Kampf gegen "Professionalisierung und Kommerzialisierung" im Sport. Wie die DDR dennoch zu einem adidas-Land wurde
Teil I
Peter Boeger
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Für die DDR-Führung verkörperte der westdeutsche Sportartikel-Konzern adidas unter seinem gut vernetzten und sportpolitisch einflussreichen Konzernchef Horst Dassler die negativen Seiten einer Professionalisierung und Kommerzialisierung des Sports. In seinem zweiteiligen Beitrag für das Deutschland Archiv zeigt Peter Boeger, wie durch eine Mischung aus Einflussnahme und Mangelwirtschaft adidas dennoch in der DDR Eingang fand.
Werbung für westliche Sportartikel in der DDR? Das war lange Zeit undenkbar. Schließlich galt es doch, alle Leistungssportkader "zum Haß gegen den Imperialismus und seine aggressiven Ziele zu erziehen", wie es 1980 in einer Beschlussvorlage des Politbüros heißt. Außerdem führte die zunehmende Professionalisierung des internationalen Sports nach sportpolitischer Auffassung der DDR direkt zu einem kommerziellen Missbrauch der Sportler. Von dieser Fehleinschätzung verabschiedete sich die DDR erst Ende der 1980er Jahre, nicht zuletzt wegen fehlender Unterstützung aus dem sozialistischen Lager. Gleichzeitig suchte der bundesdeutsche Sportartikelhersteller adidas in die DDR zu expandieren. Dessen geschicktes Taktieren führte schließlich zu einem Umdenken bei der Partei- und Staatsführung der DDR. Die Genossen zeigten sich angesichts nicht enden wollender Engpässe bei der Versorgung mit Sportartikeln, qualitativer Überlegenheit westlicher Produkte und chronischer Devisenknappheit zu erstaunlichen Kompromissen bereit.
Neuhaus an der Elbe, DDR-Bezirk Schwerin
Bisweilen war bereits das Tragen westlicher Sportkleidung eine gefährliche politisch-ideologische Gratwanderung im SED-Staat, wie ein Fall im Bezirk Schwerin zeigt. Sportfreund Hermann Sack (1921-2011) setzte sich über alle Maßen für seine Sportler der Betriebssportgemeinschaft (BSG) "Traktor" im Grenzort Neuhaus/Elbe ein. Der gelernte Bankkaufmann war 1955 aus der Bundesrepublik in seinen Heimatort in der DDR zurückgekehrt, um den väterlichen Betrieb zu übernehmen. Im Sport war er seither selbst aktiv und bekleidete im Laufe der Zeit unterschiedliche Funktionen in der BSG. Der Deutsche Turn- und Sportbund (DTSB) zeichnete ihn mit der Ehrennadel in Bronze und Silber aus, er erhielt die Ehrenurkunde "30 Jahre sozialistische Sportorganisation". Als treibende Kraft baute er über die Jahre den Verein auf. Mit Eingaben an den Rat der Gemeinde suchte er für Sportler und Verein organisatorische und finanzielle Hürden zu überwinden. Seit Anfang der 1960er Jahre beobachtete die Stasi wechselnd mit den inoffiziellen Mitarbeitern (IM) "Blume", "Christel", "Doris", "Ecke", "Emil Kaiser", "Fred Neumann", "Fritz Müller“, "Karl", "Kluge", "Stuhl", "Wiese" und "Zeiger" den umtriebigen Bürger.
Eine Beurteilung des Arbeitgebers über Hermann Sack vom Februar 1979 fiel trotz des großen Engagements für die BSG verheerend aus: In Wirklichkeit sei er gegen die DDR eingestellt, wie die Arbeitsstelle Elbewerft bescheinigte. Was war passiert? Kleine Sportvereine wie auch die BSG "Traktor" standen vor dem Dauerproblem des stetigen Verschleißes bei Textilien, Schuhen oder Sportgeräten. Die BSG "Traktor" musste also regelmäßig die Kluften der Sportler erneuern, die vom Rat der Gemeinde finanziert wurden. Das Problem war jedoch nicht die Finanzierung, sondern schlicht fehlende Möglichkeiten, in der Mangelwirtschaft der DDR grün-weiße Sportkleidung für die Fußballmannschaften zu kaufen. Über Kontakte im Westen beschaffte Hermann Sack begehrte Trainingsanzüge der Marke adidas. Der ganze Vorgang flog auf, als die Spieler bei einem Turnier in Hagenow mit den Hosen aufliefen und vom Platz geschickt wurden. Wie der Vorstand der BSG "Traktor" im Nachhinein ermittelte, sei diese adidas-Kleidung nicht in der DDR käuflich zu erwerben. Für die beschenkten Vereinsmitglieder war das nicht ohne Weiteres zu erkennen, da adidas-Kleidung durchaus auch in der DDR bei entsprechend hohem finanziellem Einsatz erhältlich war. Mit einem tiefen Griff in das ideologisch-politische Vokabular der DDR teilte der Traktor-Vorstand dem Kreisvorstand des DTSB in Hagenow seine Bedenken mit. "Die Mitglieder des DTSB tragen aus patriotischer Verantwortung zur allseitigen Stärkung der DDR bei. […] Die Handlungen des Sportfreundes Hermann Sack sind geeignet, die sozialistische Sportbewegung zu diffamieren. Es wird der Eindruck erweckt, daß nur durch irgendwelche Geldgeber in der BRD die materiellen Voraussetzungen zum Sportbetrieb bei uns gegeben werden können. Die gegensätzlichen Gesellschaftssysteme in der DDR und BRD werden nicht zur Kenntnis genommen."
Die Vertreter des DTSB in Hagenow ermittelten in dem Fall weiter und gelangten zu folgenden Erkenntnissen: Weitere Trainingsanzüge im Wert von 2.000 D-Mark seien unterwegs in die DDR, um die komplette Mannschaft auszustatten. Hermann Sack hatte zudem die Einfuhr von Baumaterial aus dem Westen beantragt, um Sozialgebäude und Sportplatz zu reparieren. Schon einmal sei Sack belehrt worden, nachdem er dem Verein zwei Fußbälle aus der Bundesrepublik übergeben hatte. Der DTSB Hagenow zeigte sich entschlossen und unnachgiebig. Alle Sportler sollten die Geschenke an Hermann Sack zurückgeben, Sack wurde aus dem DTSB ausgeschlossen und verlor seine Ämter im Sportverein. In den Strudel des Verfahrens geriet auch ein Sektionsleiter, der ebenfalls einen Trainingsanzug erhalten und den Vorgang geduldet hatte: "Denkt doch nicht, daß es so einfach ist, Kluften für 5 Mannschaften zu bekommen. Unsere waren schon teilweise Lumpen", suchte er sich und Hermann Sack zu rechtfertigen.
Ostberlin
Die Partei- und Staatsführung in Ostberlin dürften die Vorgänge im fernen Neuhaus kaum berührt haben. Die restriktiven Reaktionen in der BSG "Traktor" und im örtlichen DTSB zeigten eine vorauseilende Abwehrhaltung, gewissermaßen als Beispiel einer sich verselbständigenden Diktaturdurchsetzung auf allen Ebenen. Das Grundproblem mangelnder Versorgung mit Sportartikeln aber wurde 1979 auch im Politbüro erkannt. Sportartikel und Materialproduktion in der DDR summierten sich auf 9.000 Einzelpositionen, die von sechs Industrie-Ministerien gesteuert wurden. Entscheidend aber war: Zwischen dem tatsächlichen Bedarf an Sportartikeln und den vertraglich vereinbarten Produktionszahlen klafften erhebliche Lücken. 1981 appellierte der DTSB in Anbetracht der schlechten Versorgungslage seiner Mitglieder mit Sportartikeln an den stellvertretenden Vorsitzenden des Staatsrats der DDR und ZK-Sekretär für Sport in der SED, Paul Verner (1911-1986): "Es müßte durch die Staatliche Plankommission, das Staatssekretariat für Körperkultur und Sport und die zuständigen Fachministerien nach Wegen gesucht werden, um diese kritische Lage zu überwinden." Der Ruf verhallte zunächst.
Längst hatte sich international eine Fachdiskussion entzündet, bei der es nur vordergründig so schien, als habe sie nichts mit bundesdeutschen Sportartikelherstellern zu tun. Es ging um die Auseinandersetzung, ob im internationalen Sport und insbesondere bei den Olympiaden neben Amateuren auch Profis zugelassen werden sollten. Es fragte sich nur, wer ist Profi und wer Amateur? Welche Rolle spielen etwa die Ausübung eines vollen Berufes neben dem Training, das Sponsoring oder die Annahme von Preisgeldern? Obwohl DDR-Spitzensportler bekanntermaßen nur formal berufstätig waren und bisweilen mit Immobilien, Autos, Reisen oder anderen bedeutenden Vorteilen bedacht wurden, rechnete Ostberlin seine sogenannten Staatsamateure nicht dem Profisportlager zu und vermied daher entsprechende Bewertungsfragen.
Das angespannte Verhältnis der SED zu bundesdeutschen Sportartikelfirmen stand im Kontext eben jener Diskussionen um den Profi- und Amateursport. Die DDR hatte durchaus schlechte Erfahrungen auf dem internationalen Sportparkett gemacht. Während der Leichtathletik-Europameisterschaft in Budapest 1966 trat aus Ostberliner Sicht der sportpolitische GAU ein. Gegen 100 Dollar Bestechungsgeld eines bundesdeutschen Sportschuh-Vertreters überredete DDR-Sportler Jürgen May einen Kollegen, Spikeschuhe jenes Sportartikelherstellers zu tragen und dafür selbst 500 Dollar zu kassieren. Beide mussten später Geld und Schuhe an die Delegationsleitung übergeben. Wegen Verstoßes gegen die Amateurregel verhängte die DDR gegen May eine lebenslange Sperre. Wenige Monate später floh er in den Westen. Bei Verstößen gegen die Amateurregel reagierte auch das Internationale Olympische Komitee (IOC) mit unnachgiebiger Härte - und das nicht nur bei Sportkleidung mit Firmenlogos. Ski-Legende Karl Schranz aus Österreich wurde 1972 wegen eines Verstoßes gegen die Amateurregel vom IOC von Sapporo nach Hause geschickt. Für eine Sperre reichte hier bereits aus, dass er im Vorfeld der Olympiade für Kaffee geworben hatte. Die Folgen der ärgerlichen Sperre waren allerdings bei Weitem nicht vergleichbar mit den weitreichenden Repressionen, die DDR-Sportler in vergleichbaren Fällen erleiden mussten. Süffisant kommentierte das Nachrichtenmagazin Der Spiegel den heimischen Empfang von Schranz: "Seit 38 waren nie mehr so viele Jubel-Wiener auf die Straßen geströmt". Es kam eben darauf an, aus welcher politischen Hemisphäre ein verurteilter Sportler kam.
Im Zentrum der Diskussion stand Regel 26 der Statuten des Olympischen Komitees. Danach durfte ein Wettkämpfer niemals im Zusammenhang mit seiner sportlichen Betätigung eine finanzielle Zuwendung oder materielle Vorteile erhalten. Es sollte sich bald erweisen, dass eine scharfe Abgrenzung zwischen Profis und Amateuren unmöglich war, denn Spitzenleistungen wurden zunehmend von Berufssportlern erbracht. Und die deckten in der westlichen Welt ihre Aufwendungen oftmals aus Werbeeinnahmen. Während Regel 26 schrittweise aufgeweicht wurde, beharrte die DDR auf Einhaltung. Das war nicht nur ideologisches Lagerdenken, sondern strategisches Kalkül. Westliche Sportler, die sich als Werbeträger vermarkteten, fielen als Konkurrenten aus dem Amateursektor, welchem sich der DDR-Sport zurechnete. Die SED, insbesondere das sportpolitische Gesicht des DDR-Sports, DTSB-Präsident Manfred Ewald (1926-2002), brandmarkte daher stets die „Professionalisierung und Kommerzialisierung“ des Leistungssports im Westen, insbesondere mit dem Ziel, die Amateurregel zu stärken.
Die Stasi beobachtete die Firma adidas als eine treibende Kraft dieser Entwicklung und befürchtete deren Einflussnahme auch in der DDR. Akkurat registrierte sie, wenn kaufmännische Angestellte, Sportschuhingenieure oder gar Maschinenarbeiter, Stepperinnnen, Stanzerinnen, Hotelangestellte, Köche, Kellner oder Gärtner von adidas einreisten. Ein leitender Mitarbeiter der Firma Puma mit Kontakten zu einer Leistungssportlerin der DDR wurde im Operativen Vorgang (OV) "Puma" bearbeitet, ein adidas-Manager im Zentralen Operativen Vorgang (ZOV) "Jagd". Hingegen wurden offizielle DDR-Besuche der adidas-Hausleitung innerhalb der Stasi zur bevorzugten und höflichen Abfertigung durch die Passkontrolle der Hauptabteilung VI avisiert, Zollkontrollen und Zwangsumtausch sollten explizit entfallen. Es sollte das freundliche und freizügige Gesicht der DDR gezeigt werden.
1986 unterzeichneten MfS-Chef Erich Mielke und der Vorsitzende des Komitees für Staatssicherheit der UdSSR, Wiktor Michailowitsch Tschebrikow (1923-1999), ein als streng geheim klassifiziertes Dokument. Der umfassende Plan für die kommenden vier Jahre definierte Bereiche, in denen die Geheimdienste gemeinsam "bei der Abwehr der imperialistischen Konfrontationspolitik" zusammen arbeiten würden. In den Fokus nahmen die Geheimdienstler Friedens-, Ökologie- und Menschenrechtsgruppen, Rundfunksender wie "Radio Free Europe" oder "Radio Vatikan", West-Berliner Zeitschriften, Organisationen in kirchlicher Trägerschaft, DDR-Künstler und andere Einzelpersonen, etwa Konsistorialpräsident Stolpe oder die jüdische Gemeinde von West-Berlin, "insbesondere ihres Führers Galinski". Bei der politisch-operativen Abwehrarbeit im Zusammenhang mit "bedeutsamen internationalen Veranstaltungen und Organisationen" wurde adidas an erster Stelle genannt, was als Indiz gelten kann, welcher ideologisch-politische Stellenwert der Firma beigemessen wurde. Erst nachrangig wurde das IOC aufgeführt, dessen Einfluss in nationalen Sportverbänden zurückgedrängt werden müsse. Besonders interessierte ein Vertrag zwischen der adidas-Firmentochter ISL (International Sport and Leisure AG) und dem IOC. Die Schweizerische ISL, deren Ziel die umfassende Werbevermarktung von Sportveranstaltungen war, gehörte zu 51 Prozent adidas. Kaum abzuschätzen ist, wie konkret sich ein Informationsaustausch zwischen den beiden Diensten gestaltete oder ob der abgestimmte Plan eher eine demonstrative Stärke des MfS gegenüber den Freunden zeigen sollte. Für letzteres spricht einiges. Immerhin beziehen sich die definierten Aufgaben und Zielpersonen fast ausschließlich auf operative Felder des MfS.
Herzogenaurach, Bundesrepublik Deutschland
Auch in der Zentrale von adidas dürfte der Sportartikelhersteller mit Milliardenumsatz keine Kenntnis von den Problemen im DDR-Grenzort Neuhaus erlangt haben. Hier, im mittelfränkischen Herzogenaurach, wurde sportpolitisch in einer ganz anderen Liga gespielt. Es interessierte insbesondere, wie die Machthaber in Ostberlin strategisch vorgingen. Eine eigens eingerichtete sportpolitische Gruppe unter Leitung von adidas-Chef Horst Dassler (1936-1987) nahm sich derartiger internationaler Fragen an. Wo immer ein hochrangiger sportpolitischer Posten zu besetzen war oder Entscheidungen zum Austragungsort der nächsten Olympiade anstanden, zog Dassler im Hintergrund mit an den Fäden und entwickelte seine Familienfirma gleichzeitig zum weltgrößten Sportartikelhersteller.
Die DDR war schon in der Ära Ulbricht Abnehmerin von adidas-Produkten. Der Inoffizielle Mitarbeiter mit vertraulichen Beziehungen zur bearbeitenden Person (IMV) "Technik", Dopingarzt Dr. Höppner, berichtete bereits 1970, dass der Vizepräsident des DTSB, Franz Rydz (1927-1989), wiederholt in Westdeutschland war, um Schuhe für DDR-Spitzensportler einzukaufen. Dabei sah die Geschäftsleitung von adidas im Verhandlungspartner Rydz "einen ausgekochten Ökonomen, mit welchem ziemlich schwierig zu verhandeln sei". Die Beziehungen reduzierten sich nicht nur auf Schuhe und Trikotagen, sondern umfassten durchaus auch Spezialausstattung. Mit einem neuentwickelten Hochsprungstab von adidas, jedes Exemplar wurde individuell auf die Maße des Athleten angepasst, ersprang die DDR 1972 Olympiabronze. IMV "Technik" nahm den Hightech-Stab nach eigenem Bekunden "bei Nacht und Nebel von einem adidas-Vertreter" in Mexiko in Empfang. Aus Sicht der DDR durfte die internationale Öffentlichkeit nichts erfahren, was Image und Selbstbild des sozialistischen Sport- und Industriestaats DDR hätte beschädigen können. Die westliche Sporthilfe wurde entsprechend konspirativ abgewickelt. Ob sich das Geschäft für adidas wirtschaftlich lohnte, ist unbekannt. Es schuf auf jeden Fall Abhängigkeiten, die Horst Dassler systematisch pflegte.
In der UdSSR zeigten die Genossen unterdessen weit weniger Schamgefühl. Das MfS erfuhr über Dr. Höppner während des Europacups der Leichtathleten am 16. und 17. September 1967 in Kiew (UDSSR) von einem sowjetischen Arzt, der für den sowjetischen Verband einen größeren Einkauf von Sportschuhen mit den vor Ort anwesenden adidas-Vertretern ausgehandelt hatte. Anschließend war er für eine Woche Gast des Konzerns in der Bundesrepublik. Den Zusammenhang zwischen Geschäft und der so wörtlich "Gratifikation" räumte er freimütig ein. Sein Besuch in der Bundesrepublik dürfte aus Sicht der Hausherren von adidas nicht nur von geschäftlichem Interesse gewesen sein. Die Mitglieder der Familie Dassler waren russischer Geschichte und Sprache sehr zugetan. Horst Dassler lernte sogar selbst Russisch. Insgesamt sei die Beziehung von Horst Dassler zu den Sowjetfunktionären ziemlich kostspielig gewesen, wie Dassler-Biografin Barbara Smit berichtet. Für die Partei- und Staatsführung in Ostberlin dürften die schwunghaften Handelbeziehungen der Freunde zu adidas in ideologischer Hinsicht nicht unbedingt hilfreich gewesen sein. Den sowjetischen Sportminister Sergej Pawlow (1929-1993), der 1980 die Olympiamannschaft seines Landes vom westdeutschen Sportartikelhersteller ausstatten ließ, nannte Manfred Ewald abschätzig "Mr. Adidas".
Horst Dassler spann ein globales Netzwerk der Kommerzialisierung des Sports. Das MfS erkannte: "Dassler selbst verfügt über ungeheure Mittel und Einfluss. Alle seine Aktionen dienen der Sicherung des Profits – nur deshalb hält er die Verbindung zu den Sozialisten, weil diese im Augenblick die spektakulärsten Leistungen haben." Das MfS sah seine Aufgabe allerdings nicht darin, in den weit verzweigten Betrieb einzudringen. Es würde ausreichen, Informationen vom adidas-Führungspersonal abzuschöpfen. IMS "Hans" drang bis in die Firmenspitze vor und berichtete aus Herzogenaurach über Mitarbeiter und über geschäftspolitische Strategien. "Hans" mahnte beim MfS an, man müsse in die ISL-Gruppierung eindringen, "um rechtzeitig und noch besser vorbereitet zu sein auf die Aktivitäten, die der Gegner in der Form von Dassler und IFL [sic!] gegen die sozialistischen Länder unternehmen". Spitzenquelle für MfS-Oberstleutnant Gerhard Radeke (Hauptabteilung XX/3) war IM "Möwe", der im offiziellen DDR-Auftrag regelmäßig mit Horst Dassler zusammentraf. Radeke hatte sich 1971 an der MfS-Hochschule mit der Abschlussarbeit "Zu einigen Erscheinungen der feindlichen Kontaktpolitik der westlichen Sportführung gegen die sozialistische Sportbewegung der DDR – insbesondere den Leistungssport – und ihre politisch-operative Bekämpfung" für diese Aufgabe in besonderer Weise qualifiziert. Nun bekämpfte er adidas. Sein IMB "Möwe", ein Inoffizieller Mitarbeiter der Abwehr mit Feindverbindung beziehungsweise zur unmittelbaren Bearbeitung im Verdacht der Feindtätigkeit stehender Personen, sollte unter anderem Beweise finden, die die Machenschaften von adidas in anderen internationalen Sportföderationen belegen konnten. Zur Aufklärung der Firma sollte es aus Sicht von IMB "Möwe" ausreichen, vier besonders wichtige Hauptpersonen der sportpolitischen Gruppe bei adidas abzuschöpfen, darunter den Präsidenten der Internationalen Boxföderation AIBA, Prof. Anwar Chowdhry (1923-2010). Am Ende profitierte "Möwe" selbst von den Machenschaften, die er eigentlich aufklären sollte. Königsmacher Horst Dassler korrumpierte die AIBA-Wahl 1986 auf einem Kongress in Bangkok dahingehend, dass IM "Möwe", alias Karl-Heinz Wehr, deren Generalsekretär wurde. Einen solchen Karrieresprung hatte der ehrgeizige Wehr wohl stets im Blick gehabt, der seinen Führungsoffizier jahrelang mit ausgefeilten Berichten belieferte. Seine Akte umfasste schließlich zwölf Bände. Über sich selbst berichtete er vorsichtshalber in der dritten Person. "Möwe" über Wehr: "Meine vorsichtigen Schätzungen ergeben, daß alles in allem, von adidas u.a. ca. 200 000 DM aufgewandt wurden, um den Kongreß zu gewinnen. In Zusammenarbeit mit den Organisatoren hatte Wehr die Durchführung des Kongresses militärisch organisiert." Horst Dassler, der an Geld oder opulentem Auftreten kein vordergründiges Interesse zeigte und eher den Ausbau seiner sportpolitischen Machtposition pflegte, dürfte bestenfalls die potenziellen Geschäftsbeziehungen seiner Firma in die DDR gesehen haben, die durch eine Ernennung des ostdeutschen Karl-Heinz Wehr deutlich gestärkt würden.
Der Weg des DDR-Sportfunktionärs in die Position des AIBA-Generalsekretärs dauerte fast ein Jahrzehnt. Ewald hatte bereits 1977 intern gefordert, den Niederländer Hans Hoffman als Präsidenten der Europäischen Boxsportföderation (EABA) abzuwählen und durch Wehr zu ersetzen. Letzteres gelang zwar auf europäischer Ebene nicht, schließlich aber im Weltverband des Boxsports (AIBA). So wurde adidas zum unmittelbaren Steigbügelhalter für die Durchsetzung zentraler sportpolitischer Interessen der SED. Die Sportdisziplin Boxen war für die SED wegen der sicheren Medaillenaussichten bei Olympiaden von herausragender Bedeutung. Horst Dassler und seine sportpolitische Abteilung dürften dies in ihre Strategie einbezogen haben.
Horst Dassler war sich durchaus darüber im Klaren, dass seine sportpolitischen Aktivitäten insbesondere im Ostblock großes Interesse bei den Geheimdiensten erregen mussten. Immerhin bestärkten Wanzenfunde in Herzogenaurach diese Vermutungen. Dassler führte einen Wanzendetektor mit sich und forderte seine leitenden Mitarbeiter dazu auf, bei Reisen irreführende Dokumente mit sich zu führen. Durch wohlkalkulierte Aussagen am Telefon oder hektische Autofahrten kreuz und quer durch Moskau suchte er selbst Verwirrung unter potenziellen Geheimdienstlern zu stiften. Während der Olympiade in Moskau belauschten die Sowjets Horst Dassler, als er sich über Christian Jannette äußerte. Jannette, vormals Protokollchef der Münchner Olympiade, war seit 1973 Dasslers Assistent, der gegenüber der DDR-Passkontrolle als Beruf "Directeur des Relations extérieures Adidas" angab, übersetzt "Direktor für Außenbeziehungen". Jannette war nach Aussage von Barbara Smit "einer der gewieftesten Lobbyisten", den Dassler für sich gewann. Von der UdSSR war er immerhin mit einer uneingeschränkten Reisegenehmigung für das ganze Land ausgestattet und Frankreich hatte ihn als Olympic attaché der Delegation für die Spiele in Moskau 1980 ernannt. Dassler äußerte nun in Moskau beiläufig, ihm sei "nicht bekannt, für welche Geheimdienste der JANNETTE, Christian, Jean alles arbeitet", wie die sowjetischen Freunde umgehend der DDR-Staatssicherheit mitteilten. Der gewitzte Franke hatte die Geheimdienste erfolgreich vorgeführt.
Im Interner Link: zweiten Teil seines Beitrags beschreibt Peter Boeger, wie nach der Tagung des Olympischen Kongresses in Baden-Baden 1981 die DDR-Führung sich schrittweise - auch unter dem Eindruck der Ereignisse in befreundeten Staaten – dem Sportartikelhersteller öffnete.
Zitierweise: Peter Boeger, Kampf gegen "Professionalisierung und Kommerzialisierung" im Sport. Wie die DDR dennoch zu einem adidas-Land wurde (Teil I), in: Deutschland Archiv, 31.7.2015, Link: http://www.bpb.de/210155
Dr. M.A.; Geb. 1956; Leiter der Forschungsgruppe Regionalgeschichte beim Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen; Vorsitzender der Aufarbeitungsinitiative Checkpoint Bravo e.V. (Grenzmuseum) im Land Brandenburg.
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