Staatliche Abgrenzung
"Macht das Tor auf!", war nach dem Bau der Mauer der Aufruf des Kuratoriums Unteilbares Deutschland unter Wilhelm Wolfgang Schütz. Ältere kennen noch die kleinen Anstecker mit dem Brandenburger Tor. Die Verbundenheit mit den Menschen in der "DDR" sollten sie demonstrieren, gelegentlich auch Kerzen im Fenster. Geredet wurde viel über die "Brüder und Schwestern" in der Sowjetzone, die jahrzehntelang nur mit Anführungsstrichen DDR genannt wurde. Bekenntnisse zur deutschen Einheit mit Berlin als Hauptstadt gab es vor allem in den Feierstunden am 17. Juni, auf die die Große Koalition 1968 verzichtete. Was aber war die Praxis gegenüber den "Brüdern und Schwestern"? Es gab auch im Westen Mauern. Staatlicherseits sollten sie die Belastungen verringern. In der Bevölkerung entstanden sie im Kopf.
Dass das Berlin-Bekenntnis für viele Bundestagsabgeordnete eine leere Floskel war, zeigte sich nach 1990. Gegen massiven Widerstand der meisten Bundestagsabgeordneten aus dem Rheinland und Südwesten wurde am 20. Juni 1991 Berlin zur Hauptstadt bestimmt - mit vielen Privilegien für die "Bundesstadt" Bonn im Berlin/Bonn-Gesetz
Die Flüchtlinge brauchten zum ständigen Aufenthalt in der Bundesrepublik eine Erlaubnis, nach Paragraph 1 Absatz 1 Notaufnahmegesetz vom 22. August 1950. Die politische Verfolgung wurde wie heute bei Asylbewerbern geprüft, nur sechs bis zehn Prozent wurde sie zugestanden. Der SPD-Antrag, alle aufzunehmen, die nicht wegen auch im Westen strafbarer Taten verfolgt waren, wurde abgelehnt mit Worten, die heute Ausländern gelten: Das Boot sei voll, das Gesetz müsse abschreckend auf Wirtschaftsflüchtlinge wirken
In der KSZE-Schlussakte vom 1. August 1975 wurden zur Systemstabilität in Korb 1 Abschnitt III die Unverletzlichkeit der Grenzen, in Abschnitt IV die territoriale Integrität der Unterzeichnerstaaten anerkannt, damit auch die Grenzen der DDR. Ost-Berlin wollte die Anerkennung des Status quo und jede Einmischung in die inneren Angelegenheiten verhindern. Derweil baute die Bundesbahn das zweite Gleis auf der Strecke Lübeck-Grevesmühlen ab und verkaufte die Grundstücke für Wohnungsbau; der Eisenbahnverkehr zwischen Schleswig-Holstein und Mecklenburg wurde auf Dauer erschwert.
Nach Artikel 1 Absatz 2 der EG-Fernsehrichtlinie vom 3. Oktober 1989 durfte die Weiterverbreitung der Fernsehprogramme aus EG-Staaten, die nicht Nichtmitgliedstaaten galten, nur behindert werden, wenn sie in die dort koordinierten Bereiche gehörten.
"Der einzige 'weiße Fleck' auf der Entschädigungslandkarte der Lastenausgleichsgesetze blieb für lange Jahre nur die DDR"
Berufsabschlüsse werden anerkannt, die denen in der Bundesrepublik "gleichwertig" sind, Artikel 37 Absatz 1 EV
Die Urteile zur Staatsangehörigkeit der DDR-Deutschen bis zum Bundesverwaltungsgericht waren ein Höhepunkt.
Es ging hier um die deutsche Staatsangehörigkeit des 1940 in Meißen geborenen Sohnes einer Deutschen, des Herrn Teso. Seine Mutter hatte die deutsche Staatsangehörigkeit durch Ehe mit einem Italiener verloren, sie 1944 nach der Scheidung durch (Wieder-) Einbürgerung für sich, nicht für den Sohn, wiedererworben. Wie im 1985 entschiedenen "Klinger-Fall" bekam er 1954 den "Personalausweis der Deutschen Demokratischen Republik für deutsche Staatsangehörige", da in der DDR seit 1949 auch rückwirkend eheliche Kinder deutscher Mütter die – damals noch einheitliche - deutsche Staatsangehörigkeit erhielten; in der Bundesrepublik ist das trotz Artikel 6 Absatz 5 GG erst seit dem 19. Dezember 1963 rückwirkend grundsätzlich nur für seit dem 1. April 1953 geborene Kinder möglich. Teso war Mitglied in DDR-Nationalmannschaften, diente in der Nationalen Volksarmee und war nach dem Studium Lehrer. 1968, endgültig 1969 kam er in die Bundesrepublik; 1974 verfügte die Stadt Köln, er sei kein Deutscher, was das Bundesverwaltungsgericht bestätigte.
Das Bundesverfassungsgericht hob das Urteil mit Beschluss vom 21. Oktober 1987 auf; die statische Betrachtungsweise stelle die Einheit des ganzen deutschen Volks in seinem jeweiligen Bestand als Träger des Selbstbestimmungsrechts grundsätzlich infrage, es widerspreche dem Grundgesetzgebot, die Einheit der deutschen Staatsangehörigkeit zu wahren.
Westdeutsche Befindlichkeiten
Die SPD-geführten Bundesregierungen seit Willy Brandt wollten mit "Wandel durch Annäherung" die Mauer durchlässiger machen. Grundlage waren Egon Bahrs Überlegungen im Vortrag in der Evangelischen Akademie Tutzing am 15. Juli 1963. Erreicht wurden menschliche Erleichterungen. Der Besucherverkehr von West nach Ost, auch über Ost-Berlin hinaus, sollte profitieren. Hätte profitieren können, muss man wohl eher sagen, denn die Annäherung fand in den westdeutschen Köpfen kaum statt, die Mauer dort blieb. Die DDR war für die meisten ein fernes Land. So gab der "ADAC-Atlas Deutschland und Europa für 1990/91", der Anfang 1990 erschien, als Deutschland nur die Bundesrepublik wieder.
Nach dem gemeinsam verlorenen Zweiten Weltkrieg wurden die Deutschen in den drei Westzonen und der Sowjetzone sehr verschieden sozialisiert. Grundlegend veränderten die sowjetische Besatzungsmacht und ihre deutschen Verbündeten die Sozial- und Wirtschaftsordnung. Anfängliche demokratische Ansätze wurden zugunsten kommunistischer Strukturen beseitigt. In den Westzonen knüpften Politik und Wirtschaft an die früheren Verhältnisse an. Zumal unter dem Eindruck des beginnenden Kalten Kriegs, der sehr verschiedenen Wirtschaftsentwicklung und des traditionellen Antikommunismus kam es zu ökonomischer, vor allem emotionaler Westwendung und Westbindung.
Durch diese Westverschiebung des politischen und wirtschaftlichen Schwerpunkts des westdeutschen Teilstaats an den Rhein, den Neckar und die Isar wurden im Praktisch-Politischen und im Bewusstsein der Bevölkerung wichtige Bande zu Mitteldeutschland als maßgeblichem historischen Zentrum der deutschen Geschichte durchtrennt.
Auf dem Höhepunkt der gesamtdeutschen Euphorie nach dem Mauerfall war die Opferbereitschaft der Westdeutschen gering. "Das große Wort ‚Solidarität’ hielt den kleinlichen Diskussionen nicht lange stand. Kosten, persönliche Vorteile und schließlich Opfer kamen auf die Tagesordnung."
Kaum West-Bereitschaft für DDR-Reisen
Festakt zur Städtepartnerschaft Eisenhüttenstadt und Saarlouis 1986. Die Stadt Saarlouis im Saarland war eine der ersten Städte, die eine Städtepartnerschaft mit einer Stadt in der DDR eingingen (© picture alliance / Klaus Rose)
Festakt zur Städtepartnerschaft Eisenhüttenstadt und Saarlouis 1986. Die Stadt Saarlouis im Saarland war eine der ersten Städte, die eine Städtepartnerschaft mit einer Stadt in der DDR eingingen (© picture alliance / Klaus Rose)
Wenige DDR-Deutsche, vor allem Rentner, gelegentlich Funktionäre, konnten nach Westen reisen. Es wurde etwas mehr mit den Städtepartnerschaften seit der Vereinbarung von Saarlouis und Eisenhüttenstadt vom 25. April 1986
Dank sozial-liberaler Ostpolitik konnten Westdeutsche fast problemlos in die DDR reisen, auch alleinreisende Kinder und Jugendliche. Spontan waren DDR-Reisen nur Bewohnern im beiderseitigen Grenzgebiet möglich. Westdeutsche konnten sich aber einladen lassen, an Gruppenreisen von Kirchengemeinden oder Gewerkschaften teilnehmen oder den Aufenthalt für Individualreisen beim Reisebüro der DDR kaufen. Dann entfiel der Zwangsumtausch, eingetauschte Beträge wurden bei der Ausreise 1:1 in DM zurückgewechselt. Es war auch möglich, Gruppen mit privater Einladung zu bilden für diejenigen, die keine persönlichen Beziehungen hatten. Die DDR verringerte zudem den Verwaltungs- und Kontrollaufwand an der Grenze im Laufe der achtziger Jahre
Es machte keinen Sinn, über deutsche Einheit zu reden, wenn niemand nach "drüben" fuhr, um zu sehen, zu hören, das Gespräch zu suchen. Niemand verzichtet(e) auf eine Reise nach Italien, Spanien oder Frankreich, als Kulturreise oder Badeurlaub, weil er keine persönlichen Beziehungen hat(te). Gewiss hatten diese Staaten viel kulturellen Reiz - auch war das Essen besser. Nur war Deutschland in seiner Gesamtheit ohne die DDR nicht zu erleben. Die Region vom Harz bis Magdeburg ist die Wiege Deutschlands. Auf dem DDR-Gebiet gibt es viele wichtige Kulturstätten. München mit einer einzigen großen Backstein-Kirche steht hinter Ostseestädten wie Lübeck, Wismar, Rostock oder Stralsund. Sie zu besuchen, ohne auf Reisen nach Südeuropa zu verzichten, wäre Grund genug gewesen, zumal viele auch heute Kunst- und Kulturreisen machen.
Reisen an die Ostsee, Mecklenburgs Seen oder ins Thüringer Mittelgebirge, gekauft beim Reisebüro der DDR, konnten ein schöner Urlaub sein. Westdeutsche hatten aber oft Scheu, den Mitbürgern hinter der Mauer zu begegnen, mit ihnen in gleicher Sprache über die jeweiligen Vorstellungen und Lebensumstände zu reden. Das Hindernis war nicht das autoritäre SED-Regime - seine Verbrechen werden, oft unter westdeutscher Ägide, intensiver aufgearbeitet als zumindest bis zu den 68ern die Nazi-Vergangenheit sogar westlicher Parlamentarier.
Städte und Dörfer in der DDR verfielen, Stadtplaner des DDR-Regimes hatten mangels Geld Schlimmes oft nur geplant. Aber auferstanden aus den Ruinen sind wahre Schmuckstücke, die es so im Westen nicht gibt. Dennoch war ein großer Teil der Westdeutschen noch nicht in den östlichen Bundesländern, die fälschlich die neuen genannt werden
Je weiter Westdeutsche in Richtung Rheinland, West- oder Süddeutschland leben, desto mehr prägt sie die Nachbarschaft zu Westeuropa und eine traditionelle Abneigung gegen den Osten
Zitierweise: Erich Röper: Die Mauer in westdeutschen Köpfen, in: Deutschland Archiv, 10.2.2015, Link: http://www.bpb.de/200452