Die Freude, an dieser Veranstaltung teilnehmen zu können, ist bei mir mindestens so ausgeprägt wie bei Ihnen, denn wir erinnern heute an ein außergewöhnliches und herausragendes Datum der jüngeren deutschen Geschichte. Nicht nur, aber ganz besonders im Zusammenhang mit dem 18. März fällt auf, dass der Lauf der Geschichte Historikern retrospektiv gerne erstaunlich folgerichtig erscheint, während er, wie auch gerade Alfred Grosser verdeutlicht hat, von den betroffenen Zeitgenossen, einschließlich der politischen Intellektuellen und Publizisten, in ihren Einschätzungen der Lage und der darauf gründenden Prognosen völlig anders als die tatsächlichen Entwicklungen wahrgenommen wird.
Mehr als manche andere historische Daten steht der 18. März für die Irrwege und Umwege, die Kontinuitäten und Brüche der deutschen Geschichte: Mit dem 18. März verbindet sich 1793 der erste vorläufige und vorübergehende Versuch auf deutschem Boden, so etwas wie eine parlamentarische Demokratie zu errichten, die Mainzer Republik, die es ohne die unmittelbar stattgefundene Französische Revolution und den handfesten Beitrag französischer Besatzungssoldaten nicht gegeben hätte und die sich von den autoritären Vorläufern ebenso deutlich unterschied wie von dem, was wir uns heute unter einem halbwegs ernst zu nehmenden Parlamentarismus vorstellen. Mit dem 18. März verbindet sich im Jahr 1848 der berühmte Aufstand in Berlin und der wiederum vergebliche Versuch, sich aus autoritären Strukturen zu befreien und die Voraussetzungen für ein politisch selbstbestimmtes Leben, für eine Entwicklung des Landes zu legen, die nicht von einigen wenigen ohne die Möglichkeit der Kontrolle, der Mitgestaltung bestimmt wird, sondern die in freier Selbstbestimmung gefunden werden kann. Und schließlich verbindet sich mit diesem Datum der 18. März im Jahr 1990, bei dem jedenfalls mit Blick auf die anderen genannten Daten zum ersten Mal der Versuch zu einem glücklichem Ende gebracht worden ist, Demokratie als Ausdruck von Mündigkeit und Selbstbestimmung und als Instrument zur Realisierung eines Gestaltungswillens nicht nur rhetorisch zu verstehen, sondern mit historischer Wirkung durchzusetzen.
Wir erinnern heute nicht zum ersten Mal an dieses Ereignis und ich hoffe, wir werden nicht zum letzten Mal an dieses Datum erinnern, denn es wird aus den dargestellten Gründen seinen besonderen Stellenwert in der Geschichte und insbesondere in der Parlamentsgeschichte unseres Landes behalten. Die Arbeit der damals ersten, einzigen und letzten frei gewählten Volkskammer der DDR war in nahezu jeder Beziehung ein außerordentlicher Beitrag zur deutschen Parlamentsgeschichte. Und auch wenn keiner der folgenden Hinweise den Anspruch auf Originalität erheben kann, lohnt es, mindestens noch einmal an einige der Aspekte zu erinnern, mit denen sich die Arbeit dieser Volkskammer in beachtlicher Weise von der typischen Arbeit gewählter Parlamente unterscheidet.
Es beginnt bereits mit einem Wahlkampf, der nicht nur für DDR-Verhältnisse außergewöhnlich war: Nach meiner Wahrnehmung war es eigentlich schon der erste "gesamtdeutsche" Wahlkampf. Dieser hat also nicht erst nach vollzogener Einheit im Dezember 1990 stattgefunden, sondern bereits zur Volkskammerwahl im März, was sicher nicht die einzige Erklärung, aber ein Teil der Erklärung für das wiederum erstaunliche Wahlergebnis war. Auch hier neigen wir mit dem zeitlichen Abstand von inzwischen einem Vierteljahrhundert dazu, das Ergebnis dieser Wahl mit der Perspektive von Historikern für folgerichtig zu halten, aber man wird daran erinnern müssen, dass damals beinahe jedes Ergebnis für möglich gehalten wurde, aber kaum das, das an jenem Tage zustande kam. Dieses wiederum war die Grundlage für eine Regierungsbildung, die so auch kaum jemand vorausgesehen hatte – einschließlich des gewählten Regierungschefs, der vermutlich bis zur Verkündigung des Wahlergebnisses mit dieser Option nicht einmal heimlich gerechnet, geschweige denn irgendwelche Versuchsanordnungen für diese Aufgabenstellung in seinem geistigen Repertoire zurechtgelegt hatte. Es war damals gleichzeitig die Voraussetzung für eine funktionierende Arbeitsteilung zwischen einer parlamentarischen Mehrheit und einer Minderheit, die sich auch als wirkliche Opposition verstehen und als solche handeln konnte, was wiederum für die Geschichte der Volkskammer eine völlig neuartige Erfahrung war. Mich selber als jemand, der diesen politischen Prozess mit großem Interesse von außen verfolgt hat, aber nicht aktiv daran beteiligt war, würde die Aufarbeitung der damaligen Erfahrungen besonders interessieren, die mit den Vorläufern dieser Wahl und dem tatsächlichen Wahlergebnis zusammenhängt.
Für viele der Bürgerrechtler in der DDR, die monatelang unter außerordentlich schwierigen Bedingungen hoch aktiv waren, muss das Ergebnis indessen nicht nur überraschend, sondern eine tief sitzende Enttäuschung gewesen sein. Mein Gespür sagt mir: Eine vergleichbar gefühlte unverständliche und als ungerecht empfundene Wahlniederlage dürfte es in der Parlamentsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland wohl nicht gegeben haben, als das Wahlergebnis in der Wahrnehmung derjenigen, die sich dafür über Monate engagiert hatten, dass aus einem autoritären Staat ein Neuanfang mit freien Wahlen werden konnte, um endlich selber über die eigene politische Verhältnisse zu befinden. Der gut gemeinte Hinweis, den ich selber vor fünf Jahren zum gleichen Anlass bei unserer Veranstaltung im Deutschen Bundestag vorgetragen habe, dass das Wesen einer Demokratie weniger darin besteht, dass es Mehrheiten gibt, sondern dass Minderheiten nicht nur zulässig sind, sondern auch eine eigenständige, unverzichtbare und die Vitalität einer Demokratie prägende Rolle spielen, hat schon damals niemand für falsch gehalten, aber wird sich vermutlich für viele der Bürgerrechtler trotzdem als ein eher schaler Trost im Verhältnis zwischen dem erhofften und tatsächlich eingetroffenen Wahlergebnis dargestellt haben. Viele, übrigens auch aus den Reihen der Bürgerrechtler, haben das Wahlergebnis damals als ein Plebiszit für die deutsche Einheit verstanden, was eine maßvolle Übertreibung ist. Jedenfalls fällt auch mir keine überzeugendere einzelne Erklärung für die erstaunlichen Wählerpräferenzen ein, als das Bedürfnis, mit dem Stimmzettel unmissverständlich klarzumachen, auf welches Gestaltungsziel man nun unter den Bedingungen freier Wahlen so zügig und so entschlossen wie möglich zugehen wollte.
Wenn ich mit voller Überzeugung sage, dass die Arbeit der Volkskammer in nahezu jeder Beziehung ein außerordentlicher Beitrag zur Geschichte des deutschen Parlamentarismus war, dann gilt dies auch und in besonderer Weise für das unglaubliche Arbeitspensum, das diese Volkskammer geleistet hat. Und es gilt erst recht im Vergleich zu den früheren Volkskammern, auch wenn dieser Vergleich einigermaßen unanständig ist, aber wir reden immerhin jetzt mit einem gewissen zeitlichen Abstand, den die Historiker schon für ausreichend halten, um vorläufig abschließende Beurteilungen vorzutragen. Die Volkskammer alten Musters kam nämlich im Durchschnitt höchstens dreimal im Jahr zusammen. Dem standen nun in gerade einem halben Jahr 38 Sitzungen der frei gewählten Volkskammer gegenüber, die in dieser Zeit über 150 Gesetze, mehr als 100 weitere Entschließungen, Beschlussfassungen, Empfehlungen erarbeitet und beschlossen hat – und dies keineswegs etwa zur routinemäßigen Fortschreibung von europäischen Agrarmilchpreisverordnungen oder Ähnlichem, sondern zu schwierigsten, die Architektur des eigenen und eines künftigen gemeinsamen deutschen Staates betreffenden Grundsatzfragen. Vor diesem Arbeitspensum, schon gar unter den damaligen Arbeitsbedingungen, kann sich ein westdeutscher Parlamentarier nur in Respekt verneigen. Zeitgleich hätten wir wohl im Deutschen Bundestag vergleichbare Arbeitsbedingungen für offenkundig unzumutbar erklärt und mit oder ohne Zuhilfenahme des Deutschen Gewerkschaftsbundes mit der zeitweiligen Niederlegung unserer Tätigkeit gedroht, weil unter den gegebenen Bedingungen die uns übertragenen Aufgaben seriös nicht zu bewältigen gewesen wären. So ähnlich, glaube ich, hätten wir das ganz gewiss empfunden. Man hätte – mal umgekehrt formuliert – den damaligen Kolleginnen und Kollegen auch nicht verübeln können, wenn sie in einer ähnlichen Weise die Aussichtslosigkeit mit Blick auf die Arbeitsbedingungen reklamiert hätten. Glücklicherweise haben sie trotz dieser unzumutbaren Arbeitsbedingungen das Mandat nicht nur an-, sondern wahrgenommen. Dafür gebühren ihnen unser nachhaltiger Respekt und unsere Bewunderung. Um das für die Nachwelt mindestens zu dokumentieren, haben wir bereits vor fünf Jahren in einem bemerkenswerten Kraftakt alles, was damals an Sitzungen stattgefunden hat, digitalisiert und archiviert, sodass sämtliche 39 Sitzungsprotokolle mit 4400 Drucksachen auf 1900 Seiten, 730 Akten sowie sämtliche Tagesordnungen und Sitzungsberichte der 26 Ausschüsse der frei gewählten Volkskammer auf der Website des Bundestages für die Ewigkeit in Bild und Ton dokumentiert sind. Jeder, der sich einen Eindruck von dem verschaffen will, was damals debattiert und bewältigt worden ist, kann dies tun. Sogar Video-Aufzeichnungen von etwa 200 Stunden Verhandlungen sind auf unserer Website abrufbar.
Ich möchte Sie auf einen weiteren Punkt aufmerksam machen, der in der bisherigen Beschäftigung mit dem Jahr 1990 und der Zeitspanne vom 18. März über den 3. Oktober bis zur gesamtdeutschen Wahl im Dezember etwas vernachlässigt, jedenfalls nicht mit besonderer Aufmerksamkeit betrachtet worden ist. Als die Volkskammer am 18. März 1990 zum ersten Mal frei gewählt werden konnte, haben 93,4 Prozent der Wahlberechtigten von ihrem Wahlrecht Gebrauch gemacht. Das ist die höchste Wahlbeteiligung, die es im 20. Jahrhundert bei freien Wahlen in Deutschland jemals gegeben hat. Ich hatte angenommen, diese Wahlbeteiligung könnte nur noch ein einziges Mal überboten worden sein, nämlich bei der ersten Wahl eines gesamtdeutschen Parlamentes im Dezember des gleichen Jahres. Tatsächlich hatten wir dann eine Wahlbeteiligung von 77,8 Prozent – das war die bis dahin niedrigste Wahlbeteiligung seit 1949. Etwas zugespitzt formuliert: Bei jeder routinemäßigen, um nicht zu sagen: "gewöhnlichen" Wahl zwischen 1949 und 1990 hatten wir in West-Deutschland höhere Wahlbeteiligungen als bei der ersten gesamtdeutschen Wahl. Das ist ein Befund, der eine intensivere Beschäftigung verdient. Bei der Suche nach Relationen habe ich mir die Liste der Wahlbeteiligungen vor 1990 noch einmal angesehen und dabei einen interessanten Fund gemacht. Die zweitschlechteste Wahlbeteiligung gab es 1949. Da lag sie beinahe genauso hoch oder genauso niedrig, nämlich bei 78,5 Prozent. Ich will hier ohne Anspruch auf eine abschließende Beurteilung meine Vermutung zum Ausdruck bringen, dass es für die individuelle Entscheidung, von dem Wahlrecht Gebrauch zu machen oder auch nicht, möglicherweise eine erhebliche Rolle spielt, ob man mit der anstehenden Wahlentscheidung einen nachhaltigen, notwendigen, spürbaren Beitrag zur weiteren Entwicklung leisten kann und will oder ob man umgekehrt den Eindruck hat, dass das, was unbedingt entschieden werden musste, doch im Grunde bereits befriedigend entschieden worden sei. Jedenfalls spricht bei der erstaunlichen Differenz der Wahlbeteiligungen innerhalb von sechs Monaten im Jahr 1990 manches für die Erklärung, dass ein beachtlicher Teil der Wählerinnen und Wähler in Ost wie West den Eindruck hatte: Nun sei mit dem Vollzug der deutschen Einheit zwar nicht alles perfekt geregelt, aber doch wenigstens so, wie man es sich vorgestellt hatte; nun müsse man sich nicht unbedingt die Mühe machen, die vergleichsweise kleinteilige Frage zu stellen, in welchen parteipolitischen Konstellationen es in geordneten Bahnen weitergehen sollte.
Ohne das überinterpretieren zu wollen, finde ich es auffällig, dass diese beiden erstaunlich niedrigen Wahlbeteiligungen bei jeweils prominenten Wahlen in unmittelbarem zeitlichem Zusammenhang zu einer Verfassungsentscheidung stattgefunden haben. Die erste Bundestagswahl erfolgte ein halbes Jahr nach Verabschiedung des Grundgesetzes. Und in offenkundig ähnlicher Weise wie im Jahr 1990 nach der Entscheidung der Volkskammer, diesem Grundgesetz beizutreten, haben möglicherweise damals auch viele der Wahlberechtigten gesagt: "Jetzt ist es im Prinzip ja so geregelt, wie wir uns das für den Neuanfang vorstellen." Übrigens wiederum mit dem Effekt, dass das Wahlergebnis deutlich anders ausfiel, als sich das viele vorgestellt hatten. Dies ist eine Lektion, die manche der Wählerinnen und Wähler vielleicht doch gründlicher lernen sollten, als sie dazu üblicherweise neigen.
Ich persönlich finde jedenfalls die gelegentlichen Debatten, dass die rückläufigen Wahlbeteiligungen in Deutschland ein offensichtlicher Ausdruck für Politikverdrossenheit, Misstrauen, Enttäuschungen seien, voreilig. Abgesehen davon, dass wir im internationalen Vergleich immer noch eine überdurchschnittliche und keineswegs unterdurchschnittliche Wahlbeteiligung haben. Dass wir in Deutschland in der Wiederaufbauphase nach dem Zweiten Weltkrieg über lange Zeit erstaunlich hohe Wahlbeteiligungen bei Bundestagswahlen hatten, die regelmäßig über 80 Prozent lagen und bei den besonders spannenden Auseinandersetzungen um die Ostverträge – ein Zusammenhang, den Alfred Grosser vorhin zu Recht angesprochen hat – auch schon einmal knapp über 90 Prozent gelegen haben, hatte sicher auch mit dem Bedürfnis zu tun, sich selbst und anderen nachzuweisen, dass wir den zweiten Anlauf, in Deutschland Demokratie zu praktizieren, nicht wieder würden scheitern lassen wollen, und auch damit, dass dieses Demonstrationsbedürfnis – "jetzt nehmen wir die Demokratie ernst" – möglicherweise die unmittelbare Nachkriegsgeneration in einer besonders starken Weise politisch wie persönlich motiviert hat. Das kann man von jetzt 20-, 30- oder auch 40-Jährigen nicht mehr in derselben Weise voraussetzen, sie verhalten sich heute ebenso normal wie etwa Franzosen, Briten, Italiener oder Amerikaner. Und man muss gelegentlich auch einmal daran erinnern, dass noch kein amerikanischer Präsident mit einer Wahlbeteiligung gewählt worden ist, die auch nur in der Nähe der niedrigsten Wahlbeteiligungen gelegen hätte, die wir bei Bundestagswahlen je erreicht haben. Spannender ist in diesem Zusammenhang die Frage, ob wir ein Problem mit der Repräsentativität der Demokratie haben, ausgedrückt durch die Wahl von Volksvertretern einerseits und den Erwartungen einer aufgeklärten Gesellschaft an unmittelbarer Mitwirkung, an persönlicher Entscheidung über relevante Sachverhalte andererseits – die berühmte Frage also: repräsentative oder plebiszitäre Demokratie? Auch da gibt die kurze spannende Geschichte der sich auflösenden DDR eine Reihe von interessanten Befunden zwischen plebiszitärer und repräsentativer Willensbildung, etwa die Runden Tische, die nach meinem Verständnis so etwas wie ein Verbindungsglied zwischen dem einen und dem anderen Anspruch waren. Manches wäre, so glaube ich, ohne die Tätigkeit der Runden Tische nicht oder nur schwer möglich gewesen. Ich halte es für offenkundig, dass der Transformationsprozess, der damals über Runde Tische organisiert worden ist, nicht ohne diese hätte organisiert werden können – weder unter dem Gesichtspunkt demokratischer Legitimation noch unter dem Gesichtspunkt der praktischen Beherrschbarkeit von politischen Entscheidungsprozessen.
Mit dieser Frage hat sich vor ein paar Tagen auch unser Bundespräsident in einem Artikel einer großen Wochenzeitung auseinandergesetzt, in der er seine persönlichen Erfahrungen der damaligen Zeit und seine kurze Mitgliedschaft in der Volkskammer resümiert.
Dies führt uns wieder zur historisch herausragenden Rolle der Volkskammer zurück, die damals mit einem Mandat ausgestattet war, das sie in einer Weise füllen konnte und füllen musste, für die es in der deutschen und europäischen Geschichte kein wirkliches Beispiel gibt. Ich habe mir die Zusammensetzung der Volkskammer unter dem Gesichtspunkt einiger sozialer Daten angesehen. Auch da macht man eine Reihe von interessanten Befunden. Die Volkskammer war beispielsweise jünger als es die Bundestage jemals davor und danach gewesen sind. Das Durchschnittsalter lag bei 41,5 Jahren, wenn ich es richtig in Erinnerung habe. Und fast noch erstaunlicher ist: Zum damaligen Zeitpunkt, Anfang 1990, gaben 70 Prozent der in der DDR lebenden Menschen an, dass sie keine Kirchenbindung haben. Unter den Volkskammerabgeordneten haben sich allerdings nur 15,6 Prozent selbst als atheistisch bezeichnet, knapp zwei Drittel bekannten sich hingegen zu einer der beiden christlichen Kirchen. Das ist hochinteressant einschließlich der Frage, ob dies im Wahlkampf keine Rolle gespielt hat und deswegen – zur Verblüffung ihrer Wählerinnen und Wähler – dieses unrepräsentative "konfessionelle" Ergebnis zufällig zustande gekommen ist – oder ob in den Erwartungen der Art "Wem vertraue ich ein Mandat an? Wem traue ich zu, dass er in meinem Auftrag Entscheidungen trifft, die am Ende für mich verbindlich sind?" vielleicht doch Aspekte berührt wurden, die wir üblicherweise gar nicht mehr auf dem Schirm haben und wo sich auf einmal die Frage, was eigentlich mit Repräsentativität gemeint ist, ganz anders darstellt, als Statistiker das üblicherweise betrachten. Mit anderen Worten: Ein Parlament ist ganz gewiss nicht dann am ehesten in der Lage, seine Aufgaben wahrzunehmen, wenn es nur die Bevölkerung, die es zu repräsentieren hat, statistisch gesehen möglichst präzise wiedergibt.
Ich habe zum Schluss meiner mehr oder weniger gut sortierten Anmerkungen zur historischen Bedeutung dieser Volkskammerwahlen noch drei Zitate, die alle mit dem 18. März zu tun haben. Das erste Zitat stammt von Friedrich Hebbel, der am 18. März des Jahres 1813 Geburtstag hatte. Er schreibt in seinen Tagebüchern: "Selbst im Fall einer Revolution würden die Deutschen sich nur für Steuerfreiheit, nicht aber für Gedankenfreiheit einsetzen." Er wird Gründe gehabt haben, um zu dieser erstaunlich irrtümlichen Einschätzung der Begabungen, Fähigkeiten und Neigungen des deutschen Volkes zu kommen. Jedenfalls ist diese einzige ernst zu nehmende und gleichzeitig erfolgreiche Revolution des Jahres 1989, die auf deutschem Boden stattgefunden hat, der eindrucksvolle Gegenbeweis. Es war kein Kampf um Steuerfreiheit. Es war ein Kampf um Gedankenfreiheit, um Selbstbestimmung, um das für uns selbstverständliche Prinzip, über die eigenen Angelegenheiten selbst entscheiden zu können.
Mein zweites Zitat stammt von Christa Wolf, die auch an einem 18. März Geburtstag hatte. Sie schreibt in ihren biografischen Notizen: "Das Paradies kann sich rar machen, das ist so seine Art." Und dieser leicht melancholische Satz erinnert uns an die gelegentliche Erfahrung, dass die Ansprüche und Erwartungen an Veränderungen doch die Möglichkeiten zur Veränderung oft deutlich übersteigen. Es ist damals häufig davon die Rede gewesen, nach der Wiederherstellung der deutschen Einheit hätten die Menschen die Erwartung gehabt, sie landeten nun im Paradies, aber tatsächlich seien sie in Nordrhein-Westfalen angekommen. Ein Vergleich, den ich als Nordrhein-Westfale immer schon für völlig unverständlich gehalten habe, aber nicht deswegen, weil wir in Nordrhein-Westfalen immer schon paradiesische Verhältnisse hatten, sondern schon länger als andere wussten und wissen, dass es paradiesische Verhältnisse hierzulande schwerlich gibt. Und das ist tatsächlich auch eine der Gewissheiten, die man von Zeit zu Zeit ins öffentliche Bewusstsein heben muss. Die Politik hat große Gestaltungsaufgaben. Aber man sollte sie nicht mit Erwartungen konfrontieren, denen sie selbst bei genialer Begabung ihrer Repräsentanten und übermenschlichem Arbeitseinsatz gar nicht gerecht werden kann. Perfekte Verhältnisse lassen sich nicht herstellen – selbst durch die Politik nicht. Dem steht im Übrigen entgegen, dass das gleiche geneigte Publikum gleichzeitig Ansprüche an die Politik adressiert, die sich wechselseitig ausschließen. Dafür könnte man aus der damaligen Zeit wie aus der Gegenwart viele konkrete Beispiele vortragen.
Mein drittes Zitat ist von Stefan Heym. Es hat wiederum mit dem 18. März zu tun – diesmal mit dem 18. März 1990. Stefan Heym soll am Wahlabend des Jahres 1990 gesagt haben: "Es wird keine DDR mehr geben. Sie wird nichts sein als eine Fußnote in der Weltgeschichte." Die Frage, ob er das genauso an diesem Abend gesagt hat, lasse ich einmal auf sich beruhen. Mir kommt es vielmehr auf einen anderen Aspekt an, der für mich zugleich der wichtigste Grund ist, warum ich die Volkskammerwahl der DDR vom 18. März 1990 für ein herausragendes Datum der deutschen Geschichte halte: Die DDR war zweifellos weder der erste noch der letzte autoritäre Staat, den wir auf diesem Kontinent und schon gar auf diesem Globus erlebt haben und erleben werden. Was diesen autoritären Staat der DDR aber von anderen autoritären Systemen unterscheidet, war die Art seiner Überwindung: Sie war ebenso beispiellos wie beispielhaft. Einen vergleichbaren Vorgang hat es in der europäischen Geschichte nie gegeben. Und es hätte ihn auch nicht gegeben, wenn es die Volkskammer nicht gegeben hätte und wenn sie nach einem denkwürdigen Vorlauf und einem ebenso denkwürdigen Ergebnis nicht die Arbeit geleistet hätte, die sie geleistet hat – mit der unter vielerlei Gesichtspunkten historisch grandiosen Lösung, die Auflösung eines real existierenden Unterdrückungsstaates durch Beitritt zur Verfassung eines demokratischen Staates friedlich und freiheitlich zu vollziehen. Das wird diesem Parlament einen einzigartigen Rang in der deutschen Parlamentsgeschichte sichern, und daran werden wir auch heute Nachmittag im Deutschen Bundestag noch einmal in einer vereinbarten Debatte erinnern. Ich würde mich freuen, wenn viele von Ihnen, so Sie das einrichten können, auf der Zuschauertribüne daran teilnehmen. Jedenfalls werde ich alle Mitglieder der damals gewählten Volkskammer der DDR am 3. Oktober dieses Jahres zu einer Veranstaltung auf dem Platz der Republik einladen, wo wir an den 25. Jahrestag der Deutschen Einheit erinnern, den es ohne die Arbeit dieser Volkskammer nicht gegeben hätte.
* Das Symposium wurde von der Deutschen Gesellschaft e.V. organisiert und von der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur unterstützt. Das Deutschland Archiv dokumentiert diese Rede mit freundlicher Unterstützung der Deutschen Gesellschaft e.V., die sie zusammen mit den anderen Vorträgen unter dem Titel "Das letzte Jahr der DDR. Von der Volkskammerwahl zur Wiedervereinigung." im Oktober im Berliner Metropol Verlag veröffentlichen wird.
Zitierweise: Norbert Lammert, Der Beitrag der Volkskammer zur Geschichte des deutschen Parlamentarismus. In: Deutschland Archiv, 6.8.2015, Link: http://www.bpb.de/210490