Das Bundesamt für Verfassungsschutz ging im Jahre 1965 davon aus, dass kommunistische Nachrichtendienste versuchten, "zwischen rund tausend und dreitausend Personen im Jahr" dafür zu gewinnen, "gegen die Bundesrepublik Spionage zu treiben".
Paragrafen gegen Spione
Spione der DDR, die in der Bundesrepublik enttarnt wurden, hatten mit einer Strafverfolgung nach dem Abschnitt "Landesverrat" des Strafgesetzbuchs (StGB) zu rechnen. Die Vorschriften über den "Landesverrat" hatte die Bundesrepublik im Jahre 1951 durch das 1. Strafrechtsänderungsgesetz wieder eingeführt, nachdem die zuvor geltenden Paragrafen durch die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs – wie das politische Strafrecht des nationalsozialistischen Deutschlands insgesamt – außer Kraft gesetzt worden waren.
Der Abschnitt "Landesverrat" des Strafgesetzbuchs befasste sich im Wesentlichen mit der Gefährdung der Bundesrepublik oder ihrer Länder durch Preisgabe ihrer Staatsgeheimnisse. Unter Strafe gestellt war in erster Linie der Verrat von Staatsgeheimnissen (§ 100 StGB). Strafbar machte sich jedoch auch bereits, wer Beziehungen zu einer Einrichtung der DDR oder des Auslands aufnahm,
Obwohl wertneutral formuliert, fand der Abschnitt "Landesverrat" des Strafgesetzbuchs in den 1950er und 1960er Jahren ausschließlich auf Angehörige kommunistischer Nachrichtendienste Anwendung. Die westlichen Besatzungsmächte – die USA, das Vereinigte Königreich und Frankreich – hatten der Bundesrepublik Deutschland zunächst nur eine beschränkte staatliche Souveränität gewährt und sich die Ausübung der Staatsgewalt auf bestimmten Gebieten durch das Besatzungsstatut vom Mai 1949 ausdrücklich vorbehalten.
In den 1950er und 1960er Jahren wurden mehrere Tausend Spione kommunistischer Nachrichtendienste durch die Staatsschutzsenate des Bundesgerichtshofs und der Oberlandesgerichte und durch die Staatsschutzkammern der Landgerichte verurteilt. Der Verfasser hat für eine Untersuchung des politischen Strafrechts der Bundesrepublik im Zeitraum von 1951 bis 1968 alle 233 Urteile und Beschlüsse des Bundesgerichtshofs in Staatsschutzsachen ausgewertet, die dieser in erster (und gleichzeitig auch letzter) Instanz zu entscheiden hatte.
Fallbeispiel: Beobachtung von NATO-Manövern
Am 5. Juni 1956 urteilte der BGH gegen den 46-jährigen N.
N. erhielt den Auftrag, im September 1954 eine Fahrt in die Bundesrepublik zu unternehmen, um ein dort stattfindendes Manöver der NATO zu beobachten. Ein weiterer Beobachtungsauftrag wurde ihm für ein im Juni 1955 durchgeführtes Manöver erteilt. N. erhielt jeweils einen Katalog präziser Weisungen, auf welche Umstände er achten sollte. Die Stasi forderte unter anderem, N. solle "das Zusammenspiel der verschiedenen Waffengattungen" bei den Manövern beobachten. Eine weitere Weisung an N. lautete, die "taktischen Kennzeichen" an den Militärfahrzeugen zu notieren. Die Weisungen musste sich N. einprägen, schriftliche Unterlagen wurden ihm nicht übergeben. Zu Schulungszwecken wurden N. – unter anderem – Abbildungen von Fahrzeugtypen vorgelegt. Für seine Fahrten nach Westdeutschland erhielt N. eine Bescheinigung, aus der hervorging, er reise im Auftrag eines Berliner Kaufmanns um für diesen Geschäfte anzubahnen. N. beobachtete die Manöver und fertigte Notizen, die er per Post, teilweise versteckt in unverfänglich scheinenden Postkartentexten, an seine Freundin nach Berlin sendete. Erst nach seiner Rückkehr fertigte N. ausführlichere Berichte. Die Durchführung der von N. zu beobachtenden Manöver war weithin bekannt. Die Truppen bewegten sich weitgehend auf von der Öffentlichkeit einsehbarem Terrain, weshalb eine Beobachtung dem N. ohne Weiteres möglich war. Die Stasi erhoffte sich aus den Beobachtungen N.s und weiterer Spione offenbar Rückschlüsse auf Truppenstärken, Ausrüstung und Strategien der NATO.
Der BGH verurteilte N. wegen seiner Einsätze bei den NATO-Manövern unter anderem wegen versuchten Landesverrats in zwei Fällen nach § 100 Abs. 1 StGB. Das Gericht wendete dabei seine zu dem Landesverrats-Paragrafen entwickelte "Mosaiktheorie" an. Danach konnte auch die Sammlung und Zusammenstellung einer Vielzahl von allgemein zugänglichen und öffentlich bekannten Tatsachen ein Staatsgeheimnis im Sinne der Landesverratsvorschriften darstellen. Im konkreten Fall konnte der Senat jedoch nicht mit hinreichender Sicherheit feststellen, was N. genau beobachtet und gemeldet hatte und ging daher von einem bloß versuchten Landesverrat aus. Der Senat verhängte gegen N. eine Zuchthausstrafe von zwei Jahren.
Fallbeispiel: Spionage im Bundesministerium der Verteidigung
Am 24. September 1962 verurteilte der BGH den 47-jährigen F.
In den Jahren 1953/1954 hatte F. ein Verhältnis mit einer verheirateten Frau. Als diese von ihm schwanger wurde, entschied sich das Paar dafür, die Schwangerschaft im Juni 1954 ärztlich abzurechen – eine riskante Entscheidung, denn der ärztliche Schwangerschaftsabbruch war damals strafbar. Bei einem Bekanntwerden hätte er den Justizangehörigen F. zweifelsohne die berufliche Existenz gekostet.
Zum Unglück des F. hatte – möglicherweise aus dem Umfeld des Arztes – ein Zuträger des Ministeriums für Staatssicherheit von dem illegalen Schwangerschaftsabbruch erfahren. Die Stasi ließ diese Möglichkeit, einen West-Berliner Staatsdiener für ihre Zwecke gewinnen zu können, nicht ungenutzt. Bereits im Juli 1954 erschien ein Mittelsmann des Ministeriums bei F. und forderte ihn auf, sich zu einer nachrichtendienstlichen Mitarbeit bereit zu erklären, anderenfalls werde man sein Geheimnis publik machen. Derart unter Druck gesetzt, ging F. auf das Angebot ein. Die "Führung" des F., der offenbar als besonders vielversprechende Quelle gehandelt wurde, übernahm im Folgenden allerdings der sowjetische Nachrichtendienst KGB.
Seine Auftraggeber drängten F., sich zu bemühen, in eine für sie noch interessantere Position zu gelangen. Bereits Anfang 1955 gelang es F., als Hilfsreferent in das Bundesjustizministerium nach Bonn abgeordnet zu werden. Auch dort war er mit Staatsschutzsachen befasst. Im Jahre 1956 wurde F. dann – auf sein Betreiben – zum Bundesministerium der Verteidigung versetzt. Zunächst wurde F. in der Rechtsabteilung des Ministeriums eingesetzt, wo er wieder vorwiegend mit der Bearbeitung von politischen Delikten befasst war. In mehreren Strafprozessen, auch vor dem BGH, fungierte F. als Sachverständiger zu Fragen der äußeren Sicherheit. Ab 1959 war F. in Hannover beim Amt für Sicherheit der Bundeswehr (besser bekannt als Militärischer Abschirmdienst) für die Sicherheitsüberprüfung von Bewerbern für den gehobenen und höheren Dienst der Bundeswehr verantwortlich. Der Spion F. war damit in einer Position tätig, die gerade der Spionageabwehr diente. Während seiner Zeit beim Bundesverteidigungsministerium hatte F. Zugriff auf "Geheimsachen der höchsten militärischen Führung" der Bundesrepublik.
Über seine Tätigkeit bei den ihn beschäftigenden Dienststellen berichtete F. bei persönlichen Treffen mit seinen Verbindungsleuten in Ost-Berlin, Köln und Brüssel. Hier erhielt er auch neue Aufträge. F. versendete zudem Berichte, die er auf Tonband gesprochen hatte, per Post. Mit einer Kleinstbildkamera fotografierte F. klassifizierte Schriftstücke und leitete die Fotos nach Ost-Berlin weiter. Der Bundesgerichtshof konnte F. nur hinsichtlich einer überschaubaren Anzahl von Informationen und Dokumenten konkret die Weitergabe nachweisen.
F. wurde im Jahre 1961 festgenommen, nachdem er von einem anderen enttarnten Spion des KGB verraten worden war.
Fallbeispiel: Agentenring in Hamburg
Am 15. Oktober 1964 hatte der BGH den Fall des 52-jährigen W. zu entscheiden.
Im Jahre 1954 erhielt W. zu Hause Besuch von einem Mann, der sich als "Richard" aus Berlin vorstellte und mit W. ein Gespräch über seine persönlichen Verhältnisse und politischen Ansichten begann. W. nahm an, dass "Richard" von der Partei geschickt worden war, und freute sich über die ihm entgegengebrachte Aufmerksamkeit. Bei einem weiteren Treffen bot "Richard" W. an, sich "aktiv für den Frieden" einzusetzen. Hierzu erklärte sich W. bereit. Auf diese Weise begann die Tätigkeit des W. für die für Sabotage zuständige Abteilung der "Hauptverwaltung Aufklärung" des Ministeriums für Staatssicherheit.
Zu den ersten Aufträgen des W. gehörte es, Kontakt zu westdeutschen Besuchern in der DDR zu suchen, in Gesprächen ihre politische Einstellung zu erkunden und für die DDR zu werben. W. wurde zudem mehrfach nach West-Berlin entsandt, wo er in Gesprächen mit der Bevölkerung die dort verbreiteten Ansichten zu bestimmten politischen Fragen erforschen sollte. Zudem wurde W. beauftragt, in West-Berlin das Verhalten von Besuchern aus der DDR zu beobachten. Es folgten weitere Erkundungsaufträge des W. in Westdeutschland.
Über die Jahre erhielt W. zunehmend anspruchsvollere Aufgaben. 1957 wurde W. mit der "Führung" eines im Großraum Hamburg bestehenden Agentennetzes der Stasi betraut. Unter dieser Tätigkeit wurde die Position eines Mittelsmannes zwischen den Informationszuträgern und der Zentrale des Nachrichtendienstes verstanden. Bei dem Großteil der W. unterstellten "Spione" handelte es sich um westdeutsche Hafen- und Werftarbeiter, es fanden sich jedoch auch ein Mitarbeiter der Hamburger Behörde für Wirtschaft und Verkehr sowie weitere aus der DDR in den Westen entsandte Agenten darunter. Das Agentennetzwerk sammelte zum einen Informationen über jegliche militärisch relevanten Vorgänge. Einige der von W. betreuten Agenten arbeiteten in großen Schiffswerften, die mit der Produktion von Rüstungsgütern für die Bundesmarine befasst waren. Zum anderen sollten die Agenten "in Werften und Häfen" "empfindliche Stellen auskundschaften", "durch deren Zerstörung die wirtschaftliche Erzeugung und die Verbindungswege" der Bundesrepublik "lahmgelegt werden könnten".
Da die Agententätigkeit des W. ihn nicht in die unmittelbare Nähe von Staatsgeheimnissen brachte, wurde er durch den Bundesgerichtshof nicht wegen Landesverrats verurteilt. Er wurde jedoch der Eingehung landesverräterischer Beziehungen nach § 100 e StGB für schuldig befunden. Zudem verurteilte der Bundesgerichtshof W. wegen landesverräterischem Nachrichtendienst in einem besonders schweren Fall nach § 92 StGB. Nach dieser Vorschrift machte sich strafbar, wer Nachrichten über "Verwaltungen, [...], Betriebe" oder Anlagen" sammelte, um Bestrebungen zu fördern, die verfassungsgemäße Ordnung der Bundesrepublik zu untergraben oder ihre Sicherheit zu gefährden. Gegen W. wurde eine Gefängnisstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verhängt.
Ziele und Methoden der DDR-Spione
Die vorstehend geschilderten Spionagefälle geben nur einen kleinen Einblick in das breite Spektrum der von der DDR ausgehenden Spionagetätigkeit in der Bundesrepublik. Hinsichtlich der Ziele und Methoden der DDR-Spionage sind sie jedoch in zwei Punkten durchaus repräsentativ: Insbesondere das zweite Fallbeispiel illustriert, dass es Nachrichtendiensten der DDR (und der Sowjetunion) gelang, Spione auch an neuralgischen Punkten der Bundesrepublik einzuschleusen: Die sozialistischen Nachrichtendienste konnten erfolgreich Bundestag, Bundesministerien, Bundeswehr, Geheimdienste, Parteien und Wirtschaftsunternehmen unterwandern. Auf der anderen Seite zeigen die Fallbeispiele auch, dass die gezielte Auskundschaftung einzelner Staatsgeheimnisse eher die Ausnahme darstellte. Die DDR-Spionage war darauf ausgerichtet, möglichst viele Informationen in der Breite zu erlangen. Ein erheblicher Anteil der Spionagefälle, mit denen der Staatsschutzsenat des Bundesgerichtshofs befasst war, erscheint – für sich betrachtet – als bloße Bagatelle. Ein Großteil der im Auftrag der DDR entsandten Spione schöpfte, wie N. im ersten Fallbeispiel, aus öffentlichen Quellen. Viele Agenten waren, wie auch anfangs auch W. aus dem dritten Fallbeispiel, damit beauftragt, Alltags- und Stimmungsberichte zu fertigen, Bücher und Flugschriften zusammenzutragen und Erkundungsaufträge durchzuführen. Es ist allerdings nicht von der Hand zu weisen, dass auch diese "Informationskrümel" für ausländische Nachrichtendienste in der Häufung Ansatzpunkte für die Gewinnung gewichtigerer Erkenntnisse darstellen konnten.
Anwerbung von Agenten durch DDR-Nachrichtendienste
Nur ein Bruchteil der in der Bundesrepublik für einen Geheimdienst der DDR tätigen Agenten ging seiner Arbeit aus ideologischer Überzeugung nach. Wie an dem ersten und zweiten Fallbeispiel aufgezeigt, wandten Geheimdienste der DDR zur Gewinnung von Mitarbeitern häufig auch erpresserische Mittel an. DDR-Bürgern wurde die Arbeit für einen Nachrichtendienst vielfach – wie auch N. im ersten Fallbeispiel – als "Ausweg" angetragen, nachdem sie zuvor mit der Aussicht auf Verbüßung einer Haftstrafe wegen der (angeblichen) Begehung einer Straftat konfrontiert worden waren. Um Bundesbürger in gehobenen Positionen zu einer Mitarbeit zu bewegen, drohten DDR-Geheimdienste, wie am Fall des Staatsanwalts F. illustriert wurde, in nicht wenigen Fällen die Enthüllung von Geheimnissen an, etwa über das Bestehen einer außerehelichen Beziehung oder über "dunkle Kapitel" in der Vergangenheit der Betroffenen. Auch mögliche Sanktionen gegen in der DDR lebende Verwandte wurden als Druckmittel eingesetzt. Vor allem Bundesbürger wurden von Geheimdiensten der DDR aber auch durch wirtschaftliche Anreize zu einer Mitarbeit bewegt. Sowohl das Angebot hoher Geldzahlungen als auch die Vermittlung lukrativer Wirtschaftsbeziehungen in den "Ostblock" sind dokumentiert. Aufsehen erregte in dieser Hinsicht beispielsweise der Fall der Anwerbung einer wirtschaftlich angeschlagenen Pensions-Betreiberin aus der damaligen Bundeshauptstadt Bonn durch die Stasi.
Dass Geheimdienste der DDR in der Bundesrepublik gerne auf die Dienste von Bundesbürgern setzten, die dem Kommunismus nicht besonders nahe standen, hatte mehrere Gründe.
Zu Beginn der 1950er-Jahre bemühte sich die DDR-Führung unter Einsatz erheblicher finanzieller Ressourcen um die Förderung der kommunistischen Partei (KPD) und der übrigen kommunistischen Organisationen in Westdeutschland. Genährt durch beachtliche Wahlerfolge der KPD, bestand zu dieser Zeit dort noch die Hoffnung, einen erheblichen Teil der Bevölkerung der Bundesrepublik für die "kommunistische Sache" gewinnen zu können. Die kommunistischen Organisationen in Westdeutschland verloren jedoch rasch an politischer Bedeutung. Zunehmend gerieten sie auch unter behördlichen Druck. 1951 wurde die kommunistische Jugendorganisation FDJ in Westdeutschland verboten. Im Jahre 1956 erfolgte, nach mehrjähriger Verfahrensdauer, das Verbot der KPD durch das Bundesverfassungsgericht. Es liegt nahe anzunehmen, dass seitens der DDR in dieser schwierigen Lage kommunistischen Organisationen in Westdeutschland die Arbeit nicht zusätzlich durch den Einsatz bekennender westdeutscher Kommunisten als Spione erschwert werden sollte.
Die Entsendung ideologisch zuverlässiger Mitarbeiter aus der DDR war für die ostdeutschen Geheimdienste oftmals mit einem sehr hohen Aufwand verbunden. Sollten solche Agenten in geheimnisrelevante Stellungen der Bundesrepublik vordringen, erforderte dies eine zeitaufwendige, teils jahrelange Legendenbildung. Durch die Errichtung der Berliner Mauer und die Verstärkung der innerdeutschen Grenzsicherung ab August 1961 erhöhten sich die Anforderungen noch einmal beträchtlich.
Sofern Agenten an neuralgischen Punkten der Sicherheitsarchitektur der Bundesrepublik platziert werden sollten, war die Rekrutierung von Bundesbürgern, die dem Kommunismus fernstanden, unerlässlich. Gehobene Positionen in der Bundesrepublik, die Zugang zu Staatsgeheimnissen ermöglichten, waren – wie auch am Beispiel des Staatsanwalts F. gezeigt wurde – gerade in den 1950er und 1960er Jahren vorrangig mit Vertretern der alten Eliten besetzt. Diese konnten kaum mit ideologischen Argumenten, in einigen Fällen jedoch durch finanzielle Zuwendungen oder den Einsatz von Druckmitteln, zu einer Mitarbeit für einen fremden Nachrichtendienst bewogen werden.
Behandlung der Spionagefälle durch die Justiz
Die 1951 in der Bundesrepublik eingeführten Strafvorschriften über den "Landesverrat" waren weit gefasst. Sie erfassten ein breites Spektrum von Tätigkeiten für fremde Nachrichtendienste. Die Rechtsprechung war erkennbar bemüht, durch eine weite Auslegung aus ihrer Sicht noch bestehende "Strafbarkeitslücken" zu schließen. Dies zeigte sich in der Entwicklung der – bereits erwähnten – "Mosaiktheorie", die eine erhebliche Ausweitung der Anwendung der Landesverratsvorschriften auf die Weitergabe von Tatsachen, die kein Staatsgeheimnis im eigentlichen Sinne darstellten, bedeutete. Auch die Vorschrift des § 100 e StGB (Landesverräterischer Nachrichtendienst) erfuhr in der Rechtsprechung eine erhebliche Ausweitung. Nach dem Wortlaut der Norm machte sich strafbar, wer zu einer fremden Stelle "Beziehungen aufnimmt oder unterhält, welche die Mitteilung von Staatsgeheimnissen […] zum Gegenstand haben". Nach Ansicht des Bundesgerichtshofs war dies bereits immer dann der Fall, wenn "sich jemand mit einer fremden Stelle einlässt, von der er weiß, dass sie auf Staatsgeheimnisse abzielt", womit faktisch jede Unterhaltung von – wie auch immer gearteten – Beziehungen zu einem ausländischen Geheimdienst von der Vorschrift erfasst wurde.
Bei der Bemessung der gegen "Landesverräter" verhängten Strafen hielten sich die Gerichte, im Verhältnis zu den vom Gesetzgeber vorgegebenen Strafrahmen, dagegen zurück. In der Praxis erhielten "kleine Spione" Gefängnisstrafen zwischen ein und drei Jahren. In Fällen, in denen Personen auf Grund finanzieller Interessen oder aus Angst vor beruflichen oder persönlichen Nachteilen ihre berufliche Stellung in Parlament, Ministerien oder Bundesoberbehörden ausgenutzt hatten, um dem Umfang und der Bedeutung nach ganz erhebliches Geheimmaterial zu erlangen und weiterzugeben, wurde allerdings auch die für Landesverrat geltende Höchststrafe von 15 Jahren Zuchthaus verhängt.
Zitierweise: Ulf Gutfleisch, Deutsch-deutsche Bespitzelung: Spione der DDR vor bundesdeutschen Gerichten, in: Deutschland Archiv, 10.4.2015, Link: http://www.bpb.de/204336