Gerüchteküche
Todesfälle in DDR-Haftanstalten unterlagen einer strengen Geheimhaltung. Im Westen konnte nur vermutet werden, wie oft Häftlinge sich in berüchtigten Gefängnissen wie Bautzen, Brandenburg oder Cottbus das Leben nahmen. Dennoch war die Tendenz der Mutmaßungen eindeutig. Schlagzeilen in der bundesdeutschen Presse wie "'DDR’ treibt Häftlinge zum Selbstmord" oder "Politische Häftlinge begingen Selbstmord" suggerierten ebenso wie die TV-Sendung "ZDF-Magazin", dass politische Repression in der DDR zu zahlreichen Verzweiflungstaten von Inhaftierten geführt hatte.
Quellenlage und Fakten
Wie massiv war die Suizidalität in den DDR-Gefängnissen nun tatsächlich? Durch die Öffnung der Archive der SED-Diktatur nach 1990 wurde es möglich, die Häufigkeit von Selbsttötungen in den Gefängnissen genau zu ermitteln, und zwar durch Auszählung der in den Meldebüchern der Verwaltung Strafvollzug des Ministeriums des Inneren (MdI) dokumentierten Vorkommnisse. Diese Quellenart hat den Vorteil, dass sie eine nahezu lückenlose Erfassung ermöglicht, da es sich um fortlaufende Eintragungen in Büchern handelt. Zwar ist nicht auszuschließen, dass vereinzelte Selbsttötungen als Unfälle oder natürliche Todesfälle gemeldet wurden; Anzeichen für eine systematische Verschleierung von Selbsttötungen gibt es aber nicht. Das ergab ein Abgleich mit Akten verschiedener Volkspolizei-Bezirksbehörden und des Staatssicherheitsdienstes: In den MfS-Akten fand sich kein einziger vollendeter Suizid, der nicht auch in den Meldekarteien der Hauptverwaltung Strafvollzug enthalten war. Auch die in bundesdeutschen Medien gemeldeten Selbsttötungen von Inhaftierten ließen sich (abgesehen von einem Fall, bei dem das angebliche Opfer ein halbes Jahr später noch lebte)
Was ergibt sich nun aus der Auszählung der Vorkommnisse? Zwischen 1972 und 1988 wurden der Hauptverwaltung Strafvollzug 169 Selbsttötungen gemeldet, was bei durchschnittlich 32.000 Inhaftierten einer Selbsttötungsrate (Zahl der Suizide pro 100.000 Menschen pro Jahr) von 31,2 entsprach. Die mittlere Selbsttötungsrate der männlichen DDR-Bevölkerung betrug im selben Zeitraum 43,9, die der weiblichen 23,6; die Selbsttötungsrate der Strafgefangenen in der DDR lag also nahe am DDR-Durchschnitt. Das heißt, Selbsttötungen traten in den Strafvollzugsanstalten der DDR – zumindest in der Regierungszeit Erich Honeckers – keineswegs gehäuft auf. Dieses Ergebnis steht in klarem Kontrast zu bis heute noch weithin vorherrschenden Vorstellungen.
Erklärungsversuche
Wie ist es zu erklären, dass im Westen ein völlig falsches Bild verbreitet wurde? Erstens ging die häufig vorgebrachte Behauptung hoher beziehungsweise steigender Selbsttötungsraten in DDR-Gefängnissen oft auf Aussagen von Häftlingen zurück, die von der Bundesregierung freigekauft worden waren. Diesen wiederum war das Thema Selbsttötungen ab Mitte der 1970er Jahre schon deshalb präsent, weil sich nach dem Fanal des Pfarrers Brüsewitz, der sich 1976 in Zeitz öffentlich verbrannt hatte, um gegen die kommunistische Indoktrinierung der Jugend zu protestieren, in mehreren DDR-Haftanstalten Aufsehen erregende Selbstverbrennungen ereignet hatten, die zum Teil politisch motiviert waren.
Zweitens erhängten sich in der Haftanstalt Bautzen II in den 1980er Jahren zwei wegen Spionage für westliche Geheimdienste Inhaftierte.
Drittens erfüllten Berichte über suizidale Häftlinge im Osten eine propagandistische Funktion, wobei Selbsttötung als Chiffre für Verzweiflung in totalitären Verhältnissen stand. Die Realität und die wirkliche Verzweiflung in den DDR-Gefängnissen erfasste diese ideologische Sichtweise jedoch kaum.
Die westliche Fehlperzeption erscheint noch viel eklatanter, wenn man den Vergleich zur Situation in bundesdeutschen Gefängnissen zieht. Hier erreichte die Selbsttötungsrate in den 1970er Jahren Werte zwischen 130 und 160 und war damit etwa vier- bis fünfmal so hoch wie in der DDR.
Wie kann dieser erstaunliche Ost-West-Unterschied erklärt werden? Zunächst einmal: Grundsätzlich gibt es wenig Berechtigung dafür, aus der schockierenden Höhe der Suizidrate in bundesdeutschen Gefängnissen eine Kritik an den Zuständen in den Haftanstalten abzuleiten, wie das in den 1970er Jahren im Kontext linker Gesellschaftskritik bisweilen geschah.
Vielmehr waren suizidale Tendenzen in den Gefängnissen beider deutscher Staaten aller Wahrscheinlichkeit nach etwa gleich häufig. Die in der Bundesrepublik in den Jahren 1970 bis 1979 registrierte Gesamtrate der Selbstverletzungen und Suizidversuche betrug 460. Die offizielle Rate für den gesamten DDR-Strafvollzug lag zwar "nur" bei 130; hier ist jedoch, anders als bei den vollendeten Suiziden, eine hohe Dunkelziffer zu vermuten, da oft nur "ernsthafte Suizidversuche" gemeldet wurden.
Somit muss die Frage lauten: Warum verliefen in DDR-Gefängnissen deutlich weniger Suizidversuche tödlich als in der Bundesrepublik? Um das Jahr 1960 war die Selbsttötungshäufigkeit in den Gefängnissen beider deutscher Staaten noch ähnlich hoch. Dann jedoch setzte in der DDR eine Abwärtsentwicklung ein, die Suizidrate verringerte sich um fast zwei Drittel und sank später noch mehr ab. Zwischen 1976 und 1980 wurden im DDR-Strafvollzug insgesamt 61 Selbsttötungen registriert, im Zeitraum von 1981 bis 1985 waren es lediglich 50.
Untersuchungshaft als Risikofaktor
"Bisherige Untersuchungen zeigen, daß Selbstmord[e] in Gefängnissen in engem Zusammenhang stehen mit dem Statusverlust, Rollenverlust, dem Bruch sozialer Beziehungen, der Isolierung, der Erschütterung des Normen- und Wertgefühles des Gefangenen, seine[r] Herabwürdigung und Demütigung in der Einweisungsphase und mit den Kommunikationsbeschränkungen durch die Einzelhaft", konstatierte eine westdeutsche Studie über Suizide Inhaftierter.
Hinzu kam, dass es in der Bundesrepublik aufgrund der längeren Verfahrenszeiten mehr Untersuchungshäftlinge gab. Während in der DDR der Anteil der Untersuchungshäftlinge an allen Inhaftierten von knapp einem Viertel (im Jahr 1960) auf Werte um zehn Prozent in den 1970er Jahren sank, saßen in der Bundesrepublik in den 1970er Jahren etwa 25 bis 30 Prozent der Inhaftierten in U-Haft. Die zeitliche Korrelation zwischen dem Sinken des Anteils von Untersuchungshäftlingen und der Selbsttötungsrate in den DDR-Gefängnissen gibt Grund zu der Annahme, dass hier der Schlüssel zum Verständnis der unterschiedlichen Höhe der Selbsttötungsraten in den ost- und westdeutschen Gefängnissen liegt.
Verhinderung statt Prävention
Worin genau unterschied sich der Vollzug der Untersuchungshaft? Im Strafvollzug der DDR galt die "Richtlinie", dass Selbsttötungen "unter allen Umständen und mit allen Mitteln zu verhindern" waren.
"Selbstmordversuche und andere Vorkommnisse, durch die sich die U-Gefangenen der Verantwortung entziehen wollten, sind stark zurückgegangen. Sie konnten in jedem Fall verhindert werden. Dazu trugen wesentlich die Aufnahmegespräche, die mit allen U-Gefangenen geführt wurden, bei."
"Gespräche" waren aber insgesamt eher die Ausnahme bei der Verhinderung von Selbsttötungen im Gefängnis.
Die Erklärung für das Absinken der ostdeutschen Haftsuizidrate ist somit kaum auf der Ebene des Entstehens von Resignation und Suizidimpulsen, sondern auf der Ebene der Realisierbarkeit dieser Handlungsintentionen zu suchen. Das wird noch unterstrichen, wenn man die Untersuchungsgefängnisse der Staatssicherheit betrachtet. Eine Stichprobe im MfS-Untersuchungsgefängnis Halle (Saale) aus dem Jahr 1984 ergab, dass bei fast bei einem Fünftel aller Neuzugänge Suizidgefahr bestand.
Bundesrepublik: Weniger Überwachung, aber tolerierte Suizide?
Vergleicht man diese Maßnahmen mit dem Alltag in bundesdeutschen Untersuchungsgefängnissen, dann zeigt sich, dass zwar einige Dinge formal ähnlich geregelt waren. Wie in der DDR musste auch in bundesdeutschen Häftlingsakten Suizidgefährdung mit roter Farbe vermerkt werden, und auch hier galt die Forderung, Selbsttötungen möglichst zu verhindern. Ein wichtiger Unterschied bestand jedoch in der Intensität der Überwachung. "Sicherungsmaßnahmen, wie sie früher usus waren, indem man die ganze Nacht das Licht der Einzelzelle brennen läßt und stündlich durch den Spion kontrolliert, dienen eher dazu, den Selbstmordkandidaten in den Freitod zu treiben, denn als wirkliche Vorsorge", schrieb ein Gefängnisarzt aus West-Berlin im Jahr 1977.
Foto der Zelle von Gudrun Ensslin in der Strafvollzugsanstalt Stuttgart-Stammheim vom Dezember 1974 (© Picture-alliance, dpa - Report)
Foto der Zelle von Gudrun Ensslin in der Strafvollzugsanstalt Stuttgart-Stammheim vom Dezember 1974 (© Picture-alliance, dpa - Report)
Zwei Zeugnisse von der Schnittstelle zwischen ost- und westdeutschem Strafvollzug unterstreichen, wie unterschiedlich die Herangehensweise an das Suizidproblem in beiden deutschen Staaten war. Erstens kommt das in einer auf der Basis bundesdeutscher Presseberichte durchgeführten MfS-Analyse negativer Erfahrungen mit RAF-Terroristen zum Ausdruck.
Zweitens konstatierten auch ehemalige Angestellte im DDR-Strafvollzug, die nach 1990 in den bundesdeutschen Strafvollzug übernommen wurden, unterschiedliche Kontrollstandards. Die "Durchsetzung der Sicherheit" sei in DDR-Gefängnissen "radikaler" praktiziert worden als es in der Bundesrepublik der Fall sei. Es seien "regelmäßig Kontrollen der Zellen auch zur Nachtzeit, der Arbeitsbetriebe sowie körperliche Durchsuchungen der Inhaftierten" durchgeführt worden. "Nach dem Empfang von Besuch hätte sich jeder Inhaftierte entkleiden müssen und sei genau überprüft worden. Heute würden nur noch Stichproben durchgeführt,“ monierten die Beamten und priesen die früheren Verhältnisse: "Für die Haftraumkontrollen sei es insbesondere günstiger gewesen, daß die Inhaftierten nur eine gesetzlich vorgeschriebene Normausstattung hatten und die Zellen dadurch viel überschaubarer und leichter zu kontrollieren gewesen seien."
Es gibt zudem auch Indizien dafür, dass im Zuge eines liberaleren Strafvollzuges in der Bundesrepublik Selbsttötungen in bestimmten Fällen akzeptiert wurden; vor allem die RAF-Selbsttötungen lösten eine größere Debatte aus. "Jeden und unter allen Umständen von einem Selbstmord abzuhalten, heißt, einem falschen Humanismus zu huldigen", schrieb zum Beispiel der Berliner Strafrechtsprofessor Joachim Wagner.
Strukturelle Faktoren
Zunächst unterschied sich die Art der Unterbringung in beiden deutschen Staaten. Sie entsprach im Großen und Ganzen den unterschiedlichen Gesellschaftsordnungen: Im Osten kollektiv, im Westen individuell. In der DDR war Gemeinschaftsunterbringung vorherrschend; noch 1995 wurden in den neuen Bundesländern etwa 80 Prozent der Strafgefangenen gemeinschaftlich untergebracht.
Damit zusammenhängend muss als weiterer, die Suizidrate senkender Faktor die Arbeitspflicht für DDR-Strafgefangene in Betracht gezogen werden. Die Strafgefangenen hätten weniger Freizeit gehabt, es sei weniger Zeit zum "Nachdenken über suizidale Handlungen vorhanden" gewesen, resümierte ein Bautzener Strafvollzugsangestellter rückblickend. Die enge Gemeinschaft in Arbeit und Unterbringung hätte bewirkt, dass die Inhaftierten "sich untereinander gut kannten und sich teilweise auch privat vertrauten."
Als weiterer Faktor könnte auch – ganz im Gegenteil zu den Mutmaßungen bundesdeutscher Medien – der höhere Anteil von politischen Häftlingen in der DDR zu der geringen Selbsttötungsrate beigetragen haben. Die Zahl der jährlich aus politischen Gründen Inhaftierten wurde für die 1980er Jahre von Johannes Raschka mit ca. 3000, von Falco Werkentin für Anfang der 1960er Jahre mit ca. 6000 angegeben. Damit waren etwa 10 bis 20 Prozent der Gefängnisinsassen politische Häftlinge.
Schließlich könnte es aber auch unabhängig vom konkreten Delikt, angesichts der Tatsache, dass die Gefangenenziffer (also die Zahl der Inhaftierten je 100.000 Einwohner) in der DDR im Vergleich zur Bundesrepublik trotz niedrigerer Kriminalitätsrate mehr als doppelt so hoch war,
Fazit
Zu den strukturellen Faktoren, die den großen Unterschied in den Suizidraten Inhaftierter erklären können, zählen der höhere Anteil von Untersuchungshäftlingen in der Bundesrepublik, die größere Gefangenenziffer und der größere Anteil politischer Häftlinge in der DDR (sowie deren Hoffen auf Freikauf), das Vorherrschen gemeinschaftlicher Unterbringung sowie die Arbeitspflicht in der DDR. Die wahrscheinlich wichtigste Erklärung für die vergleichsweise niedrige Selbsttötungsrate in den DDR-Gefängnissen ist jedoch die nahezu totale Überwachung im DDR-Strafvollzug. Während man in der Bundesrepublik zurückhaltend bei der Anwendung menschenunwürdiger Sicherheitsvorkehrungen (bei gleichzeitigen Bestrebungen, den Strafvollzug strukturell zu reformieren) war und zudem seit den 1970er Jahren auch die psychologische Betreuung eine stärkere Rolle spielte, wurde in der DDR die zwangsweise Lebenserhaltung durch Medikamentengabe, Fesselung, Arrest und verschärfte Überwachung perfektioniert. Um die Häufigkeit von Selbsttötungen in Haftanstalten zu verstehen, ist es wenig zielführend, pauschal auf die Durkheim’sche Gleichung "hohe Selbsttötungsrate = soziale Pathologie" zu verweisen.
Zitierweise: Udo Grashoff, Suizide in Haftanstalten: Legenden und Fakten, in: Deutschland Archiv, 10.9.2015, Link: www.bpb.de/211769