DA: Die letzten Monate der DDR waren durch die parlamentarische Demokratie bestimmt, im April 1990 unterzeichneten Sie die Koalitionsvereinbarung. Nun ging es darum, binnen weniger Monate die Deutsche Einheit herzustellen. Wie beurteilen Sie diesen Prozess im Nachhinein? Sind da Chancen verpasst worden, die fortschrittlichen Ideen der DDR-Bürgerrechtsbewegung stärker zu beachten?
Rainer Eppelmann: Es ging ja darum, zwei Gesellschaften, die sich über 40 Jahre total unterschiedlich entwickelt hatten, auf eine Art und Weise zusammen zu bringen, dass sie grundsätzlich für das Modell Demokratie nach dem Vorbild der alten Bundesrepublik kompatibel waren. Und gleichzeitig musste dafür gesorgt werden, dass die 17 Millionen Menschen, die 40 Jahre unter anderen Verhältnissen leben mussten, eine tatsächliche Chance hatten, in diesem für uns zumindest total veränderten Heimatland nicht zu scheitern und den eigenen Wert zu verlieren. Das taten zwei Regierungen, die unterschiedlich stark, erfahren und reich waren.
Unser beider Regierungschef [Lothar de Maizière] wusste, dass ohne sofortige finanzielle Unterstützung die Strukturen bei uns zusammenbrechen würden. Ich kenne Geschichten von Kombinatsdirektoren, bei denen die Arbeiter anfingen zu streiken und die den Regierungschef Lothar de Maizière baten, nicht in diese Firma kommen. Nicht, weil er da möglicherweise ausgepfiffen wurde, sondern weil der Direktor nicht garantieren konnte, dass nicht zufällig an diesem Tag die halbe Firma in die Luft fliegt, weil sie seit Jahren schon in einem schlechten Zustand war, er sie aber nicht schließen konnte, weil sonst seine eigene Karriere zu Ende gewesen wäre. De Maizière ist trotzdem hingegangen. Ich will nur sagen, die DDR ist fix und fertig gewesen, ökonomisch und industriell, und an kaum einer Stelle noch wettbewerbsfähig.
Und bei all dem stand die Frage im Raum, wie sich die Situation in der Sowjetunion weiterentwickelt, wie viel Zeit wir tatsächlich haben. Zumindest Markus Meckel, Lothar de Maizière und ich, wir drei konnten - was die Einheit und die Zugehörigkeit der Bundesrepublik Deutschland zu einem Bündnissystem anging - nicht rücksichtslos über das hinweggehen, was die Sowjetunion, was Gorbatschow sagte. Wir haben also die Situation im Hinblick auf Europa auch aus der Sicht der Sowjetunion betrachtet. Das war keine intensive Überlegung im Kanzleramt, sondern wenn überhaupt, dann tatsächlich nur unter uns. Das hat uns unter einen gewaltigen Zeitdruck gesetzt. Gorbatschow hat dem offiziell erst im Kaukasus zugestimmt. Es gab offensichtlich schon vorher Signale in Bonn, dass Gorbatschow sich darauf einlässt, aber darüber haben sie uns nicht informiert. Daher waren wir sehr vorsichtig.
Also ich glaube schon, dass im gesamten Prozess der Deutschen Einheit, dem Transformationsprozess bis heute, auch Fehler gemacht worden sind. Aber wenn ich das Gesamtwerk unter den konkreten Bedingungen von damals betrachte, muss ich nur sagen, es ist eine sehr respektable Leistung.
Markus Meckel: Man muss sehr genau auf die Zeit schauen. Wir hatten am Runden Tisch [im Dezember 1989] eine Gruppe eingesetzt, die Vorarbeiten für eine Verfassung erarbeiten sollte. Diese wurden Anfang März 1990 vorgestellt, aber eine "Verfassung des Runden Tisches" hat es nie gegeben. Insofern war mir wichtig zu betonen, dass dies nur Vorarbeiten sein konnten.
Nach der Wahl [im März 1990] hatte sich die Situation im Vergleich zum Dezember aber wieder völlig verändert. Wir sind ja als eine Regierung gewählt worden - und ganz bewusst so angetreten - die die Deutsche Einheit organisieren sollte. Das war unser Ziel und es war klar, mit dem Wahlergebnis, würde es nach GG Artikel 23 geschehen.
Dennoch war für uns die Tatsache immens wichtig, dass die Deutsche Einheit verhandelt werden musste. Wir wollten nicht einfach sagen, wir feiern den Wahlsieg und dann entscheidet der Deutsche Bundestag über die konkreten Bedingungen. Wir wollten es verhandelt wissen. Es brauchte nicht nur den Zwei-Plus-Vier-Vertrag zur Herstellung der Souveränität des geeinten Deutschland, sondern auch die Verträge zur Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion und den Einigungsvertrag. Die Deutsche Einheit war ein verhandelter Prozess, das ist in der deutschen Öffentlichkeit bis heute immer noch nicht angekommen. Das ist etwas, was von zentraler Bedeutung ist. Manche glauben, sie müssten nur einen Kanzler feiern.
Was die Verfassungsfrage betrifft, gibt es bis heute viel Kritik unserer Freunde, aus den Bürgerrechtsgruppen und aus der Opposition, die uns vorwerfen, dass wir keine neue DDR-Verfassung als Alternativvorschlag durchgesetzt haben. Aber zu dem Zeitpunkt machte das keinen Sinn mehr, die eigene Bevölkerung wäre uns weggelaufen.
Aber natürlich stellte sich die Frage: Welche Verfassung wollen wir? Die Sozialdemokraten waren durchaus für eine gemeinsame neue Verfassung auf der Grundlage des Grundgesetzes. Ich habe mich Anfang 1990 in einem Spiegel-Gespräch mit Wolfgang Schäuble über diese Frage gestritten. Er sagte, es muss alles so bleiben. Es war klar, das Grundgesetz ist die beste deutsche Verfassung, die man jemals hatte. Aber selbst, wenn es nur drei Kommata waren, die man veränderte oder ein paar Ideen aufgriff…
Es gab dann wenigstens die Gemeinsame Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat. Aber leider waren die die damalige Bundesregierung tragenden Parteien letztlich nicht dazu bereit, eine Winzigkeit mehr als die Ersetzung des Artikels 23 als Beitrittsartikel zum Europa-Artikel zu ändern. Was dann zum Reformstau wurde, hieß letztlich nur: Wir wollen den Status Quo erhalten. Das war aber nicht unser Ziel. Wir hätten für sinnvoll erachtet, dass man durchaus an der einen oder anderen Stelle etwas tut: Die Frage Plebiszitärer Elemente oder Staatszielbestimmungen, in Kultur- oder Umweltfragen. Oder der Minderheitenschutz: Wir haben mit Recht von den neuen jungen Demokratien in Ost- und Mitteleuropa erwartet, dass sie Minderheiten-Rechte einhalten. Es wäre gut gewesen, damals auch im Grundgesetz einen stärkeren Minderheitenschutz zu verankern.
DA: Reiht sich das ein in andere Beobachtungen, wie, dass die ersten Kabinette des vereinten Deutschland sehr wenige Mitglieder aus Ostdeutschland hatten? Haben Sie das Gefühl, dass Sie sich in Ihren Parteien als Ostdeutsche durchsetzen konnten, dass Sie gehört wurden? Oder gibt es da rückwirkend den Eindruck, dass man manchmal noch stärker hätte Ihnen zuhören können?
Rainer Eppelmann: Ich glaube, wir hätten es uns gewünscht. Es waren ja immerhin Lebenserfahrungen von 17 Millionen Deutschen, die unter anderen Verhältnissen gelebt haben. Aber ich denke, letztlich war die Repräsentation relativ realistisch und sogar anständig. Sie hätte im Parlament und in der Regierung sehr viel schlimmer sein können, wenn man die tatsächlichen Zahlen- und Machtverhältnisse in der Bundesrepublik Deutschland bedenkt. Wir reden ja nicht von zwei gleichstarken Bevölkerungsgruppen, sondern von einem relativ kleinen und einem relativ großen Geschwister-Teil. Und wenn es nur nach demokratischen Prinzipien gegangen wäre, hätten wir uns rein theoretisch mit weniger zufrieden geben müssen.
Lassen Sie mich ein Beispiel nennen, um das zu illustrieren: Ich war sieben Jahre [1994-2001] lang Bundesvorsitzender der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft der CDU (CDA), doch fast die Hälfte aller CDA-Mitglieder waren aus Nordrhein-Westfalen. Nun ist seit ein paar Jahren ein Kollege aus Nordrhein-Westfalen Bundesvorsitzender. Weil die natürlich auch in der Bundesversammlung die meisten Mitglieder haben. Das beste Beispiel ist Angela Merkel, sie war ja schon damals Ministerin in zwei verschiedenen Regierungen und Generalsekretärin. Und heute werden zwei der politischen Leitungsämter in der Bundesrepublik Deutschland von evangelischen Ostdeutschen besetzt. Und nicht schlecht, wie ich finde.
Markus Meckel: Ich möchte die Frage der innerparteilichen Situation von der Frage der Repräsentation im Parlament unterscheiden. Im Parlament ist durch Wahlkreise und Bevölkerungszahlen festgelegt, dass ein Fünftel des Deutschen Bundestages aus Ostdeutschland kommt.
Ich habe meine Aufgabe im Parlament darin gesehen, die Mehrheit im Parlament überzeugen zu müssen, was angesichts der Sondersituation in Ostdeutschland nötig war, weil die das nicht kannten. Dazu gehörte übrigens auch die Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages zur Aufarbeitung der DDR-Geschichte
Nun zu der Situation in den Parteien, und da war der Einfluss absolut marginal. Die CDU hatte ja noch die ganzen "Blockparteiler", die haben dann die Parlamente mit bevölkert. Die Größe der Ost-SPD war dagegen verschwindend gering, wir hatten in ganz Ostdeutschland, in allen fünf Ländern, vielleicht so viele Parteimitglieder wie der Stadtverband in Bochum.
Ich hätte mir gewünscht, dass die Partei als Ganzes die Situation in Ostdeutschland besser begreift. Wolfgang Thierse war lange stellvertretender Parteivorsitzender, er hätte die ostdeutschen Ministerpräsidenten, die ostdeutschen Abgeordneten, die ostdeutschen Fraktionsvorsitzenden stärker zu einer innerparteilichen Macht entwickeln sollen, was am Anfang überhaupt nicht passiert ist.
Wir hatten eine Querschnittsgruppe in der Fraktion, die hat gut funktioniert, bis 1998. Helmut Kohl hatte durchaus Quotenmänner und Quotenfrauen aus Ostdeutschland. Frau Merkel ist, wie erwähnt, ein hervorragendes Produkt davon. 1998 waren in der Regierung Schröder mit einem Schlag nur noch halb so viele Ostdeutsche vertreten wie vorher, weil Schröder so etwas nicht berücksichtigt hat. Vorher hatte er noch getönt, Ostdeutschland sei Chefsache. In den sieben Jahren Rot-Grün ist das Thema Ostdeutschland als Bundesaufgabe, ausgenommen in der Föderalismusfrage, heruntergefallen. Angela Merkel hat das Thema dann auch beiseitegelegt, um Kanzlerkandidatin zu werden. Und das wäre sie nicht geworden, hätte sie die Ost-Themen betont. Das heißt: zwischen 1998 und 2005 haben die Themen Ostdeutschlands in der Bundespolitik kaum eine Rolle gespielt, was sich natürlich in vielen konkreten Fragen ausgewirkt hat.
Ich behaupte, dass wir mit der Gründung verhindert haben, dass die SPD über eine Generation nicht regierungsfähig war. Denn wenn die SPD-West sich damals mit der SED vereinigt hätte, dann hätte sie im Westen auch bei den eigenen Mitgliedern die Mehrheiten verloren. Sie hätte selbst im Westen in der Mitte der Gesellschaft nicht die Akzeptanz gefunden, mit dieser Truppe zusammenzuarbeiten.
Rainer Eppelmann: Zum Stichwort Mitte der Gesellschaft noch zwei Punkte, zunächst eine eher positive Geschichte: In den ersten beiden Legislaturperioden hat es im Kanzleramt einmal im Monat unter der Leitung von Friedrich Bohl, dem für diese Fragen zuständigen Kanzleramtsminister, Treffen mit Vertretern aus allen ostdeutschen Landesverbänden gegeben. Das war eine Gruppe von 12 bis 15 Leuten, ich saß da mit dabei. Die Runde formulierte ihre Erwartungen dazu, was im Blick auf die Herausforderungen in den neuen Bundesländern passieren musste.
Und das Zweite: wir sind natürlich alles Menschen. Auch in den Behörden und Ministerien auf der Beamtenebene, alle haben sich zehn bis 20 Jahre lang bemüht, um da anzukommen, wo sie nun im Jahr 1991 waren. Sie waren fleißig, ehrlich, korrekt, und nun kommen da ein paar Ossis, Quereinsteiger, und soll man nun das, was man sich in 20 Jahren mühselig erarbeitet, erkämpft hat, großzügig aufgeben?
DA: Zurzeit scheint es so, als gäbe es in Deutschland eine geteilte Vorstellung von Europa: Im Osten würde man in den Blick auf den Kontinent Mitte- und Osteuropa mit einbeziehen, während im Westen Deutschlands immer der Blick auf Westeuropa und die transatlantische Allianz gehen würde. Was ist Ihre Meinung dazu?
Markus Meckel: Wir haben in die Koalitionsvereinbarung der Regierung de Maizière - obwohl wir dafür gar nicht zuständig waren - im Frühjahr 1990 geschrieben, dass wir uns dafür einsetzen, dass die, die mit uns in unseren östlichen und südöstlichen Nachbarländern Freiheit und Demokratie erkämpft haben, auch die Chance haben sollten, zur EU und NATO zu gehören, also Teil der Euro-Atlantischen Strukturen zu werden. Tschechen, Ungarn, Slowaken, Polen und so weiter sollten das Recht haben, zu diesen Frieden und Sicherheit sichernden Organisationen und Institutionen zu gehören. Dies hat auch die nächsten 15 Jahre meiner politischen Tätigkeit nicht unwesentlich geprägt. Wir haben am 12. April 1990, also am Anfang des Parlamentes, eine Erklärung abgegeben, in der wir uns sehr klar in die Verantwortung unserer Geschichte gestellt haben.
Die DDR glaubte, keine Verantwortung für die NS-Geschichte zu tragen, und hat sich an die Seite der "ruhmreichen Sowjetunion" gestellt, der Westen war für die Verbrechen des Nationalsozialismus schuldig. Da haben wir gesagt: Dieser Verantwortung aus der Geschichte, die im Westen angenommen worden war, stellen wir uns auch. Ich habe dann übrigens noch angefangen, mit Israel Gespräche über die Anerkennung Israels und die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu führen. Vor diesem Hintergrund haben wir auch Juden aus der Sowjetunion eingeladen, nach Deutschland zu kommen. Das hat die gesamte Situation der Juden in Deutschland total verändert. Die Bundesregierung war am Anfang wegen dieser Entscheidung verärgert, weil sie nicht mit ihr abgestimmt war.
Rainer Eppelmann: Und die Oder-Neiße-Grenze....
Markus Meckel: Die Oder-Neiße-Grenze war dann wiederum mein Hauptpunkt in den Zwei-Plus-Vier-Gesprächen und übrigens auch ein großer Streitpunkt mit Helmut Kohl, weil er aus innenpolitischen Gründen die Entscheidung über die Oder-Neiße-Grenze immer nach hinten verschob und sich lange nicht klar äußerte, obwohl er sich natürlich bewusst war, dass er sie am Ende anerkennen musste. Das war reine Wahltaktik. Er wollte die Stimmen aus dem Lager der Vertriebenen nicht aufs Spiel setzen. Das war auch der Grund, weshalb er dann von der Anerkennung der Grenze als Preis der Deutschen Einheit gesprochen hat, was ich für völlig falsch halte.
Für uns war klar, die Anerkennung der Grenze geschieht aus der Verantwortung für die gemeinsame Geschichte, sie ist eine Folge des Zweiten Weltkrieges und gehört gerade in jenem Prozess an den Anfang. So sollten die Europäer wissen, dass wir diese Verantwortung ernst nehmen, und zwar bedingungslos. Wir wissen, wo Deutschland liegt, nach diesem Krieg. Und wir werden dies immer anerkennen. Für uns war auch klar, dieses Europa muss anders aussehen, das heißt, es musste sich sicherheitspolitisch neu aufstellen, auch die Sowjetunion, Rainer Eppelmann hat es vorhin benannt, muss in Europa verankert bleiben. Weil es für die Zukunft Instabilität bedeutet, wenn jemand in seiner Situation der Schwäche beiseite gestellt wird.
Nach 1990 gab es die Herausforderung, die Integration der östlichen Nachbarn zu gestalten, ebenso die Kooperation mit Russland. Das gilt in meinen Augen bis heute. Die EU hat es sehr schnell begriffen, die NATO erst sehr spät. Und wenn heute Putin sich gerade auf die NATO-Frage bezieht, dann kann ich nur sagen: Erstens, die Aussage, dass es eine Zusage gab, die NATO nicht zu erweitern, stimmt nicht. Im Rahmen der Zwei-Plus-Vier-Verhandlungen gab es diese nicht. Was es gab waren bilaterale Gespräche, bei denen klar gesagt wurde, wir wollen diese Situation nicht zu unserem Vorteil ausnutzen. DA: Aber warum gibt es dann scheinbar in Ostdeutschland einen größeren Anteil an "Putin-Verstehern"?
Markus Meckel: Ich bestreite, dass es so ist. Ich kenne in meiner Partei aus dem Westen eine ganze Menge "Putin-Versteher", die sehr viel prägender für die Öffentlichkeit sind, als diese Handvoll, die ich aus dem Osten kenne. Als Putin 2007 in München bei der Sicherheitskonferenz seine berühmte Rede gehalten hat, hatte ich die Chance, ihm als erster zu antworten.
Man stelle sich mal vor, wenn 1990 Polen nicht die Chance erhalten hätte, Mitglied der NATO zu werden, wie Polen als Nationalstaat alleine seine Sicherheit im Verhältnis zu Russland hätte organisieren müssen. Das wäre katastrophal gewesen für die Stabilität, dasselbe gilt für Rumänien und Ungarn.
Die NATO hat eine immense stabilisierende sicherheitspolitische Rolle gespielt. Weil Sicherheit eben integrativ gestaltet wird. Was hier hinderlich ist, ist die Blockade in den Köpfen und das Feindbild NATO in Russland. Es ist uns nicht gelungen, das liegt auch an uns selber, an der Art wie der Dialog zwischen der NATO und Russland geführt wurde, dass diese Vorbehalte noch vorhanden sind. Und dass etwa nach dem Georgien-Krieg 2008 der NATO-Russland-Rat nicht getagt hat, war in diesem Fall ein Fehler der NATO.
DA: Herr Eppelmann, stimmen Sie Herrn Meckel zu?
Rainer Eppelmann: Ich kann es nicht so absolut sagen. Ich kenne aber Äußerungen von Franzosen, Italienern und anderen, die sagen, dass die EU, und noch mehr die NATO in den letzten 25 Jahren nicht immer besonders geschickt darin waren, ein gutes und von gegenseitigem Respekt geprägtes Verhältnis zu Russland zu schaffen.
Ihre Anfangsfrage war ja die nach der West-Sicht. Ich glaube auch, dass das ein Stück weit stimmt. Und dass die letzten 25 Jahre, in denen sich Europa so verändert hat, eine viel zu kurze Zeit sind, um deutlich zu machen, dass die Einheit Europas kein Prozess ist, der nur von Monnet und Schuman
Also ich denke, dass an der Beobachtung etwas dran ist, ob gut oder schlecht, es hat sich so entwickelt, weil die Baumeister des Europas dies auch umsetzen konnten. In einem Projekt, das auch gelungen ist. Vielleicht sind die Krisen, die wir gegenwärtig haben auch gut, weil sie uns noch mal zeigen, was wir bisher nicht gut gemacht haben und auf was wir noch mehr aufpassen müssen.
Heute sind wir in einer ganz entscheidenden Phase hin zu einem ganz anderen Europa. Viele Alt-Europäer habe noch nicht ganz verstanden, was 2004 passiert ist: dass so viele Länder zu diesem Europa dazu gekommen sind. Und dass dieses Europa dadurch ein anderes wurde.
DA: Dieses Jahr jährt sich die Deutsche Einheit zum 25. Mal. Sie werden auf unzähligen Veranstaltungen darüber sprechen, was das Jubiläum für unser Land bedeutet. Was bedeutet es für Sie ganz persönlich?
Markus Meckel und Rainer Eppelmann sind im Jubiläumsjahr auf vielen Veranstaltungen präsent, hier während der Vorstellung der Webseite Externer Link: Aufbruch und Einheit. Die letzte DDR-Regierung am 8.4.2015 in Berlin, zusammen mit Lothar de Maizière und dem ehemaligen Kulturminister der DDR Herbert Schirmer (v.r.n.l.) (© picture alliance / dpa, Foto: Tim Brakemeier)
Markus Meckel und Rainer Eppelmann sind im Jubiläumsjahr auf vielen Veranstaltungen präsent, hier während der Vorstellung der Webseite Externer Link: Aufbruch und Einheit. Die letzte DDR-Regierung am 8.4.2015 in Berlin, zusammen mit Lothar de Maizière und dem ehemaligen Kulturminister der DDR Herbert Schirmer (v.r.n.l.) (© picture alliance / dpa, Foto: Tim Brakemeier)
Rainer Eppelmann: Ich werde Folgendes immer wieder sagen: Es hat mit Selbstbefreiung und mit Selbstdemokratisierung zu tun. Und der Prozess wäre nicht so verlaufen, wenn das alles nicht gelungen wäre. Und zweitens, es ist natürlich nicht nur ein Verdienst der Ostdeutschen. Die Alt-Bundesrepublikaner oder ihre Eltern haben wesentlich dazu beigetragen, dass Europa zu dem Projekt der Einheit Deutschlands "Ja" gesagt hat. Dazu haben wir nicht so viel beigetragen. Das haben die Westdeutschen gemacht, mit dem überzeugenden Beispiel der Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland zwischen 1948 und 1989. Und: Ja, wir haben Fehler gemacht. Aber ich höre immer wieder von Franzosen, Polen, Italienern, Engländern die sagen: Das, was Ihr in den 25 Jahren gemacht habt, ist schon eine beachtliche Leistung. Und wenn wir dabei bleiben zu sagen, wir verstehen uns als Deutsche in Europa oder europäische Deutsche, dann sind wir auf einem guten Weg.
Markus Meckel: Ich hätte vor 1989 nie gedacht, dass ich in Freiheit leben könnte, und dann sogar in einem geeinten Deutschland. Dass dies möglich geworden ist, kann ich nur als ein Geschenk betrachten. Obwohl man ja Manches dazu beigetragen hat, hätte ich das nicht für möglich gehalten. Und dass nach all dem Furchtbaren, was durch uns Deutsche über Europa und über viele Länder gekommen ist, diese - nur ein knappes halbes Jahrhundert später - dem zugestimmt haben, das macht die Dinge noch unglaublicher. Also ich kann nur sagen, es ist eine Situation des größten Glückes für dieses Land.
Zweitens müssen wir noch ein bisschen nacharbeiten in der Öffentlichkeit, um einen etwas realistischeren Blick auf diesen Prozess zu kriegen. Wir haben davon gesprochen, dass es nicht nur das Werk eines Kanzlers war, oder Hunderttausender von Menschen, sondern es war das Werk sehr vieler, und es war insbesondere ein Verhandlungsprozess. Diesen genauer nach zu buchstabieren halte ich nach wie vor für eine historische und eine öffentliche Aufgabe, von der ich glaube, dass sie eigentlich noch geleistet werden muss.
Und wichtig ist, dass das Europa, in dem wir heute leben, eben nicht nur in dem ganz zentralen, von Rainer Eppelmann eben benannten Integrationsprozess in Westeuropa gründet. Weil es eben 1990 diesen Sieg von Freiheit und Demokratie gab, haben die neuen Mitglieder das Recht, Teil des Ganzen zu sein. Und das gilt in meinen Augen auch - siehe Artikel 49 des Lissaboner Vertrages
DA: Herr Eppelmann, Herr Meckel, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
Das Interview führte Clemens Maier-Wolthausen
Zitierweise: "Es geht um Selbstbefreiung und Selbstdemokratisierung". Interview mit Rainer Eppelmann und Markus Meckel am 19. Februar 2015 in Berlin, Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur (Teil 2), in: Deutschland Archiv, 27.4.2015, Link: http://www.bpb.de/204577