Bankgenossenschaften in der DDR
Bereits kurz vor Ende des Zweiten Weltkrieges hatte die Rote Armee in den von ihr kontrollierten Gebieten Deutschlands die zeitweilige Schließung aller Banken angeordnet. Aufgrund ihrer Bedeutung für die landwirtschaftliche Produktion wurde den ländlichen Raiffeisengenossenschaften am 20. November 1945 die Aufnahme des ländlichen Warenhandels und des Bankgeschäfts wieder gestattet.
Das zweite Standbein des genossenschaftlichen Bankwesens bildeten auch in der DDR die Volksbanken. Ihnen wurde die Wiederaufnahme ihrer Geschäftstätigkeit durch die sowjetische Militäradministration am 15. Januar 1946 gestattet.
1989 existierten in der DDR 95 Genossenschaftskassen für Handwerk und Gewerbe mit weiteren 89 Zweigstellen sowie 272 Bäuerliche Handelsgenossenschaften mit 2.817 Bankstellen.
Von spontaner Hilfe zur koordinierten Unterstützung
Bereits kurz nach dem Mauerfall am 9. November 1989 kam es zwischen Bankgenossenschaften in Ost und West zu ersten individuellen Kontakten. Sie ergaben sich oft aufgrund räumlicher Nähe im grenznahen Bereich, aber auch durch vorhandene Städtepartnerschaften oder das Interesse westdeutscher Bankmitarbeiter an früheren Heimatorten. Aus den Kontakten entwickelten sich meist unkomplizierte Kooperationsbeziehungen. Diese reichten vom Bereitstellen von Taschenrechnern, Schreibmaschinen, Kopiergeräten, Geldzählautomaten, Formularen, bundesdeutschen Gesetzbüchern und anderer Fachliteratur oder auch ganzen Büro- und Schaltereinrichtungen bis hin zum gegenseitigen Mitarbeiteraustausch. Dabei halfen verschiedene Mitarbeiter der westdeutschen Banken bei ihren ostdeutschen Kollegen aus und gaben ihnen nebenbei erste Einführungen in das bundesdeutsche Banksystem, den Aufbau einer Anlageberatung oder zur Gesprächsführung bei Kreditberatungen. Ergänzend fuhren ostdeutsche Bankangestellte zu Qualifizierungsmaßnahmen in die westdeutschen Partnerbanken, teilweise absolvierten ostdeutsche Berufseinsteiger hier auch ihre Lehre.
Die spontanen Kooperationen wurden in der ersten Jahreshälfte 1990 durch gezielte Hilfsmaßnahmen der westdeutschen Genossenschaftsverbände ergänzt. Der damalige Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Volksbanken und Raiffeisenbanken (BVR), Wolfgang Grüger, gab das Ziel aus, auch in der DDR einen genossenschaftlichen Bankenverbund wie in der Bundesrepublik entstehen zu lassen. Um die dortigen Genossenschaftsbanken "für den harten Wettbewerb der Zukunft" zu rüsten, müssten im Rahmen eines genossenschaftlichen Solidarpaktes qualifizierte Mitarbeiter in die ostdeutschen Genossenschaftsbanken entsandt und dort in größerem Umfang Sachinvestitionen und Baumaßnahmen vorgenommen werden.
Zur besseren Koordinierung der Unterstützungsleistungen übernahmen die regionalen Genossenschaftsverbände der Bundesrepublik die Betreuungsfunktion für einzelne Bezirke in der DDR.
Finanzierungspaket des genossenschaftlichen Finanzverbundes
Zur Finanzierung der Hilfeleistungen aus dem genossenschaftlichen Finanzverbund initiierte der Bundesverband der Volks- und Raiffeisenbanken im Mai 1990 einen besonderen Solidarfonds "Personelle Maßnahmen". Dieser sah eine Abgabe der westdeutschen Mitgliedsbanken in Höhe von 0,1 Promille ihrer Bilanzsumme per 31. Dezember 1988 vor.
Diese finanziellen Hilfen erfolgten nicht uneigennützig. Denn bei den Genossenschaftsverbänden und auch den Verbundunternehmen sah man das erhebliche Geschäftspotenzial im Osten mit seinem unterentwickelten Finanzsektor. Und wenn man auch im wiedervereinten Deutschland den bisherigen Marktanteil zumindest halten, wenn nicht sogar ausbauen wollte, konnte man das ostdeutsche Bankgeschäft nicht allein den Sparkassen und Privatbanken überlassen.
Die Verbandsfrage
Auf Verbandsebene ging es darüber hinaus darum, für die ostdeutschen Banken die gesetzlich geforderte Zugehörigkeit zu einem Prüfungsverband zu gewährleisten und damit auch die Mitgliedschaft in der Sicherungseinrichtung des BVR zu erreichen. Ursprünglich gab es auf ostdeutscher Seite die Überlegung, den Verband der Genossenschaftskassen für Handwerk und Gewerbe der DDR – der sich auf seinem Verbandstag am 20. April 1990 in Verband der Kreditgenossenschaften der DDR umbenannt hatte
Diese Entscheidung stieß bei den ostdeutschen Genossenschaftsverbänden erwartungsgemäß auf "kein Verständnis", zumal "diese Fragen ohne Beteiligung der Verbände und Primärgenossenschaften in der DDR behandelt und entschieden wurden".
Mentalitätswandel bei den Mitarbeitern
Für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den einzelnen Genossenschaftsbanken waren die Entscheidungen über die zukünftigen Verbandsstrukturen von eher untergeordneter Bedeutung. Sie standen 1990 vor ganz anderen Herausforderungen. Dazu zählten allgemein zahlreiche neue Begrifflichkeiten, die sich ändernden (bank-)rechtlichen Vorschriften und Gesetze oder der vielfach über Nacht zu erlernende Umgang mit neuer Banktechnik. Hinzu kamen die Anforderungen des Massengeschäfts, verbunden mit vielen neuen Produkten. Statt der bisher üblichen Spareinlagen zum Einheitszinssatz von 3,25 Prozent gab es nun zahlreiche Sparmöglichkeiten mit unterschiedlichen Verzinsungen und Laufzeiten. Gleichzeitig änderten sich auch die Kundenwünsche: Besonders hoch war die Nachfrage vor allem im Jahr 1990 nach Krediten für den Autokauf. Parallel stieg die Nachfrage nach Kfz-Versicherungen, die oftmals über den Verbundpartner R+V befriedigt werden konnte. Ebenfalls bestand großer Nachholbedarf bei der Sanierung und Modernisierung von Gebäuden. In der Folge zeigte sich beispielsweise schon vor der Wirtschafts- und Währungsunion am 1. Juli 1990 eine starke Nachfrage nach den von der KfW sowie von der 2003 mit ihr fusionierten Deutschen Ausgleichsbank angebotenen Förderkrediten.
Insgesamt verlangte der Wandel hin zu einer Universalbank von den Mitarbeitern der Genossenschaftskassen und Bäuerlichen Handelsgenossenschaften, die zu DDR-Zeiten ja nur begrenzte Bankaufgaben für eine klar definierte Kundengruppe übernehmen durften, einen erheblichen Mentalitätswandel. Zudem mussten sie die Erkenntnis bewältigen, dass sich ihre Bank künftig in einem freien Markt eigenverantwortlich gegen die lokale Konkurrenz anderer Banken behaupten musste. Plötzlich standen sie vor der Aufgabe, die zahlreichen neuen Produkte ihrer Bank – die sie zum Teil selbst gerade erst verstanden – nun auch verkaufen zu müssen. Dieser Kulturschock und der damit einhergehende Leistungsdruck waren gerade für die älteren Mitarbeiter nicht so leicht zu bewältigen. Doch durch den Wandel zur Universalbank mit einem breiteren Kunden- und Dienstleistungsspektrum wuchs auch der Arbeitskräftebedarf der Banken. Die Aussicht auf einen festen Arbeitsplatz in unsicheren Zeiten sorgte bei den Mitarbeitern für Zuversicht und den Willen, sich im Prinzip noch einmal neu in das Bankgeschäft einzuarbeiten. Damit war auch die Bereitschaft verbunden, das damals in den Banken notwendige hohe Arbeitspensum, nicht nur in der Zeit vor und kurz nach Einführung der D-Mark, zu erfüllen.
Anpassung an die "neue Zeit"
Im Tagesgeschäft standen die ostdeutschen Genossenschaftsbanken vor einer Reihe weiterer Aufgaben. So musste beispielsweise die Rechnungslegung den westdeutschen Vorschriften angepasst und eine D-Mark-Eröffnungsbilanz erstellt werden. Diese erste, nach bundesdeutschen Vorschriften zu erstellende Bilanz, die jedes DDR-Unternehmen per 1. Juli 1990 aufstellen musste, stellte sozusagen den bilanziellen Neuanfang zur Währungsunion dar. Zudem mussten die zu DDR-Zeiten von Genossenschaftsbanken und Sparkassen meist gemeinschaftlich auf Regionalebene organisierten Verrechnungssysteme und die Lohnbuchhaltung aufgetrennt werden. Integriert wurden von den ostdeutschen Genossenschaftsbanken dagegen die meisten Kreisfilialen der vormaligen Bank für Landwirtschaft und Nahrungsgüterwirtschaft (BLN). Das betraf vor allem die Bäuerlichen Handelsgenossenschaften, die in der DDR überwiegend auf das Kassengeschäft und das Einsammeln von Spargeldern beschnitten worden waren. Hier bildete das landwirtschaftliche Kreditgeschäft der Kreisfilialen eine wichtige Ergänzung für die neu entstehenden Raiffeisenbanken.
Darüber hinaus hatten sich die Banken mit Blick auf die neue Konkurrenz unter den Instituten und den nun Einzug haltenden Kampf um Kunden und Marktanteile jetzt auch mit Standortfragen auseinanderzusetzen. Neue Geschäftsstellen entstanden. Zudem wurden zum Teil bisherige Standorte an zentralere Plätze verlegt sowie frühere, in der DDR geschlossene Bankfilialen wieder neu eröffnet. Ein weiteres Problem vieler Bankgebäude war ihr baulich oft maroder Zustand. Bei der Sanierung dieser Geschäftsstellen kam dann neben der baulichen Sicherheit der Gebäude auch der Schutz vor Bankräubern hinzu.
Diese und andere notwendige Investitionen litten allerdings unter der bei den ostdeutschen (Genossenschafts-)Banken allgemein sehr gering ausgeprägten Eigenkapitalbasis. Meist lag sie deutlich unter der vom bundesdeutschen Kreditwesengesetz geforderten Eigenkapitalquote von mindestens vier Prozent der Bilanzsumme. Angesichts dieser Situation und den zu erwartenden weiteren Belastungen durch nicht werthaltige Altkredite wurde den ostdeutschen Banken von der Bundesrepublik im Rahmen der Wirtschafts- und Währungsunion eine entsprechende Eigenkapitalaufstockung auf vier Prozent ihrer jeweiligen Bilanzsumme aus dem staatlichen Ausgleichsfonds "Währungsumstellung" zugestanden.
Im ländlichen Bereich bedeutete die Neuordnung des ostdeutschen Bankwesens darüber hinaus die Trennung von Geld- und Warengeschäft, wie es in Westdeutschland größtenteils schon in den 1960er und 70er Jahren geschehen war. Zwar wurde von den Bäuerlichen Handelsgenossenschaften anfänglich oft die weitere Bündelung beider Geschäftsbereiche angestrebt, doch barg das einige Risiken. Denn je mehr vor allem westdeutsche Baumärkte mit neu gebauten, modernen Verkaufscentern in den Osten drängten, desto härter wurde das Geschäft für die vielfach "angestaubt" wirkenden BHG- beziehungsweise Raiffeisenmärkte. Zudem verringerten die im Handelsgeschäft durch den üblichen Verkauf auf Rechnung entstehenden Außenstände angesichts gesetzlich vorgegebener Höchstkreditgrenzen die Möglichkeiten bei der Kreditvergabe im "normalen" Bankgeschäft. In dieser Situation drängten die westdeutschen Genossenschaftsverbände darauf, Bank- und Warengeschäft zu trennen. Zusätzliches Gewicht bekam dieser Schritt durch die Aussicht, die niedrige Eigenkapitalausstattung der Banksparte durch die zu erwartenden staatlichen Ausgleichszahlungen aufstocken zu können. In der Folge beschlossen die Bäuerlichen Handelsgenossenschaften offenbar bis auf wenige Ausnahmen noch 1990 die Trennung ihres Geschäftsbetriebes in eine Raiffeisenbank und eine Handels- und Warengenossenschaft.
Neuer Konsolidierungsprozess
Von den Bankmitarbeitern erforderte der plötzlich abrupte Systemwechsel einen Mentalitätswandel weg vom abgegrenzten Bankgeschäft nach Planvorgaben hin zum eigenständigen, am Kundenbedarf orientierten Beraten und Verkaufen – und das nun in steter Konkurrenz zu anderen Banken. Wichtige Unterstützung kam von den westdeutschen Genossenschaftsbanken, ihren Verbänden und den Verbundunternehmen. Im Zuge der Neuordnung des genossenschaftlichen Bankenbereichs in der ehemaligen DDR ergab sich aber auch rasch die Notwendigkeit eines weiteren Konzentrationsprozesses. So lag beispielsweise das Geschäftsvolumen der ostdeutschen Kreditgenossenschaften zum Jahresende 1990 mit 15 Millionen DM je Bankstelle deutlich niedriger als bei den privaten Kreditbanken (894 Millionen DM) und den Sparkassen (50 Millionen DM). Hinzu kam eine starke Zersplitterung in 338 separate Genossenschaftsbanken (im Vergleich zu sechs Kreditbanken und 195 Sparkassen).
Daraus resultierten unter anderem eine geringere Eigenkapitalausstattung, ein kleinerer Kundenstamm sowie insgesamt höhere Aufwendungen etwa beim Einsatz neuer EDV-Technik. Als Reaktion darauf kam es bereits ab 1990 unter den zu kleinen Genossenschaftsbanken zu einem weitreichenden Konzentrationsprozess. Dabei schrumpfte ihre Zahl bis 1998 um 190 auf noch 148 Volks- und Raiffeisenbanken, der Umfang der Bankstellen nahm von 1.971 auf 1.648 ab.
Marvin Brendel, Die Transformation der ostdeutschen Genossenschaftsbanken nach 1989, in: Deutschland Archiv, 1.7.2015, Link: http://www.bpb.de/208818