Die demografische Entwicklung in Deutschland ist seit der Wiedervereinigung ein öffentliches Dauerthema. Kinderlosigkeit und Überalterung, Zu- und Abwanderung sowie innerdeutsche Umzüge werden - teilweise abwechselnd, teilweise gleichzeitig - als die zentralen Herausforderungen der Gesellschaft ausgemacht. Doch vor allem der Fokus auf die Ost-West-Dimension überlagert die gesamtdeutschen Probleme. Nicht nur in den östlichen Bundesländern fehlen Kinder. Zugleich stehen in beiden Landesteilen prosperierende Großstädte der anhaltenden Entvölkerung in ländlichen Gegenden gegenüber. Schafft es der Westen allerdings durch die über Jahrzehnte gewachsene Zuwanderung von Migranten seine Bevölkerungszahl stabil zu halten, leidet der für Ausländer – ökonomisch und sozial – unattraktive Osten unter einem dreifachen Problemdruck: Geburtenmangel, Abwanderung nach Westen sowie kaum Zuwanderung von außen.
Der Beitrag geht der Bevölkerungsentwicklung in Deutschland in den vergangenen 25 Jahren nach. Zum einen soll aufgezeigt werden, welche demografischen Änderungen sich vollzogen: Haben wir es mit Blick auf die Bevölkerungsverteilung und -zusammensetzung sowie auf die Altersstruktur folglich mit grundlegenden oder eher partiellen Veränderungen zu tun? Zum anderen gilt es die demografische Entwicklung seit der Wiedervereinigung für die besondere Ost-West-Dimension zu beleuchten. Sind die Bevölkerungsstrukturen in beiden Landesteilen wie vor 1989/90 noch immer stark verschieden (jung, multiethnisch und wachsend versus alt, homogen und schrumpfend) oder dominieren mittlerweile andere Gegensätze (beispielsweise Nord-Süd oder Stadt-Land) die demografischen Unterschiede in Deutschland?
Einführung
Die Bevölkerungsentwicklung der Bundesrepublik hat sich seit der Deutschen Einheit zum öffentlichen Dauerthema entwickelt. Drei Aspekte stehen im Mittelpunkt unzähliger, teilweise schriller Veröffentlichungen, welche die dramatischen Auswirkungen und Folgen der demografischen Veränderungen behandeln
Die Analyse der Bevölkerungsentwicklung setzt eine Auswahl der zu untersuchenden Teilbereiche voraus. Im Folgenden stehen die demografischen Kernmerkmale Altersstruktur, Lebenserwartung sowie Zu- und Binnenwanderung im Zentrum der Darstellung. Diese gilt es erstens für die Bundesrepublik insgesamt, zweitens differenziert nach Ost- und West und drittens speziell für einzelne Bundesländer und Regionen zu betrachten. So soll beantwortet werden, ob wir es 25 Jahre nach der Deutschen Einheit mit gesamtdeutschen Phänomenen, ost- beziehungsweise westdeutschen Trends oder regionalen Eigenarten zu tun haben.
Altersstruktur und Lebenserwartung
Die Bevölkerungsstruktur in Deutschland veränderte sich in den vergangenen 25 Jahren vielfältig und tiefgreifend. Allerdings war nicht jeder Wandel der langfristigen Entwicklung bedingt durch die Wiedervereinigung. Die natürliche Bevölkerungszahl als Verhältnis von Geburtenzahl und Sterbefällen geht - wie in ganz Europa - seit etwa vier Jahrzehnten zurück.
Allerdings zeigt sich mit dem Blick auf regionale Unterschiede, dass vor allem im Westen die Differenzen zwischen den einzelnen Regionen größer sind als die zwischen Ost und West.
Auch hinsichtlich der Lebenserwartung haben sich die Unterschiede zwischen Ost und West mittlerweile fast angeglichen.
Deutsch-deutsche Binnenwanderungen
Neben der natürlichen Bevölkerungsentwicklung resultiert die Gesamteinwohnerzahl einer Gesellschaft aus den räumlichen Wanderungsbewegungen. Hier unterscheiden sich alte und neue Bundesländer nach wie vor deutlich. Während die Gesamtbevölkerungszahl im Westen von Ende des Zweiten Weltkrieges an - trotz zwischenzeitlicher Stagnation (1975-1985) - bis zum Jahr 2004 kontinuierlich stieg, weil die Geburtenrückgänge durch die Zuwanderung von Heimatvertriebenen, ehemaligen DDR-Bürgern und Ausländern kompensiert werden konnten, verschärfte sich mit der Friedlichen Revolution 1989/90 der seit 1946 ohnehin rückläufige Trend im Osten.
Mit der Wiedervereinigung wurde die Aus- zur Binnenwanderung, die vor allem zu Beginn der 1990er Jahre einer wahren Abwanderungswelle glich.
Jedoch ist "der Osten“ nicht gleich "Osten". Anstelle der nahezu flächendeckenden "Entvölkerung" großer Teile Ostdeutschlands in den 1990er Jahren lässt sich seit der Jahrtausendwende vielmehr eine Differenzierung der Bevölkerungsentwicklung in Boom- und Schwundregionen erkennen. So stehen den sogenannten ostdeutschen "Leuchttürmen" (beispielsweise in und um Leipzig und Dresden, in Jena und Erfurt sowie im Umfeld der brandenburgischen Landeshauptstadt Potsdam) zunehmend Regionen gegenüber, die sich demografisch im "freien Fall" befinden, vor allem die ländlichen Regionen im (Nord-) Osten, aber auch in Sachsen-Anhalt, der Lausitz und im Norden Sachsens. Auch die Kleinstädte beziehungsweise Oberzentren solcher Gegenden zählen zu den Verlierern der Bevölkerungsentwicklung. In vielen größeren Städten wie in Görlitz, Cottbus, Hoyerswerda oder Eisenhüttenstadt ist die Einwohnerzahl um mittlerweile fast die Hälfte gegenüber vor 1990 geschrumpft. Sie stecken in einer Abwärtsspirale. Das Fehlen von Arbeitsplätzen führt zur Abwanderung – dies zieht den weiteren Rückbau des Dienstleistungssektors und der öffentlichen Infrastruktur nach sich, was die Abwanderung aus den Regionen weiter verschärft. Doch der Blick auf den Osten insgesamt verschleiert die eigentlichen Härten. Dem Aufschwung in einigen Großstädten stehen gravierende Bevölkerungsrückgänge und Alterungsprozesse in den ländlichen Ostregionen gegenüber.
Gleichwohl ist der Trend wachsender Unterschiede zwischen Boom- und Schrumpfregionen kein ostdeutsches Phänomen. Auch im Westen verliert manche strukturschwache Gegend, unter anderem die früheren Zonenrandgebiete. So hat die Stadt Hof an der bayrisch-sächsischen Grenze seit 1990 fast ein Fünftel seiner einst über 55.000 Einwohner verloren. Aber auch viele ländliche Regionen im Nordwesten sind betroffen, während die attraktiven Groß- und Universitätsstädte wie München, Stuttgart, Berlin und Hamburg den Ansturm an Zuzügen – und entsprechend auf knappen Wohnraum - kaum noch bewältigen können. Die ostdeutschen Großstädte nehmen hier eine Art Mittellage ein: als Zuzugsziel für ostdeutsche Landbewohner auf der einen Seite und als Schrumpfregion in Richtung Westen auf der anderen.
Mindestens so deutlich wie der Ost-West-Unterschied sind die Differenzen zwischen Nord- und Süddeutschland. Egal ob westliche oder östliche Bundesländer: Im Süden sind Wirtschaft und Wachstum stärker, Arbeitslosigkeit und Verschuldung niedriger als im Norden. Dies schlägt sich im Bevölkerungswachstum nieder. In Bayern und Baden-Württemberg ist es deutlich höher als in Niedersachsen und Schleswig-Holstein, aber auch in Sachsen und Thüringen fällt die Bilanz im Vergleich mit Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg deutlich positiver aus. Im Gegensatz zu Entwicklungsunterschieden zur Zeit der Industrialisierung und im globalen Maßstab wird Deutschland heute weniger von einem Nord-Süd-Konflikt, als vielmehr von einem Süd-Nord-Gefälle geprägt.
Zu- und Abwanderungen
Die Differenzen zwischen der bis 2004 wachsenden Bevölkerung im Westen und der kleiner werdenden Population im Osten werden durch eine räumlich unterschiedlich verteilte Außenwanderung verstärkt. Obwohl die vereinte Bundesrepublik Deutschland seit 1990 jährlich unverändert einen Überschuss an Zuzügen ("positiver Wanderungssaldo") aufweist, hat sich die Zuwanderungsdynamik der frühen 1990er Jahre auch im Westen deutlich abgeschwächt. Wuchs in den ersten fünf Jahren nach der Wiedervereinigung die Bevölkerung aufgrund des Wanderungsüberschusses um mehr als drei Millionen Menschen (vor allem Asylanten und Spätaussiedler aus Russland), hat sich das Verhältnis von Zu- und Fortzügen seit 2004 nahezu angeglichen. Während die alten Bundesländer noch bis 2007 Zuwanderungsgewinne verbuchten und erstmalig 2008 mehr Menschen das Land verließen als zuzogen, wiesen die neuen Länder bis zum Jahr 2000 einen deutlichen jährlichen Außenwanderungsverlust auf, der sich mittlerweile abgeschwächt hat.
Aussagen zur Entwicklung des Bevölkerungsanteils ethnischer Minderheiten im Ost-West-Vergleich sind aus methodischen Gründen schwierig. Zum einen erschwert die Verwaltungsreform der Stadt Berlin im Jahr 2000 Ost-West-Studien, da ehemalige Ost- und Westbezirke zusammengelegt wurden (wie Kreuzberg und Friedrichshain), was die traditionelle Ost-West-Aufteilung statistisch unberücksichtigt lässt und gerade bei Aussagen zur Migration wegen der großen innerstädtischen Unterschiede in die Irre führt. Zum anderen gibt die Ausländerstatistik nur begrenzt Aufschluss über den Anteil ethnischer Minderheiten an der Bevölkerung, da Einbürgerungen, Nachgeborene und die Praxis doppelter Staatsbürgerschaften den Anteil von Ausländern innerhalb der multiethnischen Bevölkerungsgruppe sinken lassen. Dennoch lassen sich die Unterschiede und die daraus resultierenden Auswirkungen für beide Landesteile benennen. Während in Westdeutschland seit den 1950er Jahren – zunächst überwiegend durch Arbeitsemigranten, später vor allem durch Asylanten - der allochthone Bevölkerungsanteil kontinuierlich wuchs, die Ausländerquote Mitte der 1990er Jahre mit 10,5 Prozent ihren Höhepunkt erreichte und seitdem bei zirka zehn Prozent liegt, bestand in Ostdeutschland nach der Wiedervereinigung eine weitgehend monoethnische Gesellschaft. Von einem geringen Ausgangsniveau (1990: 1,2 Prozent) stieg der Ausländeranteil bis zum Jahr 2013 auf 2,5 Prozent an, ist damit allerdings nach wie vor fast viermal niedriger als im Westen
Zieht man die schwer zu erhebenden Daten zu Personen mit Migrationshintergrund heran, wird die Kluft sogar noch deutlicher. Das liegt zum einen an der "Bewährung von Migrationswegen" für nachziehende Familienangehörige, zum anderen an den fehlenden beziehungsweise schlechten wirtschaftlichen Perspektiven und dem vielerorts eher negativen Image des Ostens. Überlagern bei der natürlichen Bevölkerungsentwicklung und bei der Binnenwanderung der Stadt-Land-Gegensatz und (weniger stark ausgeprägt) die Nord-Süd-Differenzen die deutsch-deutschen Unterschiede, bleibt die Außenzuwanderung überwiegend eine Westangelegenheit. Zwar liegt der Ausländeranteil in Ost wie West in den Städten über dem im ländlichen Raum, allerdings sind die Unterschiede zwischen Stadt und Land jeweils kleiner als gegenüber dem anderen Landesteil. Selbst in den ostdeutschen Großstädten liegt der Ausländeranteil bei unter drei Prozent, was die zuwanderungsfeindlichen Demonstrationen vor allem im Osten (Pegida) umso seltsamer erscheinen lässt, zumal es sich - wie in Chemnitz und Jena - bei der Mehrzahl der Ausländer um Studenten, nicht um vermeintliche Wirtschaftsflüchtlinge handelt.
Stellt der situations- wie sozialisationsbedingte "Rechtsextremismus ohne Ausländer"
Fazit
Um die Antwort der Leitfrage vorwegzunehmen: Ja, die Deutschen sind hinsichtlich ihrer Bevölkerungsentwicklung ein Volk – gemeinsame Problemlagen in Ost wie West überwiegen die regionalen Unterschiede. Beide Landesteile stehen bei der Bewältigung der künftigen demographischen Herausforderungen vor ähnlichen Problemen: Erstens, die gesamte Bundesrepublik leidet an einem spürbaren natürlichen Bevölkerungsrückgang. Es fehlen Kinder. Dies federt zwar die parallel steigende Lebenserwartung momentan ab, jedoch wird den künftigen Generationen eine doppelte Hypothek bei der Erhaltung der sozialen Sicherungssysteme und des allgemeinen Wohlstands auferlegt. Zweitens, die Stadt-Land-Gegensätze verstärken sich - dem Boom der Groß- beziehungsweise der Universitätsstädte (im Osten wie Westen) steht die Verödung abgelegener ländlicher Räume gegenüber. Drittens, auf die Herausforderungen im Zuge des Wandels hin zu einer multiethnischen Gesellschaft scheint bisher nur der Westen vorbereitet zu sein.
All das verschärft den Problemdruck im Osten. Es werden zu wenige Kinder geboren, die Gesellschaft altert und die Binnenwanderung nach Westen hält an. Parallel reicht die Zuwanderung von Ausländern nicht aus. Ferner zeigen junge ostdeutsche Frauen die stärkste Mobilität und die größte Bereitschaft zum Weggang, was das Problem der „Kinderarmut“ weiter verschärft. Zurück bleiben – überspitzt formuliert – Alte, Arme und Unqualifizierte, was zusätzlich die soziale Kluft zwischen Gewinner- und Verliererregionen vergrößert.
Zugleich wird die Ost-West-Dimension von zwei regionalen Konfliktlinien überlagert beziehungsweise überlappt - dem Stadt-Land-Gegensatz und einem Nord-Süd-Gefälle. Einfach formuliert: Je südlicher und großstädtischer, umso positiver (im Sinne einer steigenden Einwohnerzahl) fällt die Bevölkerungsbilanz aus, gleichwohl auch viele Großstädte (in Ost wie West) mit einem massiven Strukturwandel zu kämpfen haben. Die damit einhergehende Schwierigkeit, in den schrumpfenden Regionen die öffentliche Infrastruktur aufrecht zu erhalten, wird in den kommenden Jahren eher zu- als abnehmen, indes mittlerweile mehr und mehr die Potenziale "aussterbender Gegenden" anerkannt werden, beispielsweise in den Bereichen Umweltschutz und Tourismus.
Vor allem das Postulat der regionalen Solidarität beziehungsweise gleichwertiger Lebensbedingungen gilt es angesichts der Realitäten und vor dem Spannungsverhältnis von Wettbewerbsfähigkeit und (in-)effizienten Strukturen zu überdenken. Wenn der Bevölkerungsrückgang im ländlichen Raum - im Osten wie Westen - weiterhin massiv anhält, kann die bisherige Förderpraxis „in der Fläche“ auf Dauer nicht erhalten werden. Die Raumplanung beziehungsweise Raumpolitik sollte sich deswegen bei ihren zukünftigen Regionalentwicklungskonzepten stärker am Wettbewerbs- als am Gießkannenprinzip orientieren. Der Preis ist hoch: Abgelegene beziehungsweise überproportional von Abwanderung betroffene Gebiete werden dafür künftig gegenüber sogenannten nachhaltigen Räumen finanziell zurücktreten müssen. Der gezielte Abbau von Ansiedlungen und von Infrastruktur, aber auch die personelle Anpassungen in den Verwaltungen gehören zu den besonders sensiblen Maßnahmen der künftigen Raumentwicklungsplanung. Ziel muss es sein, diese Reformen einerseits so weitreichend wie nötig, andererseits so sozialverträglich wie möglich umzusetzen.
Zitierweise: Tom Thieme, Sind wir ein Volk? Zur demografischen Entwicklung in Deutschland seit der Wiedervereinigung, in: Deutschland Archiv, 12.3.2015, Link: http://www.bpb.de/202515