DA: Herr Eppelmann, Herr Meckel, es freut uns, mit zwei so profilierten Vertretern einer Politikergeneration sprechen zu können. In Ihren Biografien finden sich Parallelen: Sie haben beide Theologie studiert und beide haben Sie in der DDR den Wehrdienst verweigert. Wie kam es zu diesen Entscheidungen und welchen Einfluss haben diese auf Ihr politisches Handeln vor und nach 1990?
Rainer Eppelmann: Bei mir waren beides irgendwie erzwungene Entscheidungen. Die Wehrdienstverweigerung hatte bei mir etwas mit Auschwitz zu tun. Ich wollte nie in eine Situation kommen, in der mir ein Mensch sagen kann: Du hast per Eid versprochen, dass Du alles machst, was ich Dir sage. Zudem gab es theologische Gründe. Und der dritte Grund war, dass ich mich nicht für diejenigen einsetzen wollte, die am 13. August 1961 so brutal in mein Leben eingegriffen haben. Der 13. August hat bei uns zur Familientrennung geführt. Mein Vater hat in West-Berlin gearbeitet und ist "drüben" geblieben, wo er seine Arbeit hatte, weil die Eltern dachten, das dauert nur ein paar Monate. Daher war der 13. August für mich der entscheidende Wendepunkt, vorher war ich vermutlich relativ unpolitisch. Nun sah ich aber, was für ein fürchterliches, despotisches System das war.
Auch mein Theologiestudium ist eine Folge des 13. August 1961. Wäre es mir möglich gewesen, das Gymnasium in West-Berlin abzuschließen, hätte ich vermutlich versucht, Architektur zu studieren. Doch in Ost-Berlin konnte ich kein Abitur machen und in West-Berlin nur bis zum 13. August 1961. Da blieb mir nichts anderes übrig.
Mit Mitte 20 stellte ich mir die Frage, was ich die nächsten 40 Jahre meines Lebens machen wollte. Wenn ich schon vermutlich keine Chance hatte, glücklich zu werden, dann wenigstens zufrieden. Was war mit meiner Biografie möglich? Keine Pioniere, keine FDJ, Militärknast. Ich hatte inzwischen eine Ausbildung als Maurer gemacht, doch spätestens in der Zeit als Bausoldat war mir klar geworden, dass ich das nicht bis an mein Lebensende machen wollte.
Die einzige Alternative, die mir einfiel, war die Not der evangelischen Kirche in der DDR. Bis zum 13. August 1961 bekam sie den theologischen Nachwuchs aus den bundesdeutschen Landeskirchen. Junge Leute, die ihr Studium gerade abschlossen und nicht gleich eine Stelle im Westen fanden, wurden gefragt, ob sie nicht Lust hätten, für ein paar Jahre in die DDR zu kommen.
Nach 1961 wurde dies schwieriger. Die Kirche richtete nun zwei Theologische Fachschulen ein, in Erfurt und in Berlin. Ich war auf dem Paulinum in Berlin. Aufnahmebedingung war mittlere Reife, eine abgeschlossene Berufsausbildung und wenn möglich auch noch ein paar Jahre Berufserfahrung. Das hatte ich alles und konnte Theologie studieren. Allerdings nur für das Gemeindepfarramt, nicht für eine akademische Laufbahn.
So bin ich in diese wesentliche Entscheidung meines Lebens etwas ahnungslos hineingestolpert. Letztlich war es aber genau das Richtige für mich, der Umgang mit Menschen und eine Freiheit, die Du sonst in der DDR kaum finden konntest. Auch die ökonomische Unabhängigkeit war attraktiv. Ich bekam mein Gehalt von der Kirche und konnte nicht von irgendwelchen staatlichen Funktionären erpresst werden.
Markus Meckel: Ich habe diese beiden Punkte beide freiwillig und engagiert vollzogen. Ich bin in einem evangelischen Pfarrhaus aufgewachsen, meine Mutter kam aus Berlin Britz, was dann plötzlich West-Berlin war. Mein Vater stammte aus Wuppertal, er war Offizier der Wehrmacht und in sowjetischer Kriegsgefangenschaft, er kam Ende 1949 zurück, wenige Tage vor Gründung der DDR. Meine Eltern hatten in Kriegszeiten schon geheiratet, hatten sich jahrelang nicht gesehen und dann aber entschieden, im Osten zu bleiben. Der Grund war, wie eben schon erwähnt, dass die Kirche Leute suchte, die bei den Gemeinden blieben. Und auch in einem solchen System muss man Gemeinden begleiten. Meine Mutter soll, so sagt die Familientradition, gesagt haben: "Du kennst die Russen, Du weißt, wie man damit umgeht".
1950 wurde mein Vater Pfarrer in Hermersdorf, einem kleinen Dorf in der Nähe von Buckow in der Märkischen Schweiz. Im nahen Müncheberg bin ich geboren. Wir sind dann erst 1959 mit meiner Einschulung nach Berlin gekommen, haben in dem Berliner Missionshaus gewohnt, dort, wo auch das Paulinum in der obersten Dachetage untergebracht war. Mein Vater war zudem Missionsinspekteur, zuständig für Südafrika, das heißt, die Probleme mit der Apartheit hab ich als Junge zuhause am Abendbrottisch kennengelernt. Auch die Frage, was christlicher Glaube mit Gesellschaft zu tun hat, wurde dort diskutiert. Gleichzeitig war mein Vater Ökumene-Referent der Evangelischen Kirche der Union, sodass ein gewisser grenzübergreifender Bezug nicht nur durch die Biografie meines Vaters, sondern auch durch diese institutionelle Dimension ständig präsent war.
Wir hatten unsere gesamte Verwandtschaft im Westen. Mit dem Mauerbau 1961 wurde dieses Haus zu einem intensiven Kommunikationszentrum zwischen Ost und West. Jede Gemeinde in der DDR hatte ja eine Partnergemeinde im Westen. Und wo konnte man sich treffen nach Mauerbau und Passierscheinabkommen? In kirchlichen Räumen.
Das heißt, ich bin in der kirchlichen Jugendarbeit aufgewachsen, quasi als "Berufsjugendlicher" für die Begegnung von Ost und West. Wir hatten Diskussionen mit denen, die in der Schulzeit ihre Ost-Reisen hatten. So wuchs ich in einer absoluten Sondersituation auf. Durch diese Kontakte war die Mauer sozusagen ständig durchbrochen und man konnte den Horizont erweitern.
DA: Prägen solche Erlebnisse einen bestimmten Politikstil?
Markus Meckel während des Gesprächs mit dem Deutschland Archiv (© Deutschland Archiv, Foto: Katharina Barnstedt)
Markus Meckel während des Gesprächs mit dem Deutschland Archiv (© Deutschland Archiv, Foto: Katharina Barnstedt)
Markus Meckel: Natürlich prägte es ganz stark, dass man nicht in diese DDR-Provinzialität eingesperrt war und diese Begegnungen hatte. Das Gästebuch meiner Eltern verzeichnete mal an einem Tag Gäste aus zehn verschiedenen Ländern. Das war ja schon im Westen ungewöhnlich, aber für die DDR war das völlig exotisch. Es gibt da Einträge aus Japan, Südafrika, USA, natürlich aus der Bundesrepublik, aus Großbritannien und eben aus Polen, Ungarn und der Sowjetunion.
Als Ökumene-Referent kümmerte sich mein Vater auch um die Partnerschaft mit der orthodoxen Kirche, das heißt es waren oft Russen am Tisch, aber auch Vertreter der Minderheitenkirchen in Ost-Mittel-Europa. Diese Kontakte reichen für mich bis in die Gegenwart: Ich war mit dem Vater als 14-jähriger das erste Mal in Polen, 1968 in der Tschechoslowakei und in Ungarn, 1971 in Rumänien. Ich bin jedes Jahr seit Anfang der 1970er Jahre durch Ost-Mittel-Europa getrampt. Später, während meiner außenpolitischen Tätigkeit im Bundestag, traf ich zum Teil Leute, die ich aus dieser früheren Zeit kannte. Ich bin bis heute mit einem ungarischen Abgeordneten des Europaparlaments befreundet, dessen Vater ich schon in den 1970er Jahren in Siebenbürgen in Rumänien getroffen hatte.
Die Wehrdienstverweigerung war für mich ein ganz zentraler Moment meines Lebens. Ich habe damals mit 17 Jahren den Wehrdienst total verweigert, hatte aber das große Glück, nicht verhaftet zu werden und ins Gefängnis zu kommen. In der Jugendarbeit haben wir dann gezielt zu Friedensfragen gearbeitet. Wir machten Seminare mit Leuten, die ebenfalls den Wehrdienst verweigert hatten. So etwas war nur in der Kirche möglich. Auch gab es nur in den Kirchen Informationen darüber, dass es Bausoldaten gab oder auch die Möglichkeit, total zu verweigern.
Später habe ich den Text meiner Wehrdienstverweigerung wiedergefunden. Und der hatte einerseits einen stark pazifistischen Zug. Ich schrieb, dass Konflikte nicht mit Gewalt gelöst werden dürfen. Andererseits gab es auch einen sicherheitspolitischen und gleichzeitig nationalen Aspekt. Wenn es zu einem Krieg gekommen wäre, hätte ich auf meine Verwandten im Westen schießen müssen. Und das lehnte ich ab. Eine weitere wichtige Dimension war die Erinnerung an die Bekennende Kirche, also den begrenzten, aber doch vorhandenen Widerstand im Nationalsozialismus. Dieser spielte bei uns, auch in der kirchlichen Jugendarbeit, eine immense Rolle. Mein Vater kam aus der Gefangenschaft und war Pazifist geworden. Von daher sind diese Fragen für mich immer wichtig gewesen und die Entscheidungen kamen gewissermaßen automatisch.
Ich kam auf die Erweiterte Oberschule, das Graue Kloster in Berlin, und hatte die Chance, Griechisch und Latein zu lernen. Seit meinem fünften Lebensjahr wollte ich Pfarrer werden. Die Gründe dafür waren natürlich zwischen dem Fünfjährigen und dem 20-Jährigen, der studierte, durchaus unterschiedlich. Ich bin in diese Entscheidung irgendwie hineingewachsen und habe sie nie bereut.
Nach der 10. Klasse bin ich von der Schule geflogen und hatte das Glück, dass es diese kirchlichen Schulen gab, wo man auch Abitur machen konnte und diese unabhängigen kirchlichen Hochschulen, wo man Theologie studieren konnte. So kann ich nachträglich sagen, ich hab das Glück gehabt, eine hervorragende Ausbildung zu genießen, weil ich von der Schule geflogen bin. Ich hab in Hermannswerder Abitur gemacht, bin von dort aus nach Naumburg auf das Katechetische Oberseminar gegangen, ab 1974 habe ich dann auf dem sogenannten Sprachenkonvikt in Berlin in der Borsigstraße weiter studiert.
Aus dieser Situation kam ich dann dazu, was man allgemein Opposition nannte.
DA: Wenn wir das anschauen, was Sie beide über Ihre Biografien berichten, stellt sich die Frage nach den ganz realen Auswirkungen auf die heutige Politik. Die Bundesrepublik hat sich in den letzten 20 Jahren außenpolitisch auch militärisch stärker engagiert, als sie es in ihrer Nachkriegsgeschichte je getan hat, ist das etwas, was Sie nur schwer mittragen konnten, oder etwas, was Sie eigentlich nicht mittragen können?
Markus Meckel: Ich habe im letzten Jahr im Rahmen der "Wittenberger Vorlesungen" dazu eine Rede gehalten, um deutlich zu machen, wie mein Weg vom totalen Wehrdienstverweigerer zu demjenigen, der dann im Bundestag alle Bundeswehreinsätze befürwortet hat, verlaufen ist.
Es gab intensive Debatten innerhalb der evangelischen Kirche über die Situation auf dem Balkan und über den ersten Irak-Krieg Anfang der 1990er Jahre. Da habe ich mit Freunden, in der Kirche und in meiner Partei, intensive Diskussionen darüber gehabt, warum sich deutsche Soldaten nicht beteiligen sollten, wenn es darum ging, sicherheitspolitische Dinge durchzusetzen. Das Thema war die Frage von Sanktionen oder Exportverboten. Da gehörte ich zu einer ganz kleinen Minderheit in meiner Partei, die für die Bundesregierung mit Helmut Kohl stimmten, als es um diesen ersten Einsatz ging. Ich wurde von vielen Freunden als Verräter an der Friedensfrage angesehen. Meine Frage war immer: Was dient dem Frieden? Wir können nicht ausschließen, dass in dieser Welt, die eben nicht nur aus guten Menschen besteht, die Bösen möglicherweise mit Gewalt daran gehindert werden müssen, schlimmste Verbrechen zu begehen. Letztendlich betrachtete ich es als eine ethische Frage, also die Macht so einzusetzen, dass sie gewaltmindernd wirkt und nicht gewaltsteigernd.
Ich denke, dass die Bundesregierung in den letzten Jahren seit 1999 relativ zurückhaltend mit diesen Fragen in der Öffentlichkeit umgegangen ist. Ich habe das manchmal sogar feige genannt. Wir müssen den Menschen klare Orientierungen geben. Deshalb bin ich sehr froh, dass Bundespräsident Gauck dieses vor einem halben Jahr sehr klar und deutlich thematisiert hat, und gerade weil er aus einer ähnlichen Tradition kommt wie wir, bin ich dafür sehr dankbar.
DA: Herr Eppelmann, Sie wurden Minister für Abrüstung und Verteidigung, mit Ihrer Karriere im Hintergrund, wie sehen Sie das?
Rainer Eppelmann: Bei mir war das ein bisschen anders. Ich bin durch die Nachrichten, die ich jeden Abend durch das Westfernsehen in meine Ost-Berliner Wohnung gespült bekam, zum Pazifisten geworden. Hunderttausende gingen da auf die Straße und sagten, um Gottes Willen, nicht noch SS-20 und Pershing. Vorher war mein Thema Freiheit. Das ist es zwar immer noch, aber es wurde überlagert durch die Frage: Wie lange gibt es uns überhaupt noch? Wir sind ja gerade dabei, das ganze Leben auszurotten und den Planeten zu zerstören. Deswegen beteiligte ich mich auch, zusammen mit Robert Havemann, im Januar/Februar 1982 am Berliner Appell.
Zudem hat mich die Vergangenheit meines Vaters in Bezug auf den Umgang mit Waffen sehr nachdenklich werden lassen. Er hat davon nie erzählt, aber es gab immer so Andeutungen meiner Mutter, dass er Unterscharführer bei der SS war und Kraftfahrer - ich hoffe, dass er da wirklich nur Kraftfahrer war - in Buchenwald. Auch solcher Geschichten wegen habe ich mir immer gesagt, dass ich niemals in eine Situation kommen möchte, in der mir einer sagen kann, er habe einen Rechtsanspruch darauf, dass ich mache, was er befiehlt.
Und dann fragte mich Lothar de Maizière, ob ich mir vorstellen könnte, Verteidigungsminister zu werden. Er hat mich das auch vor dem Hintergrund gefragt, dass es in der Samaritergemeinde, wo ich als Pfarrer tätig war, einen der am längsten existierenden Friedenskreise der DDR gab. Nun, wenn ich das ernst meinte, was ich in den letzten Jahren als evangelischer Pfarrer mit anderen zusammen, zum Beispiel mit Markus Meckel, gemacht habe, musste ich jetzt die Chance ergreifen und mich der Verantwortung stellen. Wer denn sonst? Irgendein braver General der NVA? Auf die Idee, es könnte auch einer aus dem Westen übernehmen, bin ich gar nicht gekommen. Und im Nachhinein bin ich froh, dass ich es gemacht habe.
Die Verbündeten der Bundesrepublik Deutschland haben lange das vorhin angesprochene Argument akzeptiert. Sie haben gesagt, wir wollen von Euch Deutschen nicht verlangen, dass Ihr aufeinander schießen müsst, wenn es zu einem heißen Krieg zwischen Ost und West kommt. Und sie haben ihre eigenen Streitkräfte eingesetzt, die alte Bundesrepublik Deutschland musste mehr Geld auf den Tisch legen und hat sich praktisch damit freigekauft.
Die Situation war mit der Deutschen Einheit und dem Ende der Blockkonfrontation in Europa vorbei. Darüber haben sich die meisten Deutschen gefreut. Aber dass es möglicherweise auch bedeutet, mehr Verantwortung zu übernehmen, weil wir die ökonomisch stärkste und auch politisch einflussreichste Nation in Europa sind, und dass es möglicherweise bei den anderen das Bedürfnis hervorruft zu sagen, Ihr müsst Euch jetzt der Verantwortung stellen, dürfte uns eigentlich nicht sonderlich überraschen.
Wir müssen darüber nicht jubeln, aber wenn wir, was wir ja heute sind, ein anerkannter und wichtiger Partner für die anderen sein wollen, werden wir unserer Kraft und unserer Bedeutung entsprechend auch Verantwortung übernehmen müssen. Ich bin froh darüber, dass wir die Erfahrung unserer Geschichte soweit verinnerlicht haben, dass wir das nicht mit kaiserlicher Würde tun, sondern mit sehr viel Fragen und Skepsis. Und von daher ist es in Ordnung, dass wir immer neu darüber diskutieren, auch mal streiten und in jedem Einzelfall darüber abstimmen müssen. Damit nicht mehr passiert, was 1914 in Europa passieren konnte: Dass rund 10 Leute darüber entschieden haben, dass 37 Millionen Männer aufeinander losgehen. Das geht heute zum Glück nicht mehr.
DA: Herr Meckel, Sie sind Gründungsmitglied der Sozialdemokratischen Partei in der ehemaligen DDR. Was war Ihre Motivation für diese Entscheidung?
Die Sozialdemokratischen Partei in der DDR (SDP) gründete sich am 7. Oktober 1989. Markus Meckel (hinten rechts) und Martin Gutzeit (hinten Mitte) während der Tagung des geschäftsführenden Vorstandes im Januar 1990 (© Bundesarchiv, Bild 183-1990-0109-023, Foto: Rainer Mittelstädt)
Die Sozialdemokratischen Partei in der DDR (SDP) gründete sich am 7. Oktober 1989. Markus Meckel (hinten rechts) und Martin Gutzeit (hinten Mitte) während der Tagung des geschäftsführenden Vorstandes im Januar 1990 (© Bundesarchiv, Bild 183-1990-0109-023, Foto: Rainer Mittelstädt)
Martin Gutzeit und ich, zwei evangelische Pastoren, waren 1988 die einzigen, die überhaupt eine Parteigründung von Anfang an gezielt betrieben haben. Wir waren der Meinung, dass zu diesem Zeitpunkt noch eine Chance vorhanden war, etwas zu ändern. Vorher, bis 1987, hatte Opposition vor allem eine moralische Dimension. Und da spielte wiederum das Vorbild des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus eine Rolle. Ich habe immer gesagt, man muss sich morgens noch im Spiegel anschauen können. Václav Havel hat es viel schöner gesagt: Er sagte "es ging darum, in der Wahrheit zu leben".
Zivilcourage zu haben, auch mal Nein zu sagen, zu sich selbst zu stehen, das war alles kirchlicher Auftrag. Die Frage eines politischen Systems war nicht mehr unmittelbar kirchlicher Auftrag. Da ging es darum, sozusagen als Bürger etwas zu tun, und daher suchten wir nun nach einer anderen Organisationsform. Erst wollten wir einen Verein gründen, aber im Januar oder Anfang Februar 1989 haben wir uns entschieden, eine sozialdemokratische Partei zu gründen. Damit wollten wir uns ganz gezielt in eine lange demokratische Tradition in Deutschland stellen. Das heißt, die älteste demokratische Partei, in der im 19. Jahrhundert Untertanen zu Bürgern, das heißt zu politischen Subjekten wurden.
Zum anderen war es das Sich-Hineinstellen in einen internationalen Kontext: Der Nord-Süd-Bericht von Willy Brandt, die Fragen nachhaltiger Entwicklung, Gro Harlem Brundtland sowie Olof Palmes Thema der "Gemeinsamen Sicherheit".
Und drittens, zogen wir damit gewissermaßen die eine Hand aus dem Parteiabzeichen der SED.
Für uns war zentral, es muss ein Neuanfang mit einer klaren Perspektive auf parlamentarische Demokratie sein. Mit der Initiativgruppe am 26. August 1989 sind wir damit in die Öffentlichkeit gegangen, haben dann aber schon entschieden, am 7. Oktober zu gründen. In den vier Wochen bis zum 9. November dachten wir noch, man könnte eins nach dem anderen machen: Erst die Demokratie, und dann kümmern wir uns um die Mauer. Mit dem Mauerfall war das passé, und jetzt musste das alles schnell gehen.
DA: Herr Eppelmann, Teile der CDU in den ostdeutschen Ländern waren auch schon vor der Einheit Mitglieder der Blockpartei der CDU gewesen, spielte das für Sie eine Rolle beim Umgang mit anderen Mitgliedern und Funktionären?
Rainer Eppelmann wird im April 1990 auf dem Sonderparteitag des Demokratischen Aufbruchs als Parteivorsitzender bestätigt (© Bundesarchiv Bild 183-1990-0422-015, Foto: Ralf Pätzold)
Rainer Eppelmann wird im April 1990 auf dem Sonderparteitag des Demokratischen Aufbruchs als Parteivorsitzender bestätigt (© Bundesarchiv Bild 183-1990-0422-015, Foto: Ralf Pätzold)
Rainer Eppelmann: Na klar. Erstens wollte ich nie der CDU des Gerald Götting
Und dann dachte ich: gut, dann muss etwas Eigenes sein. So wurde es der Demokratische Aufbruch. Überrascht hat mich, als der zum Vorsitzenden gewählte Wolfgang Schnur ankam und meinte, er hätte sich mit Kohl umarmt und wir machen die Allianz für Deutschland. Das war also keine Initiative von mir, aber als braver Demokrat habe ich mir gesagt, es muss ja nicht immer nur nach mir gehen.
DA: Gab es da ein Misstrauen?
Rainer Eppelmann: Ich würde sagen, ich bin anders damit umgegangen. Ich wollte nicht in die Ost-CDU eintreten, hab dann aber anhand des schlechten Wahlergebnisses,
Und dann mussten wir, um auf eine gemeinsame Liste für den ersten Deutschen Bundestag zu kommen, Mitglied der CDU sein. So bin ich im Spätherbst, noch vor den Bundestagswahlen, in die CDU des Lothar de Maizière eingetreten, von der ich wusste, dass 80 Prozent oder mehr aus sehr unterschiedlichen Motiven Mitglieder der CDU waren. Zum Glück sind wir nicht alle einer Meinung und haben unterschiedliche Gedanken und Überlegungen.
Was ich der CDU und allen anderen Blockparteien vorwerfe, ist, dass es nur eine einzige Abstimmung gab - und das auf Befehl der SED in der Volkskammer - bei der man nicht einstimmig abgestimmt hat. Das war der Schwangerschaftsabbruch. Ansonsten waren dies alles willfährige Instrumente. Ich werfe ihnen vor, dass sie "ja" gesagt haben zum Mauerbau, "ja" zu den politischen Gefangenen, "ja" zur Einführung des Wehrkundeunterrichtes, und so weiter. Ich war eine Zeit lang stellvertretener Landesvorsitzender in Brandenburg, ich glaube, in keinem anderen Ostdeutschen Landesverband der CDU, vielleicht noch in Sachsen, ist - zumindest in den Spitzenpositionen - so intensiv hingeguckt worden wie in Brandenburg und Sachsen.
DA: Würden Sie also dem Thüringischen CDU-Landesvorsitzenden Mike Mohring zustimmen, der eine umfassende Untersuchung der Geschichte CDU im demokratischen Block fordert?
Rainer Eppelmann: Ja, sicher. Es hat einen Bundesparteitag der CDU in Dresden gegeben, der sich mit der Frage befasst hat. Nicht sehr gründlich und differenziert, aber es war ein großes Thema, und dennoch, war das natürlich bei Weitem nicht ausreichend.
Und es gab auch Versuche, die Geschichte der Ost-CDU aufzuschreiben. Die Anfänge waren da relativ authentisch, da es eben tatsächlich Bürger waren, die gesagt haben, wir wollen jetzt etwas ganz anderes als das, was von 1933 bis 1945 war. Aber die kamen nachher entweder ins Gefängnis oder sind in den Westen geflohen, oder sie haben sich wie fast alle DDR-Bürger - Sie reden ja im Augenblick, was das politische Verhalten betrifft, nicht mit zwei typischen DDR-Bürgern - gesagt: Mit dem Po an die Wand, Schnauze halten und nur nicht auffallen. Um sich das Leben nicht noch komplizierter zu machen, als es sowieso schon ist.
Eine Formulierung von mir gehört hier hin: Wer in einer solchen Diktatur wie der SED-Diktatur in der DDR seinen Werten und seinem Glauben alltäglich treu bleiben wollte, musste im Normalfall ein Held sein. Und wer kann das, alltäglich ein Held sein?
Das Interview führte Clemens Maier-Wolthausen. Im
Zitierweise: "Wer kann das, alltäglich ein Held sein?" Interview mit Rainer Eppelmann und Markus Meckel am 19. Februar 2015 in Berlin, Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur (Teil 1), in: Deutschland Archiv, 20.4.2015, Link: http://www.bpb.de/204570