"Wie schicksalhaft das Leben doch verfliegt! Du blickst zurück, die Stimmung leicht gedämpft: Nicht jeder der gekämpft hat, hat gesiegt. Nicht jeder, der gesiegt hat, hat gekämpft …"
Ernst Röhl
Herbst 1989. In dieser Zeit schien in der DDR - nach vielen Jahren des Stillstandes und der Starre - alles möglich. Alles schien offen und viele nutzten die Chance, etwas möglich zu machen. Eine Erfahrung, die die Menschen hier so bisher nicht kannten. Das war für viele sehr aufregend, faszinierend und elektrisierend zugleich. Für die Akteure und Vordenker dieses Aufbruchs und Umbruchs sowieso. Aber auch für viele, die bisher die Zustände duldeten. Und für die vielen plötzlich von den Umständen Getriebenen. Und jene, die noch immer mehrheitlich lieber Zuschauer blieben.
Der oft in Ost und West so stabil erschienene DDR-Staat war aus dem Gleichgewicht gefallen. Er war im wahrsten Sinne des Wortes ohnmächtig geworden. Noch heute glaubt der Bürgerrechtler Jens Reich, dass in dieser historischen Situation "der Gedanke, die Gesellschaft mittels legalen Möglichkeiten zu öffnen, ganz erheblich dazu beitrug, dass so viele Menschen damals bereit waren, sich im Neuen Forum zu engagieren. Wir vom Neuen Forum wussten natürlich, dass die Machthaber sich nicht an ihre Gesetze hielten. Sie selbst wussten das auch. Auch den DDR-Bürgern war das klar. Die Verfassung beim Wort nehmen, obwohl jeder wusste, dass sie so wörtlich nicht gemeint war, das war der Trick. Das machten damals viele so […] Das war nur scheinbar naiv [...] Erstaunlich ist, dass es dabei nur selten zu Zusammenstößen kam. Das war vielleicht einzigartig […] Das hätte auch ganz anders ausgehen können."
Viele Zeitgenossen empfanden diesen historischen Zeitabschnitt als das "Jahr der fröhlichen Anarchie", in der plötzlich alles möglich war. Sogar die ostdeutschen Medien begannen offen und interessant zu berichten. Zu diesem Zeitpunkt hielt noch die Mehrheit der politisch aktiven Kräfte in der DDR die Reform innerhalb des bestehenden Staates und des gesellschaftlichen Systems als den einzig möglichen Weg tatsächlicher politischer Veränderungen.
Es ist also kein Wunder, dass in jener Zeit das Verfallsdatum für politische Ideen und Konzepte sehr kurz bemessen war. Deshalb entstand bei den Autoren spontan der Plan, unbedingt einen Weg zu finden, typische historische Momentaufnahmen mit hohem Aussagewert und vergleichendem Charakter zu sichern.
Vom 21. Februar bis 17. März 1990, also bis einen Tag vor der ersten freien Wahl in der DDR, interviewten sie die Bürgerrechtler und Aktivisten der Wende Michael Arnold (Gründungsmitglied Neues Forum), Tatjana Böhm (Gründungsmitglied des Unabhängigen Frauenverbandes), Rainer Eppelmann (oppositioneller Pfarrer, Gründungsmitglied Demokratischer Aufbruch), Gerd Poppe (Initiative Frieden und Menschenrechte), Friedrich Schorlemmer (oppositioneller Pfarrer, Gründungsmitglied Demokratischer Aufbruch), Wolfgang Ullmann (oppositioneller Pfarrer, Gründungsmitglied Demokratie Jetzt) und Christine Weiske (Grüne Partei der DDR) von denen viele am Zentralen Runden Tisch mitarbeiteten. Zudem sprachen sie mit den Politikern Gregor Gysi (Parteivorsitzender der damaligen SED-PDS), Klaus Höpcke (stellvertretener Minister für Kultur und "Zensor" des DDR-Buchwesens) und Martin Kirchner (CDU in der DDR).
Auch die Kirchenleute Gottfried Forck (oppositioneller Theologe und evangelischer Bischoff in Berlin-Brandenburg) und Peter Zimmermann (Theologe in Leipzig), die Wissenschaftler Jürgen Kuczynski (emeritierter, kritischer Wirtschaftshistoriker), Dieter Segert (kritischer Politikwissenschaftler in Berlin), Dieter Wittich und Bernd Okun (Philosophieprofessoren in Leipzig), der Schriftsteller Walter Janka und der Filmemacher Konrad Weiß wurden zum Wendegeschehen befragt.
Die Interviews wurden mittels Video aufgezeichnet und sollten später in Schulen und Universitäten der DDR in der Aus- und Weiterbildung Verwendung finden. Dazu aber kam es nie. In den Wirren des Umbruchs geriet das Material gänzlich in Vergessenheit und wurde sozusagen zu einer eingefrorenen Zeitzeugenerinnerung, die erst im Jahr 2008 von Studenten der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin (HTW) wiederentdeckt wurde.
Die Interviews waren keine Auftragsarbeit des DDR-Instituts für Film, Bild und Ton (IFBT), wie gelegentlich behauptet und vermutet wird.
Das größere Problem war nunmehr, genügend - für das historische Geschehen repräsentative - Interviewpartner von dem Projekt zu überzeugen. Die Autoren verfügten in dieser Zeit weder über aktuelle Adressen, noch über ein Büro oder personelle Ressourcen. Ganz zu schweigen von Telefonen oder Computern. Einzige vorhandene Hilfsmittel waren neben der Videokamera primitive Schreibutensilien und eine ältere Schreibmaschine namens Erika.
Dennoch gelang es in dieser kurzen Zeit, durch vielfache persönliche Anfragen und Vorstellungsgespräche, genügend repräsentative Interviewpartner zu finden. Lediglich Hans Modrow und Lothar de Maizière sagten aus Termingründen kurzfristig ab. Die Interviews fanden immer in den Büros oder Wohnungen der Interviewten oder in nahegelegenen Parks statt. Einmal auch in einer Mensa. Die Zeit war stets knapp bemessen. Vorgespräche zu den Interviews waren so gut wie nie möglich. Die Interviewfragen waren dem IFBT ebenso wenig bekannt wie den Interviewpartnern. Auch die bereits stattgefunden Interviews spielten bei der Vereinbarung neuer Termine keine Rolle.
Das Besondere und Einmalige dieser Videointerviews besteht darin, dass sie als originäre Momentaufnahmen in einer historischen Situation entstanden sind, in der sich in atemberaubendem Tempo das Leben der Interviewten und Interviewer gleichermaßen radikal veränderte und die verschiedenen Vordenker und Akteure des Umbruchs in der DDR mit vergleichbaren Fragen und Problemen zeitnah konfrontiert worden sind. Tagespolitische Ereignisse spielten dabei ebenso wenig eine Rolle wie persönliche Befindlichkeiten. Das zeitgeschichtliche Material aus der Zeit der Wende in der DDR ist groß, riesengroß. Seine Auswertung dauert seit nunmehr zwei Jahrzehnten an. Ein Ende ist nicht abzusehen. Und noch immer kommt wieder und wieder bisher unentdecktes Material hinzu. Auch die wiederentdeckten 18 Videointerviews von 1990 stellen nunmehr einen solchen historischen Splitter dar.
Zeitzeugen
Die Autoren haben ihr zeitgeschichtliches Material noch im Jahr des Entstehens systematisiert und ihre Fragen und Hypothesen publiziert. Im Herbst 1990 sind hierzu folgende zwei Artikel im Deutschland Archiv erschienen: Interner Link: Ein Jahr danach. Auf der Suche nach Fragen und Antworten zur Wende in der DDR. (Heft 11/1990); Mit Vordenkern der Wende im Gespräch. (Heft 12/1990). Im ersten Beitrag standen die Analyse der Ursachen der Wende und die Charakterisierung ihrer Hauptakteure im Mittelpunkt der Auswertung. Im zweiten Beitrag hingegen wurden wichtige Auszüge aus den Videointerviews von verschiedenen Vertretern der Vordenker und Akteuren der Wende erstmals auszugsweise in Textform dokumentiert.
1. Ursachen der Krise
Die Autoren verdichteten die Inhalte der Interviewantworten und stellten zwei wesentliche Ursachen für die Krise fest. Ursachen, die dem sozialistischen Gesellschaftssystem als immanent angesehen wurden. Zum einen, dass der Sozialismus im Vergleich zu allen Spielarten der Marktwirtschaft ineffizienter war. Zum anderen, dass alle Versuche, diese ökonomische Unterlegenheit durch politischen, ökonomischen und sozialen Dirigismus zu kompensieren, nicht erfolgreich waren. Diese beiden systemischen Defekte existierten in allen sozialistischen Staaten, was zur Folge hatte, dass alle sozialistischen Staaten zeitnah in eine Existenzkrise gerieten. Insofern war der Zusammenbruch der DDR nur die deutsche Variante des Zusammenbruchs des sozialistischen Gesellschaftssystems überhaupt.
2. Hauptakteure
Aus den Antworten der Interviewten konnten vier Gruppen von Hauptakteuren der Wende in der DDR ermittelt werden:
gesellschaftssystem- und administrationskonforme Kräfte,
systemreformerische und administrationsablehnende Kräfte,
systemablehnende Kräfte, die sich für einen neuen Typ demokratischer und ökologischer Gesellschaft einsetzten, der weder realsozialistisch noch realkapitalistisch sein sollte,
Kräfte für den radikalen Systemwechsel zu sozialer Marktwirtschaft und westlichen Demokratie.
Maßstäblich für die Einordnung in diese Gruppen waren dabei nicht primär die soziale Stellung der Akteure, ihr Alter oder ihre Zugehörigkeit zu Parteien, sondern die für sie geltenden Wertvorstellungen und die vorhandenen Mentalitäten. Insofern war auch anzunehmen, dass diese Wertvorstellungen und Mentalitäten auch über eine oder zwei Generationen in den Köpfen der ehemaligen DDR-Bürger weiterleben und das politische Klima des vereinten Deutschlands mitbestimmen werden.
3. Phasen
Bei der Analyse der zeitgeschichtlichen Ereignisse vor 25 Jahren gingen die Autoren zunächst von sechs Phasen der Wende in der DDR aus:
Phase 1: 1985 bis Frühjahr 1989
Phase 2: Mai 1989 bis Anfang September 1989
Phase 3: Mitte September 1989 bis 9. November 1989
Phase 4: 10. November 1989 bis Mitte Januar 1990
Phase 5: Mitte Januar 1990 bis 18. März 1990
Phase 6: 19. März 1990 bis 3. Oktober 1990.
Es konnte festgestellt werden, dass sich die Hauptakteure der Wende in den einzelnen Phasen unterschiedlich entwickelten. Was zur Folge hatte, dass sie bei der Masse der DDR-Bevölkerung in den einzelnen Phasen unterschiedliche Glaubwürdigkeit genossen. Dadurch entstanden auch schnell wechselnde Mehrheitsstimmungen. Besonders in diesem Prozess war eine starke Politisierung der DDR-Bevölkerung zu beobachten. Der Erfolg beziehungsweise Misserfolg der Hauptakteure der Wende und ihrer Repräsentanten hing in den einzelnen Phasen maßgeblich auch davon ab, wie sie die internationale Entwicklung des Zusammenbruchs des Sozialismus und das Verhalten der westlichen Führungsmächte dazu analysierten und in ihre politische Strategie einbanden.
4. Regionale Unterschiede
Schließlich verwiesen die Autoren auf regionale Unterschiede, ohne dies im Beitrag von 1990 weiter auszuführen. Die Auswahl der Interviewten zeigte dies jedoch bereits. Kamen doch fünf der Gesprächspartner aus Sachsen und Sachsen-Anhalt und die anderen aus Berlin. Insbesondere die vier Leipziger Interviewten zeigten, dass diese Region in den Phasen zwei und drei die entscheidende Rolle spielte und danach die regionale Vorreiterrolle von Berlin übernommen wurde.
Nach 25 Jahren
Als die beiden Beiträge 1990 im Deutschland Archiv erschienen, waren die Autoren bereits auf dem Weg in die Wirtschaft. Ihr Wissen über die andersartige politische, ökonomische und soziale Entwicklung in Ostdeutschland war nunmehr hier gefragt. Die neuen Spielräume für ihre neue Tätigkeit waren entsprechend groß. Insofern konnten sie die weiteren Diskussionen zu den von den Interviewten und ihnen aufgeworfenen Fragen und aufgestellten Hypothesen nicht mehr intensiv mitführen, ja nicht einmal mehr überblicken.
Zur geplanten Produktion und zum Vertrieb der Videointerviews kam es in den Wirren dieser Zeit nicht mehr. Das Institut für Film, Bild und Ton (IFBT) wurde im September 1990 - wie viele andere DDR-Institutionen auch - aufgelöst und ersatzlos abgewickelt. Sein Fundus wurde eingelagert und vergessen. Im Jahr 2000 wurde dieser an die Hochschule für Technik und Wirtschaft in Berlin übergeben und hier katalogisiert und archiviert.
Studenten des dortigen Studienganges "Konservierung und Restaurierung - Audiovisuelles und Fotografisches Kulturgut" entdeckten 2008 die Videointerviews im Archiv "als ein Stück Zeitgeschichte, das kaum aktueller und spannender sein kann".
Am 5. November 2012 wurde schließlich das Material nach mühevoller Restauration im Rahmen der Veranstaltung "Innenansichten. Unveröffentlichte Videointerviews aus der Zeit des demokratischen Umbruchs in der DDR" in Gestalt digitalisierter Videodateien und eines Transkriptbuchs
Die Autoren sind gespannt zu erfahren, welche ihrer damaligen Fragen und Thesen empirische Bestätigung fanden oder noch finden. Ob sie überhaupt forschungsrelevant waren, oder ob andere zeitgeschichtliche Analysen und Hypothesen sie ins Abseits und Vergessen drängten oder noch drängen.
Wir wären schon zufrieden, wenn die von uns vor 25 Jahren geführten Externer Link: Videointerviews als zeitgeschichtliche Zeugnisse erhalten blieben und damit nachfolgenden Generationen helfen könnten, diesen aufregenden Zeitabschnitt der deutschen Geschichte zu verstehen. Allein schon damit hätte sich das Ziel unserer damaligen spontanen privaten Forschungsinitiative erfüllt.
Zitierweise: Horst Lange und Uwe Matthes, 25 Jahre danach. Erinnerungen, Fragen, Thesen. In: Deutschland Archiv, 1.6.2015, Link: http://www.bpb.de/207049