Auf dem Gelände der heutigen Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen befand sich von 1951-1989/90 das zentrale Untersuchungsgefängnis des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) der Deutschen Demokratischen Republik (DDR). Obwohl dem Haftort Hohenschönhausen im System der politischen Justiz der DDR eine Schlüsselrolle zukam, fehlte es bislang an Untersuchungen über das dort tätige Personal.
Die Tätigkeit in einem Gefängnis stellte für die zuletzt circa 91.000 hauptamtlichen Mitarbeiter des MfS eher eine Ausnahme dar und wies insofern eine Reihe von Besonderheiten auf. Wer waren diese Menschen, die für die Isolierung, Überwachung und Bestrafung der Häftlinge in Berlin-Hohenschönhausen sorgten? Was trieb sie an, und was hielt sie oftmals Jahrzehnte beim Staatssicherheitsdienst? Die MfS-Mitarbeiter waren ständig mit einem hohen Maß an menschlichem Leid konfrontiert, das Mitleid, Identifikation oder sogar Solidarität mit den Inhaftierten zur Folge hätte haben können. Selbstzweifel, interne Kritik, ja Verweigerung wären naheliegende Reaktionsmöglichkeiten gewesen, sie spiegelten sich jedoch nicht in den untersuchten Quellen wider. Wie war es möglich, dass die MfS-Mitarbeiter, die teilweise selbst über eigene Lagererfahrungen in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern verfügten, den Häftlingen fast ausnahmslos mit Härte und Abgebrühtheit entgegen traten?
Im Folgenden wird untersucht, welche Faktoren und Mechanismen dafür verantwortlich waren, dass die Wärter und Vernehmer die von ihnen verlangten Tätigkeiten widerspruchslos, effizient und motiviert ausführten und so dazu beitrugen, den politischen und sozialen Status quo der SED-Diktatur 40 Jahre lang zu sichern. Für die Erforschung der skizzierten Fragestellung wurden unterschiedliche Quellengattungen herangezogen. Vorrangig handelt es sich um Unterlagen des MfS-Apparates, die sich im Archiv des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes (BStU) befinden. Hierzu zählen unter anderem die Personalakten (Kaderakten) der in der Untersuchungshaftanstalt Beschäftigten, Sachakten wie MfS-interne Dienstanweisungen, Befehle, Richtlinien und Schulungsmaterialien sowie die an der Juristischen Hochschule des MfS (JHS) verfassten Doktor- und Diplomarbeiten der Mitarbeiter. Die Forschungsarbeiten der Offiziersschüler weisen eine hohe Praxisbezogenheit auf und geben neben detaillierten Tätigkeitsbeschreibungen auch interessante Rückschlüsse über die Handlungs- und Denkweisen der MfS-Mitarbeiter. Da die normativen Regularien nicht mit der Praxis gleichzusetzen sind, müssen die Akten nicht nur kritisch analysiert, sondern durch Quellenvergleich und Zeitzeugenaussagen weitestgehend verifiziert werden. Diese korrektive Ergänzung erfolgt durch die Aussagen und Berichte der Beteiligten, sowohl der in Hohenschönhausen Beschäftigten als auch der dort Inhaftierten.
Ehemalige Mitarbeiter der Untersuchungshaftanstalt haben sich in den letzten Jahren in verschiedenen Publikationen zu Wort gemeldet, wenn auch meist mit dem expliziten Interesse, die eigene Tätigkeit zu rechtfertigen.
Die Wärter und Vernehmer von Berlin-Hohenschönhausen
In der fast 40-jährigen Existenz des zentralen Untersuchungsgefängnisses in Berlin-Hohenschönhausen wurden hier rund 11.000 Menschen gefangen gehalten, gegen die das MfS gewöhnlich Ermittlungsverfahren nach Paragrafen des politischen Strafrechts der DDR eingeleitet hatte. An diesem geheim gehaltenen Ort waren nahezu alle prominenten politischen Häftlinge der DDR in Haft, vom ehemaligen DDR-Außenminister Georg Dertinger bis zur Bürgerrechtlerin Vera Lengsfeld. Außer der eigentlichen Haftanstalt befanden sich auf dem Gelände auch die beiden MfS-Diensteinheiten der Hauptabteilung IX (HA IX) und die Abteilung XIV. Während das Hauptziel in der Ermittlungsarbeit der Vernehmer der für die Ermittlungsverfahren zuständigen HA IX stets darin bestand, dem Gericht einen möglichst gefügigen Häftling zu präsentieren, dessen oftmals erpresstes oder verfälschtes Geständnis ein drakonisches Urteil legitimieren sollte, waren die Mitarbeiter der Abteilung XIV für die Sicherung der Untersuchungshaftanstalt sowie die dort anfallenden Vollzugsaufgaben zuständig. Sie stellten auch die uniformierten Wärter, die die Häftlinge bei der Aufnahme zu durchsuchen, in die Zelle zu sperren, sie pausenlos zu beobachten und zu den Verhören zu bringen hatten. Die beiden Diensteinheiten zeichneten nicht nur für den Betrieb der Untersuchungshaftanstalt Berlin-Hohenschönhausen verantwortlich, sondern leiteten zudem die Ermittlungsabteilungen und Gefängnisverwaltungen in den 15 MfS-Bezirksverwaltungen an, wo der Staatssicherheitsdienst jeweils eigene Untersuchungsgefängnisse unterhielt. Beide Diensteinheiten unterstanden direkt dem Anleitungsbereich des Ministers für Staatssicherheit Erich Mielke. Wie im Gesamt-MfS stiegen auch in den Diensteinheiten in Berlin-Hohenschönhausen die Mitarbeiterzahlen über den Zeitraum der Existenz des Komplexes in Hohenschönhausen. Während Anfang 1953 in der HA IX 31 und in der Abteilung XIV 83 Mitarbeiter beschäftigt waren,
Von großer Relevanz bei der Auswahl und Rekrutierung war für das MfS das Elternhaus, das ein möglichst hohes Maß an politischer Loyalität garantieren sollte. Ab den späten 1960er Jahren wurden die Mitarbeiter der Untersuchungshaftanstalt vor allem aus systemtragenden Familien, in denen ein oder beide Elternteile selbst beim MfS, bei der Nationalen Volksarmee (NVA) oder anderen bewaffneten Organen tätig waren, gewonnen. Durch den Erziehungsprozess in den Elternhäusern, der Schule, den Massenorganisationen wie der Freien Deutschen Jugend (FDJ) sowie dem Wachregiment als militärisch-operativem Arm des MfS entwickelten die Mitarbeiter schon bestimmte Persönlichkeitsdispositionen, die eine wichtige Voraussetzung für spätere Schulungs- und Steuerungsmaßnahmen sowie Anreizstrukturen im MfS bildeten. Dazu gehörten unter anderem eine klares Freund-Feind-Denken, der Hass auf den Klassenfeind, Treue und Loyalität zum Staat DDR, Kollektivismus und die Überzeugung von der Überlegenheit des Sozialismus.
Ideologie und Überzeugung
Um funktionierende Geheimdienstmitarbeiter zu erhalten, setzte der Staatssicherheitsdienst nicht alleine auf die Ergebnisse sozialer und familiärer Prägung. Insbesondere die allgemeinverbindliche Ideologie prägte den dienstlichen Alltag der Mitarbeiter in erheblichem Maß und rechtfertigte auch das Handeln der Beschäftigten als angemessen und notwendig. In den autobiografischen Berichten ehemaliger MfS-Mitarbeiter wird immer betont, wie sehr sie von der eigenen Tätigkeit politisch überzeugt gewesen seien. Sie verspürten Stolz und Ehre, an "vorderster Front" die sozialistische Gesellschaftsordnung vor dem "Feind" schützen zu dürfen und fühlten sich dem "Organ" und ihrem Staat innerlich verpflichtet. So erinnert sich ein ehemaliger Vernehmer, der 1987 Referatsleiter für „komplizierte Sachverhalte des politischen Untergrunds" war:
"Es kann natürlich sein, daß man sich zu wenig Gedanken gemacht hat […] kann denn eine Gesellschaft nicht auch mit Außenseitern leben, auch nach außen hin? Solche Gedanken habe ich mir nicht gemacht. Ich habe immer nur gedacht, wenn das im Ausland gelesen wird, ist unsere schöne DDR in den Dreck gezogen. Anders wäre ich gar nicht motiviert gewesen, so etwas in einer strafrechtlichen Form zu bearbeiten. Wenn ich die Leute in meinem Umkreis betrachte, so glaube ich kaum, dass es welche gab, die das nur als Job gemacht haben. Das wäre auf die Dauer auch herausgekommen. [...] Ich habe also nicht gejobbt, sondern ernsthaft daran geglaubt, daß das richtig ist, was ich mache."
Selbst nach dem offensichtlichen Scheitern des DDR-Sozialismus hielten viele von ihnen daran fest. "Mein Verhältnis zur DDR ist wie das von Eltern zu ihren Kindern", erinnert sich der ehemalige MfS-Oberstleutnant Wolfgang Schmidt, "Auch wenn sie sich anders entwickeln, als man es sich vorstellt, verstößt man sie nicht".
Wie die gesamte Herrschaft der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) fußte auch die Tätigkeit des MfS auf einem Machtanspruch, der ideologisch legitimiert und von der Führung an die jeweilige politische Situation angepasst wurde. Entsprechend dem dogmatisierten Marxismus-Leninismus war die Geschichte der Menschheit eine Geschichte antagonistischer Klassenkämpfe, in deren letzter Phase sich Bourgeoisie und Arbeiterklasse unversöhnlich gegenüber stünden. In einem Akt entschlossener Machtergreifung unter der Führung einer Avantgarde – der kommunistischen Partei und ihrer Leitung – sei in der DDR die Arbeiterklasse an die Macht gekommen und habe damit begonnen, ein neues Gesellschaftssystem, den Sozialismus, aufzubauen. Ziel der in den westlichen Staaten weiterhin herrschenden Bourgeoisie sei es, diesen Systemwechsel wieder rückgängig zu machen, weshalb die kapitalistischen Staaten alles dafür täten, den Sozialismus von innen und außen zu unterminieren. Dem MfS wurde als "Schild und Schwert" der Partei die Aufgabe übertragen, diese Angriffe abzuwehren und das von der SED errichtete und gelenkte System zuverlässig zu schützen. Aufgrund dieser dem MfS zugeschriebenen, regelrecht überlebensentscheidenden Verantwortung für den Bestand der DDR und dem täglichen direkten Kontakt mit dem Feind, nahm die ideologische Feindbildschulung in den einmal monatlich stattfindenden Fachschulungen, im Parteilehrjahr sowie an der Juristischen Hochschule des MfS stets eine wichtige Rolle ein.
Der "Feind"-Begriff wurde ganz bewusst zweideutig gehalten, um bei Bedarf jede Person, die nicht mit dem System konform ging, zu kriminalisieren und zur "Feindperson" zu erklären. Ab den 1970er Jahren ging es vor allem darum, die verschiedenen Proteste gegen die SED-Diktatur als vom Westen geplante Angriffe zur Unterminierung der DDR zu bestimmen. Forderungen nach bürgerlichen Grundrechten wie unter anderem Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit, Reisefreiheit wurden von SED und MfS als PID ("politisch-ideologische Diversion") gewertet, also als Sammelbezeichnung für alle angeblich von außen gegen die DDR gesteuerten ideologischen Angriffe, die direkt auf das sozialistische Bewusstsein zielen würden. Der schon 1958 eingeführte Begriff der PID beschreibt laut MfS-Definition "die Methode des Feindes zur Zersetzung der Partei, um ihre führende Rolle beim Aufbau des Sozialismus zu beseitigen, zur Aufweichung der DDR und des ganzen sozialistischen Lagers."
Durch diese verordnete Sichtweise entwickelten die Mitarbeiter eine pervertierte Logik und erkannten nicht (oder wollten nicht erkennen), dass etwa die inhaftierten Ausreiseantragssteller keine Träger der "PID" waren, sondern in der Regel "nur" in Freiheit leben wollten. Diese Fehlwahrnehmung verfestigte sich im Zuge der täglichen Dienstausübung und dem ständigen Einimpfen von Hassgefühlen zu kollektiven und konsistenten Denk- und Verhaltensmustern, die langfristig das Handeln der Mitarbeiter steuerten. Aus retrospektiver Sicht bestätigen selbst die bereits erwähnten stellvertretenden Minister für Staatssicherheit Großmann und Schwanitz die förmlich paranoide Feindbilddoktrin und den radikalen Antipluralismus im MfS:
"Bei der Verifizierung, also der Feststellung der Gegner, ging man prinzipiell vor. Und Prinzipien führen mitunter zur Vereinfachung. Etwa bei der Klärung der Frage: Wer ist Freund, wer Feind? Das führte mitunter zu dem falschen Schluss, dass einer, der nicht für uns, also für die DDR, war, objektiv gegen uns stand. Das war natürlich überzogen. […] zu viele wurden verdächtigt, nicht hundertprozentig hinter der DDR zu stehen. Dieses Misstrauen war einer der Sargnägel der DDR. In einer angespannten Frontlage während des Kalten Krieges wähnte man dort jedoch einen Schwachpunkt, ein mögliches ‚Einfallstor‘ des Gegners." [Hervorhebung im Original]
Gerade für die frühen Jahrgänge der Kriegsgeneration nahm auch die antifaschistische Ideologie eine nicht unwesentliche Rolle ein, um deren Motiv vom Schutz des "besseren", da sozialistischen Staates, von dem nie wieder Krieg ausgehen würde, zu beeinflussen. Die mit der marxistisch-leninistischen Heilslehre einhergehenden respektive zu erwartenden Verheißungen (Frieden, Gleichheit, herrschaftsfreie Gesellschaft) sowie der antifaschistische Mythos gaben dem Personal stets Gewissheit, auf der richtigen Seite zu stehen. Das gemeinsame Ideal vom Kommunismus sowie der instrumentalisierte Antifaschismus beziehungsweise Antiimperialismus bewirkten, dass die Mitarbeiter ihre offensichtlich inhumanen Tätigkeiten als politische Notwendigkeit und moralische Pflicht im Namen der Menschheit und im Auftrag der Geschichte betrachteten. Diese Sinnbeimessung bildete lange Zeit den Kern ihrer intrinsischen Motivation.
Durch die zunehmenden Differenzen zwischen der SED und der sowjetischen Führung unter Michail Gorbatschow und den Reformansätzen im Zuge von "Glasnost" und "Perestroika" verminderte sich ab Mitte der 1980er Jahre zwar die handlungsleitende Kraft der kommunistischen Ideologie. Dennoch blieben das tradierte ideologische Wertegerüst und das politische Denken in Freund-Feind-Kategorien in den Grundzügen erhalten. Zu intensiv und nachhaltig waren die Mitarbeiter durch die Politschulung und psychologisch durchdachte Erziehung zur Einsicht in das Notwendige in ihren Motivlagen beeinflusst und in ihren Denk- und Verhaltensmustern geprägt worden. Infolgedessen spielten Disziplinarverstöße als bewusste, politisch motivierte Handlung unter dem Personal in Hohenschönhausen kaum eine Rolle.
Instrumentelles Rechtsverständnis und Verrechtlichung
Die strafrechtliche Verfolgung politisch Andersdenkender und anderer "Feinde" wurde nicht nur ideologisch, sondern nun zugleich auch normativ-rechtlich begründet. Die Mitarbeiter handelten in einem Rahmen gesetzlicher und außergesetzlicher Normen, der ihre Tätigkeit rechtlich legitimierte und sogar obligatorisch machte. Bis zuletzt legitimierten die Mitarbeiter das Erpressen von Aussagen oder die strenge Isolation von "Straftätern" in erster Linie mit dem Verweis auf die geltende Rechtslage. Für diese Grundhaltung spielen zwei Faktoren eine Rolle. Einerseits besaßen die Vernehmer und Wärter ein vom Grundsatz der Parteilichkeit geprägtes Rechtsverständnis, das aus der Funktion des DDR-Rechts als "Instrument im Klassenkampf" resultierte. Das Recht unterlag einem politischen Geltungsvorbehalt und diente in erster Linie dazu, alle Personen, die nicht ins sozialistische Gesellschaftsbild passten, zu verfolgen, um so die sozialistische Staatsmacht und Parteiherrschaft der SED zu sichern. So war das DDR-Strafrecht (und Prozessrecht) auch so gestaltet, dass es weit gefächerte Auslegungsmöglichkeiten für die Vernehmer bot, um den ideologischen Auftrag in die Praxis umzusetzen. Einige politisch relevante "Gummiparagrafen" wie "staatsfeindliche Hetze" (Paragraf 106 Strafgesetzbuch) waren so dehnbar formuliert, dass jede Kritik an den bestehenden Verhältnissen darunter fallen konnte und scheinbar legale Verurteilungen möglich waren. Andererseits nahm die zunehmende Dichte sowohl gesetzlicher als auch außergesetzlicher Normen im Laufe der Jahrzehnte eine immer stärkere Bedeutung zur Rechtfertigung des eigenen Handelns ein. Die formale Verrechtlichung stand in engem Zusammenhang mit der internationalen Einbindung der DDR, den Bemühungen der SED-Führung um mehr innere und äußere Akzeptanz ihrer Herrschaft sowie der höheren Regelbedürftigkeit einer komplexen Industriegesellschaft. Dem MfS gelang es, sich mit einem internen Regelwerk geheimer Rechtsvorschriften eine eigene Binnenlegalität als Unterbau zur gesetzlichen Legalität zu schaffen. Die zunehmende förmliche Durchregulierung der repressiven Maßnahmen war dazu geeignet, den Mitarbeitern den Eindruck zu vermitteln, sie würden ausschließlich nach Recht und Gesetz handeln. Auf diese Weise konnte einem eventuellen "schlechtem Gewissen" der direkt mit den Häftlingen konfrontierten Mitarbeiter vorgebeugt werden.
Hierarchie und Sanktionen
Schlussendlich setzte das MfS auch Privilegien und Anreizmechanismen (materiell, immateriell, Karriereanreize) sowie diverse Disziplinierungstechniken zur positiven beziehungsweise negativen Verstärkung der intrinsischen Motivation ein. So führten insbesondere das restriktive Anleitungs- und Kontrollsystem im MfS, die militärischen Strukturen, die Sanktionskulisse und der Gruppendruck zu einer weitgehend präventiven Disziplinierung der Offiziere. In allen ausgewerteten autobiografischen Schriften geben die ehemaligen MfS-Mitarbeiter als Ursache für ihr konformes Verhalten die Angst vor einer strafrechtlichen Verfolgung oder einer Disziplinarstrafe an. So erinnert sich ein Vernehmer für die 1970er und 1980er Jahre:
"Die Strategie war: Wir müssen sichern, dass die Partei in Ruhe arbeiten kann. [...] Wenn man gegen diese Strategie gemuckt und gezuckt hätte – ich hab freilich solche Überlegungen nicht gestellt –, wären militärische Dinge zum Tragen gekommen: Befehlsverweigerung. […] Diese Angst hatte zur Folge, daß man sich gesagt hat, da machst Du es lieber ganz genau und rasierst gleich alles von der Tischfläche weg."
Die Äußerungen vieler ehemaliger Mitarbeiter, primär aus Angst vor Sanktionen oder unter reinem Befehlsdruck agiert zu haben, müssen jedoch kritisch hinterfragt werden. Disziplin umfasst nicht nur die äußerliche Unterordnung unter einen Befehl und dessen schematisches Ausführen, sondern geht auch zumeist mit einer Internalisierung des hinter dem Befehl stehenden Zweckes einher. Sie dienen vermutlich eher dazu, das Verhalten nachträglich als erzwungen darzustellen, um sich mit der eigenen Schuld nicht auseinandersetzen zu müssen. Trotz der institutionellen Einbindung waren die Mitarbeiter keine willen- und gedankenlosen Befehlsempfänger, sondern empfanden den hinter dem Befehl stehenden Zweck lange Zeit für politisch notwendig, legitim und angemessen. Die Handlungsweisen des Personals waren primär durch das politische Motiv vom Schutz der sozialistischen Gesellschaftsordnung vor dem "Feind" begründet und lassen sich nur sekundär auf die strikte Einbindung in die Befehlshierarchie und das reine Gehorchen zurückführen.
Fazit
Die dargelegten Motivationslagen und Erklärungsansätze für das Handeln der Mitarbeiter sprechen diese nicht von ihrer moralischen Schuld frei. Denn trotz der Rahmenbedingungen einer Diktatur und eines strikten Systems von Befehl und Gehorsam muss stets die Frage nach individuellen Handlungsspielräumen und dem Willen, diese auszunutzen, gestellt werden. Demnach müssen auch die heutigen Versuche der ehemaligen MfS-Offiziere, die Verantwortung für das begangene Unrecht ausschließlich der SED-Politbürokratie zuzuschieben, kritisch betrachtet werden. Zwar war die Parteispitze ohne Zweifel der Auftraggeber der Staatssicherheit, jedoch ist es charakteristisch für Repressionsapparate in (totalitären) Diktaturen, dass diese nicht an der kurzen Leine geführt werden. Freilich immer im Einklang mit der ideologischen Linie der Parteiführung stehend, entscheiden diese selbst, welche Maßnahmen sie zur Stabilisierung des Systems einsetzen.
Zitierweise: Elisabeth Martin, Die Stasi-Vernehmer und Wärter von Berlin-Hohenschönhausen, in: Deutschland Archiv, 28.7.2015, Link: www.bpb.de/210000