Der Sport genoss in den Gesellschaften beider deutscher Staaten eine hohe Wertschätzung. Eine besondere Rolle spielte dabei der Fußball, der sowohl in der DDR als auch in der Bundesrepublik intensiv gefördert wurde und in beiden Staaten kollektive und regionale Identitäten hervorbrachte. Die Kenntnis und die Analyse der Funktionsmechanismen der deutschen Fußballklubs und ihrer Wahrnehmung in der Bevölkerung können zu einem besseren Verständnis der Gesellschaft in der Wendezeit beitragen. Ziel dieses Beitrags ist die Darstellung der Funktionsweise informeller Gruppen von Hertha- und Unionfans sowie ihrer Verbindungen untereinander vor dem Hintergrund der spezifischen politischen und sozialen Gegebenheiten vor und nach 1990.
Eine geteilte Fußballstadt
Im Fokus des Beitrags steht eine spezifische, traditionsreiche Fußballregion - Berlin. In der geteilten Stadt erregten besonders zwei Mannschaften große Aufmerksamkeit: Hertha BSC (Bundesliga) und der 1. FC Union Berlin (DDR-Oberliga). Hertha galt in ganz Berlin als ein Publikumsmagnet. Der 1. FC Union Berlin war ein bei den Staatsorganen der DDR unbeliebter Klub mit den meisten Anhängerinnen und Anhängern in Ost-Berlin. In der Hauptstadt der DDR rivalisierte Union um die Sympathie der Berlinerinnen und Berliner mit dem – von den DDR-Fans als "Stasi-Klub" und "Vorzeige-Klub" der SED- und Stasi-Funktionäre bezeichneten - BFC Dynamo, dessen prominentester Fan und Förderer der Chef des Ministeriums für Staatssicherheit Erich Mielke war. Im Gegensatz zu Dynamo und dem Armeesportklub Vorwärts Berlin, der seinen Sitz bis 1971 in Berlin und später in Frankfurt an der Oder hatte, galt Union als ziviler Verein und DDR-weit als Sammelbecken der Andersdenkenden. Das politische Konfliktpotenzial der Union-Fans gegenüber dem Staat beschreibt ein Satz des Redakteurs eines DDR-Satireblatts: "Nicht jeder Union-Fan ist ein Staatsfeind, aber jeder Staatsfeind ist ein Union-Fan".
Der westdeutsche Fußball weckte bei ostdeutschen Fans schon seit den 1950er Jahren Sympathien. Das Interesse der Anhänger in der DDR wuchs vor allem nach der Gründung der Bundesliga 1963, was teilweise auch mit der Verbreitung des Fernsehens verbunden war (das westdeutsche Fernsehen konnte fast im ganzen Land empfangen werden). In den 1970er Jahren sollte fast jeder DDR-Fußballfan eine Lieblingsmannschaft in der Bundesliga haben.
Freunde hinter Stacheldraht
Mitte der 1970er Jahre wurden erste persönliche Kontakte zwischen Vertreterinnen und Vertretern der jeweiligen Fan-Gruppierungen beider Vereine geknüpft. Ein Symbol der Verbundenheit waren die Sprechchöre und Gesänge für Hertha in Fan-Kurven im Stadion An der Alten Försterei.
Die Mitglieder der Fanklubs beider Mannschaften trugen die Schals, Mützen und Westen in den Farben des befreundeten Klubs, und auf den selbstgemachten Aufnähern standen Worte, die auch als eindeutig politische Deklarationen der Träger interpretiert werden können: "Freunde hinter Stacheldraht" oder "Hertha und Union - eine Nation"
Kontakte über die Mauer hinweg
Die Faszination der Union-Anhänger für den West-Klub wurde von den Hertha-Sympathisanten erwidert. Während der Partien von Hertha waren sehr oft Union-Fahnen und Spruchbänder mit der Parole "Hertha grüßt Eisern Union" zu sehen.
Um die Fanfreundschaft über die Mauer hinweg zu pflegen, versuchten die Fangruppen aus Ost und West persönliche Kontakte aufzubauen. Erste Kontakte ermöglichten die Europacup-Begegnungen von Hertha in der DDR oder in den Ostblockstaaten in den 1970er Jahren, zu denen auch Unionfans reisten.
Mit der Zeit entstanden in diesem Milieu über die Mauer hinweg persönliche Freundschaften, besonders mit den Vertretern des Fanklubs "Hertha-Frösche", der von den Medien als einer der gefährlichsten Hooligan-Gruppen in der Bundesrepublik bezeichnet wurde.
Die Freundschaft der Anhänger beider Mannschaften war im Fußballfan-Milieu beiderseits der Grenze bekannt. In ihre Fußstapfen versuchten auch Anhänger von anderen ost- und westdeutschen Vereinen zu treten: Sympathisantinnen und Sympathisanten von Chemie Leipzig hatten seit 1984 Kontakte mit Fans von Bundesliga-Klubs, und Anhänger von Hannover 96 initiierten 1989 Kontakte mit ostdeutschen Kollegen.
Mauerfall und Vereinigungsspiel
Zwei Tage nach dem Mauerfall spielte Hertha ein Zweitliga-Heimspiel gegen Wattenscheid 09. Die Fußballanhänger aus dem Osten nutzten die gewonnene Reisefreiheit und besuchten das Olympiastadion, um Hertha anzufeuern. Das Stadion füllten 55.000 Zuschauerinnen und Zuschauer anstelle der etwa 10.000, die normalerweise gekommen wären. Die Hertha-Verantwortlichen waren sich offensichtlich der Popularität von Hertha in Ost-Berlin nicht bewusst: Alle 10.000 Karten, die extra für die Bürgerinnen und Bürger der DDR frei zur Verfügung gestellt wurden, waren sehr schnell verteilt - nun galt der DDR-Reisepass als Ticket.
In dieser Zeit entstand die Idee, eine Freundschaftsbegegnung zwischen beiden Teams zu veranstalten, was aufgrund der Liga-Termine aber schwer zu realisieren war. Beide Seiten trafen sich erst Mitte Januar 1990 bei einem Winter-Hallenturnier, um den Union-Sieg im Finale gegen den verhassten BFC Dynamo zu feiern.
Der Bruch
Bald aber endete die gute Atmosphäre zwischen den Fangruppierungen beider Vereine. Zum Rückspiel, das am 12. August 1990 in der Alten Försterei veranstaltet wurde, kamen nur noch knapp 4000 Zuschauer.
Das System der wechselseitigen Verbindungen - Sympathien und auf Gegenseitigkeit beruhende Animositäten - gehört zu den charakteristischen Eigenschaften der Fankultur. Häufig ist es sehr schwer, die genaueren Gründe von negativen Verhältnissen zu klären, weil sie eine lange Tradition haben und sich heutzutage niemand an ihre Ursachen erinnern kann. In diesem Fall jedoch ist die Erklärung auf den ersten Blick einfach und überraschend: Laut den Autoren des Fanmagazins "Stadionwelt" wurde die ehemalige Freundschaft durch ein einzelnes Spruchband beendet.
Was blieb von der Freundschaft?
In den Saisons 2010/2011 und 2012/2013 spielten beide Vereine in der Zweiten Bundesliga. Diese Situation führte zu einer steigenden, sich voneinander abgrenzenden Rivalität zwischen den jeweiligen Fangruppierungen. Die Hertha-Fans benutzten den veränderten Union-Schlachtruf als Schimpfwort, wenn sie anstelle von "Eisern-Union!" "Scheiß-Union!" im Olympiastadion skandierten. Dagegen war in der Alten Försterei - in Anlehnung an die Hertha-Hymne von Frank Zander - zu hören: "Nur zu Hertha geh’n wir nicht!".
Die Berliner Rivalität ist aber auch ein Publikumsmagnet: Neben Bayern München und Borussia Dortmund kann nur Union als Gegner das Olympiastadion zur Gänze füllen.
Die Klubverantwortlichen versuchen auch, diese Situation zu beeinflussen. Einerseits organisieren sie Freundschaftsbegegnungen der Fans - wie beispielsweise bei der feierlichen Eröffnung der renovierten Alten Försterei im Jahr 2009, als die Union-Leitung die Funktionäre und Fans von Hertha einlud und ein Sommerspiel veranstaltete.
Zitierweise: Dariusz Wojtaszyn, Fußball verbindet? Hertha BSC (West-Berlin) und der 1. FC Union (Ost-Berlin) vor und nach 1990, in: Deutschland Archiv, 27.1.2015, Link: http://www.bpb.de/199829