Ein neues 1968?
Bezogen auf das SED-Unrecht leben wir aufarbeitungspolitisch heute im Jahr 1970. Zumindest, wenn man das Ende des Zweiten Weltkriegs und die Aufarbeitung des NS-Unrechts als Bezugspunkt für diesen Vergleich heranzieht. So manche hatten auf ein neues 1968 gehofft, auf eine zweite Revolution, in der Heranwachsende fordernd und aufbegehrend das Tun und Lassen ihrer ostdeutschen Eltern in der Diktatur hinterfragen. Doch das ist ausgeblieben und wird auch nicht mehr kommen. Vielleicht, weil über das DDR-Unrecht nicht nur geschwiegen wurde – anders als über das NS-Unrecht in der ersten Nachkriegszeit?
Also keine zweite Revolution. Wobei Revolutionen nicht immer adäquate Mittel sind, um Ereignisse voranzutreiben. Schließlich weiß man nie genau, wie es ausgeht. Noch schlimmer ist es, wenn Revolutionäre hinterher behaupten, dass sie schon immer genau das gewollt haben, was am Ende herausgekommen ist. Unaufrichtigkeit ist das Letzte, was den Helden zu Gesicht steht. Wer über die 1989er Revolution spricht, muss über Erfahrungen des Scheiterns sprechen und ganz andere Töne anschlagen als die seit Jahren immer wieder zu vernehmenden eintönigen Heldengesänge. Auch ich gehöre zu jenen Besungenen und fühlte mich immer un-wohl, wenn das Trällern losging: "Von wem reden die da eigentlich?" Wohin es führt, sieht man am gegenwärtigen Dilemma, nämlich den falschen Narrativen, die über die DDR und den Widerstand gegen die SED-Diktatur kursieren. Weil sie ja doch irgendwann korrigiert werden müssen, wäre es doch günstig, jetzt, 25 Jahre nach der Revolution, damit zu beginnen. Denn daran, dass sie sich ändern müssen, zweifele ich nicht.
Ratlose Revolutionäre?
Längst sind die Zeiten vorbei, in denen jedes Mal, wenn in der Bundesrepublik etwas nicht so demokratisch lief, wie es sollte, nach DDR-Revolutionären gerufen wurde. Zuletzt tat es der Schriftsteller Ingo Schulze im April 2013 in seiner Laudatio für Christoph Hein, doch eher abwertend, indem er vielen "ehemaligen" Bürgerrechtlern vorwarf, sich als Sieger eingerichtet zu haben.
Fragwürdige Geschichtskenntnisse
Nach meiner Erfahrung wissen Schüler über die DDR erschreckend wenig. Namen und Ereignisse aus der NS-Zeit, der DDR und der Bundesrepublik geraten fast immer durcheinander. Sicher, Geschichte ist nicht jedermanns Sache. Doch auch sehr interessierte und belesene Schüler liegen, gebildet durch realitätsferne Narrative, beim Thema DDR fast immer vollkommen daneben. Um nur ein prägnantes Beispiel zu nennen: Ich lasse gern in Führungen und Diskussionsveranstaltungen den Prozentsatz der DDR-Bürger schätzen, die im Mai 1989 dem SED-Wahlvorschlag zugestimmt, also ihren Wahlzettel ohne Änderung gefaltet in die Urne geworfen haben. Damals konnte erstmalig durch vergleichbare Referenzzahlen der Wahlbetrug eindeutig belegt werden. Die Schüler glauben, dass die DDR-Bürger mehrheitlich gegen die SED-Herrschaft waren und schätzen deren Zustimmung für den Wahlvorschlag gewöhnlich zwischen nur 30 bis 60 Prozent – selbst die Schüler, denen das Wahlsystem der DDR geläufig ist. Ihr Staunen ist jedoch groß, wenn sie die tatsächliche Zahl erfahren: 85 bis 90 Prozent der DDR-Bürger haben dafür gestimmt! Wie geht das? Die Antwort ist einfach: Eine Diktatur ist nicht die Herrschaft einer Minderheit, sondern sie funktioniert nur, wenn sie die Massen hinter sich weiß, wenn sie zusammen mit einer großen Mehrheit über kleine Minderheiten herrscht. Auf dem Studierpult Lenins und seiner Nachfolger mögen sich die Werke von Marx und Engels gestapelt haben, doch unter dem Kopfkissen lag der Machiavelli. Und nach dem haben sie auch gehandelt.
Woher das falsche Wissen? Woher die realitätsfremden Narrative? Sie sind die Folge einer miserablen Lösung des aufarbeitungspolitischen Problems, vor dem man nach dem Ende der SED-Diktatur stand: Wie klärt man die ehemaligen DDR-Bürger über den Unrechtsstaat auf und bekommt sie zugleich auf seine Seite? Doch nicht, indem man ihnen klarmacht, dass sie Mitläufer in einem System waren, das sich durch Verbrechen an der Macht hielt. Ein System, in dem sie sich selbst gemütlich eingerichtet hatten, eine schweigende, wegschauende Mehrheit bildeten, oder gar Mittäter waren. Nein, ihnen galt es beizubringen, dass sie bei allem, was sie getan haben, eigentlich Opfer gewesen sind. Verführte. Denn: Das Volk ist gut! Nur die Partei mit ihrem Machtapparat war böse. Als Rechtfertigungsargument für unedles Verhalten in der Vergangenheit wird immer wieder gern das altbewährte und stets hoch im Kurs stehende: "Man musste ja, sonst wäre man!" strapaziert oder die Westvariante: "Ich wüsste nicht, was ich getan hätte!" Das sind Metaphern der Antiaufklärung.
Dennoch, oder gerade deshalb, erscheint die Bewältigung des SED-Unrechts, wie sie weitläufig praktiziert wurde, als ein großangelegtes DDR-Mitläufer-Reinigungsprogramm. So blöd sind die Jugendlichen von heute aber nicht, dass sie nicht merken, wie einerseits in der Schule beim Thema DDR Zwang und Unrechtsstaat gelehrt werden, aber Mutti und Vati feuchte Augen kriegen, wenn sie von den Hausgemeinschafts- und Datschenfesten erzählen und Pionierlieder singen. Den eigenen Eltern wird natürlich mehr geglaubt, als den merkwürdig uncool erscheinenden und unmöglich in den Medien präsentierten DDR-Widerständlern. Die DDR von ihrer merkwürdig immensen Integrationskraft her zu erklären, und damit die Sache grundsätzlich anders anzugehen, wäre das genaue Gegenteil von dem, was politisch intendierte Aufarbeitungstrusts bisher getan haben. Solange "Keiner-wollte-die-DDR!" gehämmert wird, kann man jede glaubwürdige Aufarbeitung vergessen.
Selektive Schuldzuweisungen
So wichtig und notwendig die öffentliche Ächtung der Staatssicherheit und ihrer inoffiziellen Mitarbeiter war, so nachteilig wirkte sich diese einseitige Konzentration auf die Diktaturaufarbeitung aus. Denn auf sie stürzten sich mit Wutgeheul die Journalisten, Politiker, Pädagogen, Publizisten, alle, ich will mich selbst gar nicht ausschließen. Endlich hatte man die Schuldigen, so glaubte man. Was vergessen wurde und was vielleicht auch vergessen werden sollte, waren die vielen Angepassten, die Mitmacher. Weitaus weniger hart traf die öffentliche Verachtung die Volkspolizisten und ihre vielen freiwilligen Helfer, die wachsam patrouillierten, damit keiner eine verbotene Losung an die Wand schrieb. Ebenso wenig traf es die unteren und mittleren Funktionäre der Blockparteien, die sich so freiwillig wie zuverlässig den Direktiven der SED fügten. Was ist mit den Lehrern, die ihre Schüler wegen unliebsamer Äußerungen zur Verantwortung zogen, was mit den Richtern und Schöffen, die Alkoholiker, unangepasste Jugendliche und kritische Künstler wegen angeblicher Asozialität verknackten? Was ist mit den denunzierenden Nachbarn, mit all denen, die der Volkspolizei und den Mitarbeitern des Innenministeriums bereitwillig Auskunft gaben? Was ist mit den wachsamen Bürgern, die im Grenzgebiet jeden Fremden meldeten, was mit den Journalisten, die auf Anweisung den größten Unsinn zusammenschrieben? Sie waren zuverlässige Stützen des SED-Staats, die man nun brauchte, um den neuen Staat der Einheit aufzubauen. Viele von ihnen verstanden die Kampagnen gegen die inoffiziellen Mitarbeiter nach 1990 als Angebot, "das Böse" auszukehren, sich mit öffentlichen Bekenntnissen rein zu waschen, mit Bekenntnissen, die sie stets zu liefern gewohnt waren. Wohlgemerkt, etliche haben ihr Mittun inzwischen eingesehen, obwohl nur wenige darüber sprechen. Und es gab natürlich Aufrechte in der DDR, die sich enthielten und sich für Betroffene einsetzten. Doch sie waren nicht oft zu vernehmen.
Ein neues demokratisches Gemeinwesen mit Menschen aufzubauen, die in den Jahren davor angepasst und systemtreu waren, ist eine schwere Aufgabe. Das Integrationsangebot, das zulasten der inoffiziellen Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) unterbreitet wurde, sorgte für halbwegs stabile Verhältnisse. Dabei schien die Tatsache, dass die neu ent-stehenden Narrative über die DDR nicht unbedingt das wiedergeben, was sich tatsächlich ereignet hat, möglicherweise als das geringere Übel.
Begriffe, die verklären
Die schwersten Schäden trugen – wie schon angedeutet – die Revolutionäre selbst davon. Waren sich ihre Gruppen schon in den 1980er Jahren selten einig, so sind sie jetzt fast vollkommen paralysiert, ein Zustand, der sich nicht mehr ändern lässt. Gegen ihren Willen machten sie, die einst ausgesprochen heterogene Gebilde waren, in den letzten 25 Jahren einen gewissen Homogenisierungsprozess durch, der damit begann, dass man sie mit der einheitlichen aber irreführenden Bezeichnung "Bürgerbewegte" versah. Schon in den 1980er Jahren von den Westmedien benutzt, erwies sich dieser Begriff als bedeutend leichter handhabbar, als das Wort "Friedensbewegte", denn Konservativen im Westen war die politische Ausrichtung der Anhänger der Friedensbewegung ausgesprochen suspekt. Dabei bestand sie auch im Osten aus etwa der gleichen Klientel: anarchistisch orientierte Basisgruppen, linke Christen, Ökos, Sozialisten, Hippies, Punks, Ostermarschierer, Individualisten und dergleichen. Die Basisgruppen in der DDR führten keine übergreifende Eigenbezeichnung. Selbst den Begriff (außerparlamentarische) Opposition lehnten sie ab, weil er im Westen Deutschlands etwas ganz anderes unter anderen Verhältnissen bezeichnete. Wie in der DDR-Widerstandsliteratur zu lesen ist, stimmt die im Westen kursierende Vorstellung von "bürgerbewegt" nur zu einem geringen Teil mit ihren eigenen Vorstellungen überein. Mitte der 1980er hatten einige von ihnen in Diskussionen versucht, einen Kanon der Bürgerrechte zu etablieren. Andere, die weit überwiegende Mehrheit – das lässt sich an ihrem Schrifttum überprüfen – hielten dagegen, dass solche Freiheitsstandards für sich allein nicht ausreichten, sondern nur durch radikale soziale Reformen in der Gesellschaft umgesetzt werden können.
Der Teil der Widerstandsbewegung in der DDR, der tatsächlich als "Bürgerrechtsbewegung" bezeichnet werden kann, war zumindest in Berlin aufgrund der wütenden Verfolgung durch die Staatssicherheit ab Anfang 1988 bis zum Sommer 1989 oft nur dann noch wahrnehmbar, wenn sein Engagement von zahlenmäßig bedeutenden Ausreisegruppen begleitet wurde. Die meisten Basisgruppen distanzierten sich von den neuen Zusammenschlüssen der Ausreisewilligen, weil sie die Erfahrung gemacht hatten, dass mit ihnen eine Zukunft, ja selbst ein temporäres Zusammengehen in der DDR nicht möglich war. Nichtsdestotrotz wurde die Bezeichnung "Bürgerrechtler" fälschlicherweise auf alle anderen Gruppen übertragen: Wehrdienstverweigerer, Anarchisten, kirchliche Sozialarbeiter, Hippies, Punks, praktisch alles, was gegen die SED auftrat. Weil "Bürgerbewegte" dem Namen nach das Ziel der freiheitlich-bürgerlichen Gesellschaft anstreben, eignet sich der Begriff hervorragend als Vehikel zur Uniformierung der äußerst heterogenen DDR-Gruppen mittels eines "geschichtsfantastischen" Integrationsprozesses. Dabei wird ausgeklammert, dass selbst die Protagonisten dieser "bürgerrechtlich" argumentierenden Gruppen Menschen mit Zick-zack-Biografien sind, ehemalige Sozialrevolutionäre, Aussteiger und Antibürger im wahrsten Sinne des Wortes. Es wäre sinnvoll, von dem Mythen erweckenden Begriff "Bürgerrechtler" Abstand zu nehmen. Hierfür muss allerdings erst der Mythos der Abwesenheit eines DDR-Bürgertums fallen. Was ist denn mit bürgerlich gemeint, das Bild vom Citoyen, dem mündigen Bürger, der über sich selbst bestimmt, oder das dazu kontrastierende einer angepassten sozialen Gesellschaftsschicht, die sich in Diktaturen als überaus zuverlässig erweist? Die Auffassungen bei den Regierungsverantwortlichen in der DDR vom sozialen Leben der Menschen, von Kultur, Kunst, von Familie, von Emanzipation, von nahezu allem, waren kleinkariert, piefig und entsprachen damit bürgerlichen Werten, an denen sich auch die meisten Proletarier orientierten: Zufriedenheit, Stabilität, abschätzbare Risiken, Ruhe und Dankbarkeit gegenüber Funktionären, die das alles ermöglichten.
Vereinfachende Unterteilungen in "gut" und "böse" helfen jedenfalls nicht weiter, ebenso wenig der Versuch, zwischen mehr oder weniger relevanten Oppositionsgruppen, linken und demokratischen, zwischen einem "menschenrechtlich orientierten Teil der Opposition" und einem anderen – wohl nicht menschenrechtlich? – orientierten, zu unterscheiden. Sozialrevolutionäre, Anarchisten, Jugendarbeiter, Hippies und Punks – die den weit überwiegenden und auch aktiveren Teil derjenigen ausmachten, die gegen das SED-Regime unterwegs waren, kippten aus der Geschichte, wenn sie nicht entsprechend einzuordnen waren.
Die überlebensnotwendige Distanzierung einiger Berliner Basisgruppen von Ausreisewilligen brandmarkt man jetzt als Entsolidarisierung und die Ausreiser als mutig in Erscheinung tretende Symptomträger der noch offenen deutschen Frage.
Leider haben es die Aufarbeiter- und SED-Opferkreise nie vermocht, ihre geschlossenen Zirkel zu öffnen. So unglaublich es klingt, in kaum einem anderen Umfeld hat sich der alte DDR-Mief so beharrlich gehalten wie in ihren informellen Kreisen. Den Ton geben seit Jahrzehnten jene alten Herren – und kaum Frauen – an, die ihn bereits in den 1980er Jahren führten. Entsprechend originell ist ihr Kommunikationsverhalten, sind ihre Gesprächsangebote und Ideen für Aufarbeitungsinitiativen.
Anstelle der Darstellung der kulturellen, sozialen und politischen Vorstellungen der Widerständigen, die selten mit den gegenwärtigen Narrativen über die Basisgruppen übereinstimmen, werden lieber bequem handbare Opfer vorgeführt, um das SED-System zu diskreditieren. Doch das öffentliche Desinteresse an so unattraktiv wirkenden Opfern und Gegnern der Diktatur ist ebenfalls eine wichtige Ursache für die defizitären Vorstellungen über die DDR. Diese Tatsache schmerzt jene Opfer und fügt ihren alten Verletzungen noch weitere hinzu. Ein Kreislauf, der echtes, wirkliches Leiden erzeugt, das man ihnen auch ansieht. So schauderhaft es klingt, mir scheint, dass ein doppelter Leidens-Geld-Kreislauf entstanden ist, den ich "Frustrations-Trust" nenne.
Eine neue Geschichtspolitik
Können Wege aus dem Dilemma gefunden werden? Wie vermittelt man den Menschen, vor allem Heranwachsenden, die durch extrem widersprüchlich erscheinende Narrative verunsichert sind, ein glaubhaftes Bild von den Ereignissen in der DDR und wie gibt man den Revolutionären ihre Geschichte und ihre Würde zurück? Hier einige Vorschläge.
Geschichtspolitik: Wir leben in einem Zeitalter der Individualisierung der Geschichtsbilder. Die extrem divergierenden Erinnerungen lassen inzwischen so viele unterschiedliche SED-Staaten entstehen, wie es ehemalige DDR-Bürger gegeben hat. Es wäre falsch, den einseitigen Darstellungen, die sich durchgesetzt haben, neue Dogmen hinzuzufügen. Stattdessen sollten plausible Geschichtsbilder angeboten werden, die sich an zeitgenössischen Quellen orientieren. Harte Fakten wie Mauer, Schießbefehl, Militarisierung, menschenferne Ideologie oder bewusste Verstöße der Parteiorgane gegen die eigenen Gesetze lassen sich genauso wenig "wegerinnern" wie deren Resultate: permanente Mittelmäßigkeit, Umweltzerstörung, eine realitätsferne Borniertheit der Behörden und Parteiorganisationen gegenüber den Interessen der Menschen, am Ende Zerfall und Sturz des Systems. Forschung und Aufarbeitung haben immens viel geleistet. Die Heterogenität der Interpretation sollte nicht mehr als Bedrohung, sondern als komplexe Realität anerkannt und als Chance begriffen werden. Ich empfehle, in der Erinnerungspolitik stärker auf offene und integrierende Vorstellungen zu setzen. Positiv empfundene Wahrnehmungen und Tradierungen von der DDR, wie soziale Sicherheit, Solidarität, Gemeinschaftsgefühl, Leistungsbewusstsein, geringe Kriminalität und so weiter als minder bemittelt und aufklärungsfeindlich abzuqualifizieren, ist ebenso einseitig, wie die Unterstellung eines demokratischen Konsens sowohl in der DDR-Bevölkerung als auch in den widerständigen Gruppen.
Aufarbeitung und Wissenschaft: Eine Möglichkeit zur Korrektur von realitätsfernen Narrativen besteht in der Kennzeichnung von wissenschaftlich aufgemachter Bekenntnisliteratur. Ähnlich wie die Wirtschaft die Schädlichkeit fauler Kredite einzugrenzen versucht, indem sie diese in "Bad Banks" parkt, könnte die Wissenschaft zu ihrem Schutz jene Werke der in wissenschaftlichem Gewand erschienenen Aufarbeitungsliteratur, die als politisch intendiert indiziert wurde, einer "Bibliothek der Würde" zuordnen. Immerhin ist sie auch als enttarnte Bekenntnisliteratur immer noch von hohem authentischen Quellenwert. Dazu sollten entsprechende Parameter wie Quellennähe und die erkennbare politische Intention der Autoren und der Förderer diskutiert werden.
Museen: Der Mangel an hinreichend qualitätsvollen und überzeugenden museumspädagogischen Konzepten an außerschulischen Lernorten beruht weniger auf der Widersprüchlichkeit kursierender Narrative als auf ihrer Unglaubwürdigkeit. Grund sind weniger die Pädagogen aus den Reihen der 68er, die sich weigern, das Scheitern ihrer Utopie anzuerkennen, sondern die generelle Abneigung unserer Gesellschaft, sich auf fremde Denkmodelle einzulassen. DDR-Lernen ist wegen der Komplexität des Themas extrem mühevoll und befremdlich.
Aufarbeitung und Öffentlichkeit: Wesen und Wirkungsweise der, wie ich glaube, im Selbstlauf entstandenen "Frustrations-Trusts" wären zu untersuchen und präzise zu beschreiben, gerade auch hinsichtlich der sich im Leidenskreislauf befindlichen Opfer und Widerständler.
Schrifttum der Widerständigen: In den letzten DDR-Jahren wurden an mehr als 35 Orten über 180 staatskritische Zeitschriften herausgegeben, davon etwa 60 Einzelpublikationen (Flugblätter und künstlerischer Samisdat noch nicht mitgezählt). Etliche zehntausend Seiten mit Berichten, Kommentaren, Polemiken, Streitschriften, Konzepten, Ideen, Erfahrungen und so weiter schlummern so gut wie ungelesen in Pappkartons. Wer kennt sie alle? Kann man sich, ohne wenigstens einen Überblick über sie zu haben, wirklich als DDR-Experten bezeichnen? Ein Projekt zur Digitalisierung wichtigster Samisdat wurde vollendet, die Dateien sind öffentlich zugänglich.
Widerständler mit Würde
Indem man die ehemaligen Widerständler zurück zu ihren alten Worten bringt und in eine Zeit zurückversetzt, in der sie jung und experimentierfreudig waren und etwas erleben und verändern wollten, werden sie gezwungen sein zu erklären, dass und warum sich ihre Ansichten geändert haben. Damit bekämen sie nicht nur ihre Worte zurück, sondern auch ihre Würde. Erst wenn die jungen Leute das Gefühl haben, dass es bei diesen Geschichten auch um sie selbst geht, um Fragen, die auch sie bewegen, werden sie Interesse zeigen und vielleicht sogar von ganz allein kommen. Bei allem notwendigen Respekt vor den Leiden der Opfer: Widerstand war auch eine Quelle der Hoffnung, des Lachens, der Freude, war Empowerment, bestärkte Liebe, Zuneigung und vor allem Zuversicht. Die Widerständler wollten etwas erreichen und sind daher nicht als Verfolgte sondern eher als Verfolger anzusehen. Widerstand war Freizeitbeschäftigung – irgendwo musste es Spaß machen, er war die Frohe Botschaft der Unangepassten.
Eine andere Aufarbeitung ist nicht nur notwendig, sondern auch möglich. Sie muss das Ziel haben, sich widersprechende Geschichtsbilder und sich widersprechende und auch verändernde Vorstellungen von einer freien Gesellschaft zu erklären. Sie muss Lust darauf machen, diese Prozesse zu verstehen, sie ernsthaft aber auch spielerisch zu verarbeiten und damit die Zukunft mitzugestalten. Natürlich ist das ein Wagnis, einzugestehen manches falsch gemacht zu haben. Aber es ist die einzige Möglichkeit, vor den Heranwachsenden zu bestehen.
Zitierweise: Dirk Moldt, Die frohe Botschaft des Widerstands. Aufarbeitung von SED-Unrecht. Erfolge, Metamorphosen, Katastrophen, Auswege, in: Deutschland Archiv, 4.5.2015, Link: www.bpb.de/205309.