Hauptstadt eine international anerkannte, hoheitliche Staatsgrenze liege. Die Notiz enthalte Formulierungen, die auf zwei benachbarte Stadtbezirke schließen ließen (was sie de facto ja auch waren). Das sei für die DDR nicht akzeptabel. Meinem Vorbringen lag ein ebenso trauriger wie für die Haltung der Zöllner und Grenzer der DDR typischer Anlass zugrunde. Von zwei Schwestern, die beide in Berlin lebten, wohnte die eine im Ostberliner Bezirk Prenzlauer Berg, die andere im Westberliner Bezirk Wedding. Beide, nach dem Krieg vertrieben aus jetzt polnischen Gebieten, waren arme Menschen. Die Westberlinerin hatte einen für sie enormen Geldbetrag von 10.000 DM angespart, die sie ihrer Schwester schenken wollte, damit die sich in Ostberlin ein wenig Luxus leisten könnte, denn für DM, sagte sie mir später, bekommt man in Ostberlin alles. Eine Einschätzung, die ich nur bestätigen konnte, jedenfalls alles, was man an materiellen Dingen für das Leben brauchte und gelegentlich noch ein bisschen mehr. Nach den Devisenbestimmungen der DDR durfte sie einen solchen Geldbetrag überbringen, vorausgesetzt sie deklarierte ihn in der Zollerklärung, die man bei einer Einreise oder einem Tagesbesuch in die DDR beziehungsweise nach Ostberlin auszufüllen hatte. Gerade dies aber hatte sie nicht getan, sondern das Geld in den Saum ihres Mantels genäht, weil sie glaubte, es nicht mitnehmen zu dürfen. Natürlich fiel sie durch Aufgeregtheit auf und wurde durchsucht. Das Geld wurde beschlagnahmt und sie selbst wieder zurückgeschickt. Sie hatte sich verzweifelt an uns gewandt. Wir akzeptierten die Sache zur Ansprache beim MfAA. Mir war der formale Verstoß gegen das Zollgesetz klar, ich setzte aber auf Entgegenkommen in diesem Fall, weil es für die bedürftigen Schwestern eine besondere Härte war, einen solch großen Geldbetrag zu verlieren, und weil es in der Sache selbst ja nicht verboten war. Sie hätte nur die Zollerklärung richtig ausfüllen müssen. Entsprechend fasste ich meine Gesprächsnotiz ab, appellierte an die Großzügigkeit der DDR und beschrieb, um die Harmlosigkeit der Sache zu unterstreichen, den Weg der Schwester von „Wedding nach Prenzlauer Berg“. Mein Gesprächspartner nahm den Gesprächszettel mit einem Vorbehalt entgegen. Ich hatte erläutert, dass ich keinerlei rechtliche Ausführungen habe machen, sondern lediglich den tatsächlichen Fußweg der Frau habe beschreiben wollen, der Anschaulichkeit wegen und um den harmlosen Charakter der Geldmitnahme zu verdeutlichen. Letztlich aber war es doch vergebens. Die ablehnende Antwort wies formal auf die Zollbestimmungen der DDR hin.
All diese Gespräche dauerten etwa zwei Stunden bis gegen Mittag. Danach fuhren wir in die StäV zurück. Mein Begleiter verteilte die Papiere mit den Antworten der DDR an die jeweiligen Sachbearbeiter, die die weitere Behandlung übernahmen, meist Nachricht an die Betroffenen, an das Bundeskanzleramt und das Innerdeutsche Ministerium, gegebenenfalls mit Empfehlungen für die weitere Sachbehandlung.
Arbeitsalltag in der StäV
Mein Arbeitstag in der StäV begann verhältnismäßig früh gegen 7:30 Uhr mit Blick in zwei Zeitungen, lokal Berliner Tagesspiegel, überregional Frankfurter Rundschau, deren Ostberliner Korrespondent gute Recherchen betrieb und sachkundige Artikel schrieb. Um 9:00 war Lagebesprechung, in der meist Interessantes aus allen Arbeitsgebieten berichtet wurde und in der Gaus, später Bölling
Nach der Lage begann die eigentliche Sach- und Aktenarbeit, die überwiegend in der Vorbereitung auf die Besuche bei Inhaftierten, der Nachbereitung dieser Besuche, der Berichte an das Bundeskanzleramt und das Innerdeutsche Ministerium unter anderem für die Frage, wer wann in die Freikaufsprioritäten einbezogen werden sollte, in der Vorbereitung auf die Vorsprachen bei der Konsularabteilung des MfAA, für die ja zahlreiche Gesprächsnotizen in Reise- und Haftangelegenheiten gefertigt werden mussten, sowie in der Anhörung von übersiedlungswilligen DDR-Bürgern, die zu uns in die Vertretung kamen, um ihr bei den DDR-Behörden gestelltes Übersiedlungsersuchen auch bei uns dokumentieren zu lassen. Sie verbanden damit die nicht unbegründete Hoffnung, auf diese Weise die Genehmigung der Übersiedlung, der Ausreise, wie es üblicherweise hieß, durch die Bemühungen der Bundesrepublik schneller zu erreichen.
Verzweifelte Ausreisewillige
Wir hatten diese Besuche und ihre Abwicklung in der StäV so organisiert, dass die Besucher von den Beamten des Hausordnungsdienstes in einen von außen nicht einsehbaren Warteraum geführt wurden. Von dort holte sie ein Sachbearbeiter des Referats in sein Dienstzimmer, ließ den Besucher, in den allermeisten Fällen übersiedlungswillige DDR-Bürger, seine Begehren vortragen und sagte die Unterrichtung des zuständigen Ministeriums der Bundesrepublik über den Ausreisewunsch zu. Allerdings würden die DDR-Behörden, nicht die Bundesrepublik über den Ausreisewunsch entscheiden. Ein kurzer Bericht über die Sache an Kanzleramt und Innerdeutsches Ministerium schloss die Arbeit bei uns ab. Wir erfuhren nicht, ob die Übersiedlung genehmigt worden war. Allerdings kamen manche Übersiedlungswillige mehrfach in die Vertretung. Sie berichteten dann häufig von Schikanen gegen die Familie, die selbst vor den Kindern in Schule und Kindergarten nicht Halt machten. Die Besucher folgten in den meisten Fällen unserer Bitte, die StäV wieder zu verlassen. Draußen vor dem Gebäude hielten sich Tag für Tag neben den uniformierten Volkspolizisten drei bis vier Menschen in Zivil auf, die offenbar Spitzel der Stasi waren. Kaum hatte ein Besucher die StäV verlassen, folgte ihm einer dieser Leute bis zu einem außer Sichtweite der Vertretung stehenden uniformierten Vopo, der auf ein Zeichen des Verfolgenden den Besucher anhielt und ihn kontrollierte. Dabei las er die Daten des Kontrollierten laut vor. Über das auf seiner Brust befestigte Mikrofon gelangten diese Daten dann offenbar zu einer Zentrale, die die örtlichen Stasi-Stellen unterrichtete. Denn viele der Besucher berichteten beim nächsten Besuch, wenn sie sich über den Stand der Sache informieren wollten, dass sie zu Hause von der Stasi geradezu abgefangen und gefragt wurden, was sie in der „Botschaft der BRD“ zu suchen gehabt hätten. Nicht selten wurde ein Strafverfahren gegen sie eingeleitet wegen verbotener Verbindungsaufnahme zu feindlichen Stellen. Die Stasi-Leute hielten sich unmittelbar vor unserem Gebäude und auf der gegenüber liegenden Straßenseite auf. Sie waren unordentlich gekleidet und wirkten wie obdachlose Penner. Ich hatte immer den Eindruck von verwahrlosten Nichtsnutzen, die sich als Spitzel prostituierten. Ich verachtete sie am meisten von all den vielen unsympathischen Menschen, die ich innerhalb der offiziellen DDR-Bediensteten in den Gefängnissen und Untersuchungshaftanstalten oder an den Grenzübergangsstellen neben manchen korrekten Leuten immer wieder antraf. Sie rauchten eine Zigarette nach der anderen, und ich wünschte ihnen manches Mal einen jämmerlichen Krebstod herbei.
Freikauf
Es gab Besucher, die mit den Auskünften der Sachbearbeiter nicht zufrieden waren und den nächsthöheren Vorgesetzten sprechen wollten. Aber ich konnte keine andere Auskunft als die schon erteilte geben. Wir taten uns häufig schwer, die Menschen zu bewegen, die StäV wieder zu verlassen und den Bemühungen der Bundesrepublik zu vertrauen. Manchmal waren alle Bemühungen ohne Erfolg. Wenn dann jemand in seiner Verzweiflung verlangte, im Kofferraum "rüber" gefahren zu werden, oder erklärte, er werde die Vertretung nicht mehr verlassen, sondern bitte um Asyl, dann hatte er, blieb er hartnäckig, letztlich Erfolg. In diesen Fällen wurde Rechtsanwalt Vogel geholt, der die Ausreise in absehbarer Zeit versprach, meist nach drei Monaten Wartezeit. Wir veranlassten die Besucher also, den weniger Erfolg versprechenden Weg zu gehen. Wir hatten deshalb nicht selten ein sehr ungutes Gefühl und manchmal ein schlechtes Gewissen. Allerdings war uns klar, dass eine andere Handhabung die Bemühungen des Freikaufs zunichtemachen würde. Wenn ich den Eindruck hatte, dass die Übersiedlungswilligen den Demütigungen und Schikanen der DDR-Behörden besonders ausgesetzt waren, verfasste ich einen dringlichen Bericht an Kanzleramt und Innerdeutsches Ministerium und mahnte die Einbeziehung in die „besonderen Bemühungen“ an. Ich erinnere mich noch gut an eine verzweifelte Mutter, deren 12-jährige Tochter an einer seltenen Herzkrankheit litt, die dem Kind nur wenige Überlebenschancen ließ, wenn nicht eine bestimmte, in der DDR nicht mögliche Operation durchgeführt würde. Sie hatte erfahren, dass es in der Bundesrepublik drei Kliniken gäbe, die bei der Behandlung dieser Krankheit Erfolge erzielt hatten, und wollte deshalb mit der Tochter nach Hannover zur Behandlung fahren. Ihr Reiseantrag war aber abgelehnt worden, obwohl der Vater und eine weitere Tochter in der DDR ausreichende Rückkehrmotivation waren. Auch ihre Intervention beim Gesundheitsministerium hatte keinen Erfolg. Die Tochter könne in der Charité ebenfalls gut und erfolgreich behandelt werden, lautete die Begründung. Dies war aber bis dahin nicht gelungen. Wegen der ablehnenden Haltung der DDR hatte die Familie beschlossen, einen Übersiedlungsantrag für die ganze Familie zu stellen. Dies war besonders prekär, weil der Vater Abteilungsleiter in einem Halbleiterwerk nahe bei Berlin war und deshalb als Geheimnisträger galt. Nach dem Besuch und dem Bericht der Mutter bei uns hatte ich mit dem behandlungswilligen Arzt in der Bundesrepublik gesprochen; er bestätigte die Angaben der Mutter über die Gefährlichkeit der Krankheit und die Heilungsprognose. Ich habe deshalb einen besonders dringlichen Bericht an das Bundeskanzleramt und das Innerdeutsche Ministerium geschrieben und auch noch einmal mündlich im Innerdeutschen Ministerium beziehungsweise der Zweigstelle des Ministeriums in Berlin (West) in einer alten Kaserne am Bundesplatz die Dringlichkeit der Sache betont. Die Frau verließ die StäV wieder. Ob die Bemühungen Erfolg hatten, habe ich nicht erfahren.
Dramatische Fälle
Andererseits hatte ich in manchem dramatischen Fall ein schlechtes Gewissen, wenn ich – wir hatten eine entsprechende Weisung des Bundeskanzleramtes – darauf beharrte, dass der Besucher die StäV verlassen müsse, und dieser Folge leistete. Denn blieb er in dem Warteraum sitzen und ließ sich auch von mir und meinem Abteilungsleiter nicht zum Verlassen des Gebäudes überzeugen, wurde er zum Leiter der Vertretung gebracht und hatte dann so gut wie gewonnen. "Ich bin Günter Gaus, was kann ich für Sie tun" empfing Gaus den Beharrlichen. Nach einigem Palaver und nach der Frage, ob er oder sie "eine Leiche im Keller" hätte, wurde dann Rechtsanwalt Vogel gerufen, der – schon vorgewarnt und so im Besitz einiger Informationen – auch bald erschien. Er sagte dem Übersiedlungswilligen die Ausreise binnen drei Monaten zu, wenn er absolute Verschwiegenheit bewahre, und nahm ihn in seinem goldfarbenen Auto, das die Vopos und Stasileute kannten, aus der Vertretung mit hinaus zum nächsten Bahnhof. Ich habe keinen Fall erlebt, in dem die Intervention Vogels nicht erfolgreich war.
Viele Übersiedlungswillige wussten wohl in den meisten Fällen durch entsprechende Indiskretionen, in welcher Weise sich die Beharrlichkeit auszeichne. Wir hatten daher immer ein schlechtes Gefühl, wenn es wieder einmal jemand geschafft hatte, dessen private Situation längst nicht so bedrückend war, wie bei vielen anderen, die wir mit Erfolg zum Hinausgehen hatten überreden können. Wir haben häufig diese Problematik im Referat diskutiert, und ich habe mehrfach die psychische Belastung für die Mitarbeiter in der morgendlichen Lage zur Sprache gebracht. Aber wir sahen letztlich keine Möglichkeit für eine andere Handhabung, wollten wir die Hilfe über Vogel auch für andere Fälle der Intervention bewahren. Hätte die Sache massenhaften Charakter angenommen, wie es später kurz vor der Wende geschah, wäre damals der Weg der besonderen Bemühungen verschüttet worden.
Manche der Übersiedlungswilligen hatten auch die Vorstellung, man würde sie im Kofferraum eines Autos über die Grenze bringen können und wollten dies mit dem Verharren erzwingen. Ich kann mich an eine junge Frau erinnern, die fest von diesem Weg überzeugt war. Ich habe lange mit ihr gesprochen, welche Möglichkeiten und Chancen der Ausreise es gebe, dass ich ihren Fall, der übrigens nicht bedrückend war, in meinem Bericht besonders hervorheben würde. Es schien, als habe ich sie überreden können. Sie erbat sich Bedenkzeit. Nach einer halben Stunde kam sie zu mir zurück, sagte, dass sie mir vertraue, aber dennoch auf ihrem Weg bestehen wolle. Als ihr schließlich von Bräutigam und Vogel die Dreimonatsfrist angeboten worden war, beharrte sie weiterhin auf ihrer Absicht, die StäV nicht zu verlassen. Sie könne Herrn Vogel kein Vertrauen schenken. Ich habe vorgeschlagen, mit ihr unter vier Augen noch einmal zu reden, und es gelang mir tatsächlich, sie zu überzeugen. Sie verließ mit Vogel das Gebäude. Monate später erhielt ich eine Postkarte aus den USA, in der sie sich für meine Mühe und meine Geduld mit ihr bedankte. Es habe so geklappt, wie ich es ihr geschildert hätte. Ich war sehr froh darüber.
Vielen dieser Menschen hätte ich am liebsten den Weg, bis zum Leiter der Vertretung auszuharren, empfohlen. Aber wir wussten, dass in unseren Zimmern die DDR über Wanzen mithörte und dass es Provokateure in DDR-Diensten gab, die uns zu Verletzungen der Absprachen mit der DDR und unserer Dienstpflichten verleiten wollten. Sei es, um es offiziell zu verwenden, wenn einer, aus welchem Grunde auch immer, für die DDR zur persona non grata geworden war. Ein solcher Grund konnte etwa die Anknüpfung intensiver Beziehungen zu einer DDR-Bürgerin sein. Das blieb natürlich nicht verborgen. Dann vermutete die DDR Hilfe zum verbotenen Grenzübertritt etwa im Kofferraum eines Autos. Grund konnte aber auch sein, dass jemand unsere diplomatischen Freiheiten des unkontrollierten Grenzübergangs ausnutzte und illegale Geschäfte etwa mit Kunstgegenständen betrieb. Beides hatte es tatsächlich gegeben. Mir ist allerdings jeweils nur ein Fall bekannt geworden. Die betreffenden Mitarbeiter der Vertretung waren nach Bonn zurückversetzt worden. Disziplinarverfahren wurden eingeleitet. Der Ausgang ist mir nicht bekannt. Ich bin mir sicher, dass zahlreiche solcher Dienstvergehen geschahen. Von einem ziemlich dreisten Missbrauch unserer Freiheiten habe ich erfahren, nachdem der Mitarbeiter wegen Ablaufs seiner Dienstzeit nach Bonn zurückgekehrt war. Man machte sich auf diese Weise erpressbar und beging ein Dienstvergehen. Und leider auch, wenn wir den übersiedlungswilligen Besuchern den Weg des Ausharrens offenbart hätten. Wir hielten uns also an die dienstliche Weisung, die Besucher in jedem Falle zum Verlassen des Gebäudes aufzufordern.
Einmal habe ich meine Dienstpflicht verletzt und einer Frau in ganz bedrückender Lage auf einen Zettel geschrieben, sie solle nicht darauf hören, was ich ihr sage, sondern nicht eher das Haus verlassen, bis man sie zum Leiter der Vertretung bringe und Vogel erscheine. Beim Überreichen des Zettels, schoss ihr das Blut ins Gesicht, und Tränen traten ihr in die Augen. Ich legte einen Finger auf meine Lippen, sie nickte. Ob es letztlich zu ihrer Ausreise kam, weiß ich nicht. Ich habe nie wieder etwas von ihr gehört.
"Einmischung"
Wir konnten diesen Teil unserer Aufgaben nicht im MfAA zur Sprache bringen, da es sich ja bei den Ausreisewilligen um DDR-Bürger handelte. Der Grundlagenvertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR erlaubte dies ausdrücklich nicht, und die DDR verbat sich insoweit strikt jede Bemühung unsererseits als Bruch des Vertrages und Einmischung in ihre Angelegenheiten. Unterhalb der offiziellen Ebene gab es aber viele Bemühungen und Verhandlungen zwischen Behörden oder Vertretern der DDR und der Bundesrepublik, in denen es auch um Belange von DDR-Bürgern ging. Diese Gespräche liefen über Vogel, Schalck-Golodkowski oder die Kirchen auf der eher mittleren Ebene. Dabei spielte der Konsistorialrat Stolpe, der spätere Ministerpräsident des Landes Brandenburg, eine wichtige und hilfreiche Rolle. Ich erinnere mich noch gut an die Berichte unseres für kirchliche Fragen zuständigen Kollegen, der gelegentlich von sehr hilfreichen Gesprächen mit ihm berichtete, wenn in manchen prekären Angelegenheiten nichts mehr „ging“. Bei seltenen schwerwiegenden Fällen kam es vor, dass von der politischen Ebene Hilfe erfolgte, etwa wenn Herbert Wehner oder Franz Josef Strauß mit Honecker zusammenkamen. Dabei spielten aber geldwerte Vorteile die entscheidende Rolle und die DDR-Seite ließ sich die menschlichen Zugeständnisse für ihre Bürger teuer gegen Devisen abkaufen. Sie verkaufte ihre Bürger wie weiland der Kurfürst von Hessen Landeskinder für den Militärdienst an Nordamerika. Dies im Bewusstsein und das Geschwätz […] um sozialistische Gesetzlichkeit und sozialistische Gerechtigkeit bei den Gesprächen im MfAA vor Augen, empfand ich häufig Abscheu und war zornig auf das Regime, das sich in seiner Propaganda so menschenfreundlich gab!
In einem
Zitierweise: Horst Viehmann, Dienstreise nach Pankow 1979 bis 1983 – Ein Reisebericht. Teil I: "Humanitäre Angelegenheiten", in: Deutschland Archiv, 23.9.2015, Link: www.bpb.de/211838