Mehr als zwei Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung ist unklar, ob es in Deutschland eine, zwei oder noch mehr politische Kulturen gibt, weil die Sozialwissenschaft seit jeher dem Vergleich von Ost und West ihre Aufmerksamkeit schenkt, nicht aber politisch-kulturellen Disparitäten innerhalb beider Landesteile. Der Beitrag nimmt diesen Mangel zum Anlass, um subjektive Vorstellungen davon, was eine "gute" Demokratie auszeichnet, in den Bundesländern zu sondieren. Demnach stößt in allen Landesteilen das Ideal einer kompetitiven Demokratie auf hohen Zuspruch. Für Spannungen sorgt demgegenüber die Frage nach staatlicher und individueller Verantwortung. Die "Ost-West-These" greift jedoch nicht so recht.
Zwei politische Kulturen in einem Land?
Wer glaubt, ein Vierteljahrhundert des Zusammenlebens müsste Ressentiments zwischen Ost- und Westdeutschen abgetragen haben, den belehrte eine große Tageszeitung unlängst eines Besseren. Dort hieß es, "der" Osten Deutschlands wittere beim Blick auf "den" Westen "im Inneren eine verkommene und verlogene Gesellschaft, in der […] die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer würden. Eben genau so, wie es die Marxisten schon immer gesagt hatten. Das, was die westliche Gesellschaft ausmacht, Freiheit, Demokratie, Pluralismus, Marktwirtschaft, wird als bedrohlich oder wenigstens sehr anstrengend angesehen. […] Bei der Freiheit […] hat sich für die Ostdeutschen auch schnell gezeigt, dass sie zwar eine so schöne Seite wie Reisefreiheit bietet, aber eben auch Selbstverantwortung verlangt. Und erst die Demokratie mit ihrem zeitaufwendigen Ausgleich verschiedener Interessen! Dann der Pluralismus mit seinen Zumutungen. Und schließlich: Wer es mit der Marktwirtschaft ernst meint, sieht sich rasch als Neoliberaler verunglimpft. […] Es sind die alten Vorbehalte gegen eine Gesellschaft, die den Menschen nimmt, wie er ist".
Solch wutschnaubende Urteile, die kein gutes Haar an "den" Ostdeutschen lassen, mögen die Stimmungslage im Volk nicht abbilden - dennoch zementieren sie gegenseitiges Misstrauen, vergiften sie die politische Atmosphäre, untergraben sie den Dialog. Ein Teil der Sozialwissenschaft bestätigt unüberbrückbare Ost-West-Gegensätze bei den politikbezogenen Meinungen, Einstellungen und Werten. Dafür macht er in erster Linie die Hinterlassenschaft der früheren Teilung verantwortlich: Meinungsvielfalt, Freiheitsrechte und Wohlstand hier, sozialistische Bevormundung, Willkür und Mangelwirtschaft dort hätten tiefe Spuren in den Mentalitäten der Deutschen hinterlassen; ganz zu schweigen von den politischen und wirtschaftlichen Transformationsschwierigkeiten nach 1990. Mehr Zuspruch erhält jedoch die Position, die Verbindendes wie Trennendes anerkennt, wenngleich Forscher beides ganz unterschiedlich gewichten. Dass es aufgrund des gemeinsamen gesellschaftlichen Erfahrungshorizonts der letzten Jahre seit geraumer Zeit keine wesentlichen Spannungen zwischen Ost- und Westdeutschen gebe, ist ein Minderheitenstandpunkt. Das verbindende Element aller drei Auffassungen: Sie beruhen auf einem Ost-West-Vergleich.
Schwächen des Ost-West-Vergleichs
Woher rührt diese Uneinigkeit, wenn es um die deutsche politische Kultur geht? Dafür gibt es zwei Gründe: Zum einen fehlt es an objektiven Maßstäben, die angeben, wann ein Unterschied als relevant gilt. Deswegen entzünden sich an Prozentsatzdifferenzen hitzige Debatten. Um nur einen Aspekt politischer Kultur herauszugreifen: Deutet eine Diskrepanz von 8,5 Prozentpunkten bei der Verbreitung geschlossener rechtsextremer Weltbilder zwischen Ost und West auf eine tiefe Kluft, oder ist sie kaum der Erwähnung wert? Derartige Interpretationsspielräume nähren "politischen Zweckoptimismus beispielsweise Zweckpessimismus". Aus diesem Grund ist die Kontroverse um die "innere Einheit" der Bundesrepublik "bis heute […] geprägt von den politischen Positionen der Beteiligten“. Zeitungskommentare - wie der aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung - rufen dies von Zeit zu Zeit ins Gedächtnis.
Zum anderen unterstellt die Sozialwissenschaft seit geraumer Zeit, es gebe so etwas wie eine typisch ostdeutsche und eine typisch westdeutsche Sicht der Dinge. Um einen Eindruck von der "inneren Einheit" Deutschlands zu erhalten, wird daher seit 1989/1990 immer nur der politisch-kulturelle Abstand zwischen Ost und West vermessen, ohne deren innerer Verfasstheit auch nur einen Blick zu schenken. Das wäre allerdings wichtig, würden doch Friktionen innerhalb des Ostens und innerhalb des Westens die These "zweier politischer Kulturen" widerlegen.
Was fördert ein Ländervergleich normativer Demokratievorstellungen zutage? Dabei geht es im Kern um die Frage, was die Menschen unter einer "guten" politischen Ordnung innerhalb des demokratisch-konstitutionellen Rahmens verstehen. Hat die DDR-Vergangenheit die demokratischen Präferenzen der Menschen nachhaltig geformt? Weichen diese ab von der realen Demokratie in Deutschland? Gibt es überhaupt so etwas wie ein einheitliches ost- oder westdeutsches Muster? Der Beitrag will den Stand der "inneren Einheit" anhand eines grundlegenden politisch-kulturellen Aspekts vermessen, die Prägekraft der SED-Diktatur kursorisch beleuchten und mögliche Folgen für die Sozialwissenschaft ansprechen.
"Demokratie" ist nicht gleich "Demokratie"
In weiten Teilen der Welt hat sich im Laufe der letzten Jahrhunderte - trotz Rückschlägen und großer Ausnahmen wie China - die Überzeugung durchgesetzt, eine demokratische Herrschaftsordnung sei autokratischen Alternativen vorzuziehen: Demokratien - zumal in ihrer konstitutionellen Ausprägung - erlauben den Zugang zu Regierungsämtern ausschließlich über freie und faire Wahlen, begrenzen den Handlungsradius der Regierenden, garantieren den Bürgern politische Teilhabe- sowie grundlegende Menschenrechte und stellen die Verfassung des Gemeinwesens unter besonderen Schutz. Zudem entfalten Demokratien einen Leistungsvorteil gegenüber anderen Systemtypen, da sie für rechtliche Sicherheit und größere Planungshorizonte sorgt. Dies begünstigt Wohlstand, tendenziell auch soziale Gerechtigkeit.
Trotz dieses Wertefundaments ist Demokratie nicht gleich Demokratie: Grundsätzliche Unterschiede lassen sich daran erkennen, wie "das Spannungsverhältnis zwischen der Freiheit der Individuen und den Ansprüchen der Gemeinschaft" aufgelöst wird. Angesprochen sind damit zwei die demokratische Gesellschaftsordnung prägende Fragen: die nach dem richtigen Maß bürgerlicher Eigenverantwortung und die nach der rechten sozialen Verhaltensnorm: Libertäre Demokratien, durch ein wettbewerbs- wie leistungsorientiertes Gemeinschaftsethos gekennzeichnet, ziehen sich - wie die USA - weitgehend aus der individuellen Lebensgestaltung zurück. Der Bürger genießt ein Maximum an Planungs- und Handlungsfreiheit, darf im Umkehrschluss aber vom Staat kaum Hilfe erwarten. Von einer "Ellenbogengesellschaft" sprechen Kritiker, von Selbstbestimmtheit Fürsprecher.
Liberale Demokratien - wie etwa die Bundesrepublik - sind ebenfalls vom gesellschaftlichen Wettbewerbsgedanken getragen. Die von libertären Demokratien tolerierten Folgen sozialer und wirtschaftlicher Unterschiede wollen sie jedoch mildern, Chancengerechtigkeit stärken - erkennbar sind diese Mühen etwa an einer Zusammenarbeit des Staates, der Arbeitnehmer- und der Arbeitgeberorganisationen, einer aktiven Steuerpolitik und einem differenzierten öffentlichen Bildungssystem. Hilfe zur Selbsthilfe lautet die Maxime, ein selbstbestimmtes Leben aller Bürger das Ziel. Staatliche Eingriffe in die individuelle Lebensplanung und ‑gestaltung sind - trotz des Leistungsprinzips - daher unumgänglich.
Das sozialistische Demokratie-Ideal - dem wohl die skandinavischen Staaten am nächsten kommen - unterscheidet sich hiervon durch eine sehr viel weiter reichende Umverteilungspolitik. Da es nicht nur ein eigenständiges Leben, sondern auch soziale Gerechtigkeit garantieren will, unterliegt im Konfliktfall die Freiheit des Einzelnen dem Interessenausgleich der Gemeinschaft. Nicht das Leistungs-, sondern das Solidaritätsprinzip charakterisiert das Miteinander. Dieses Ethos wertet das Pflichtgefühl gegenüber der Gesellschaft höher als den Wunsch nach individueller Entfaltung. Ein expansiver Wohlfahrtsstaat ist ebenso charakteristisch für diese Form von Demokratie wie aktives soziales und politisches Engagement.
Der Solidaritätsgedanke ist das verbindende Element der sozialistischen und der republikanischen Demokratie. Anders als die erstgenannte ist letztgenannte allerdings nicht von einer paternalistischen Erwartungshaltung an "Vater Staat" getragen. Vielmehr liegt ihr das - weithin unerreichbare - Ideal des mündigen, selbstorganisierten und teilhabewilligen Citoyen zugrunde, der sich um seine Belange und die anderer Menschen aufopferungsvoll kümmert, anstatt von Regierungsbehörden Hilfe zu erwarten. Der "schlanke Staat" konzentriert sich auf seine Kernaufgaben: die Sicherung von Ruhe und Sicherheit im Inneren, Frieden nach außen. "Es gibt nichts Gutes, außer man tut es" könnte die Maxime dieses Demokratie-Ideals heißen, das aufgrund seiner hohen normativen Ansprüche an den Einzelnen und der institutionellen Voraussetzungen in modernen Flächenstaaten kaum umsetzbar ist.
Zwischen nationaler Einheit und regionaler Vielfalt
Wer sich für die aus Sicht der Menschen "beste" Demokratie interessiert, muss danach fragen, wie die Merkmale beurteilt werden, die charakteristisch für je einen der vier Typen sind. Vier Umfrage-Items aus der European Values Study (EVS) geben einen aussagekräftigen Einblick:
1) Zur Verantwortlichkeit für das eigene Lebensschicksal gibt es zwei gegensätzliche Auffassungen: "Der Staat sollte mehr Verantwortung dafür übernehmen, dass für jeden gesorgt ist" und "Der Einzelne sollte mehr Verantwortung für sein eigenes Schicksal übernehmen". Die Mehrheit der Deutschen favorisiert den Umfragen zufolge klar die letztgenannte Option. Dass das Prinzip "Jeder ist seines Glückes Schmied" allerorten dominiert, schließt Schwankungen zwischen den Ländern nicht aus. So kann sich in Thüringen fast jeder Zweite, in Bayern kaum jeder Zehnte für einen fürsorglichen Staat erwärmen. Von einem Ost-West-Gegensatz ist kaum zu sprechen: In Schleswig-Holstein sehnt sich ein ebenso hoher Gesellschaftsanteil nach staatlicher Verantwortung wie in vielen ostdeutschen Ländern, in Sachsen-Anhalt (die Ausnahme im Osten) sind es hingegen ähnlich wenige wie in Rheinland-Pfalz.
2) Mit der Rangfolge individueller Freiheit und gesellschaftlicher Gleichheit sind Demokratievorstellungen ebenfalls untrennbar verbunden: Libertäre und republikanische Demokratien gewichten die Handlungsautonomie des Einzelnen in jedem Falle höher als den Abbau sozialer Spannungen, bei liberalen und sozialistischen Demokratien ist es umgekehrt. Hier scheint sich der Gegensatz zwischen "alten" und "neuen Ländern" auf den ersten Blick zu bestätigen: Einem gleichheitsfokussierten Osten steht ein eher freiheitlich orientierter Westen gegenüber. Eine solche These übersieht jedoch, dass die Schleswig-Holsteiner gesellschaftliche Gleichheit ähnlich hoch bewerten wie die Ostdeutschen und dass sie deshalb gewissermaßen aus dem westdeutschen Muster "herausfallen".
3) Was das präferierte Gesellschaftsprinzip – Kooperation versus Konkurrenz - angeht, gibt es kaum Meinungsunterschiede zwischen den Ländern. Das Wettbewerbsdenken ist überall tief verwurzelt, weil es dazu animiere, härter zu arbeiten und neue Ideen zu entwickeln. Überraschenderweise gilt dies für den Westen wie für den Osten. Das Solidaritätsprinzip, das mancherorts (Bayern, Berlin und Rheinland-Pfalz) gar neun von zehn Menschen ablehnen, scheint in den "neuen" Ländern nicht wegen, sondern trotz der Indoktrinationsversuche der SED an Zuspruch verloren zu haben, denn gerade zu Beginn der 1990er Jahre gab es noch große Vorbehalte gegenüber der aus dem Westen importierten "Ellenbogengesellschaft". Der Stimmungswandel gibt Grund zur Annahme, die wirtschaftliche Transformation nach 1990 sei - aufs Ganze gesehen - doch nicht so schlecht verlaufen, wie einzelne Stimmen glauben machen wollen.
4) Die Distanz zu einem eher kooperativen Gemeinschaftsethos bestätigt die bundesweite Zustimmung zur Aussage, jeder "sollte sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmern und nicht zu sehr um die der anderen". Darin drückt sich eine grundsätzliche Reserve gegenüber einer großen solidarischen Gemeinschaft aus, deren Mitglieder ungeachtet ihrer Stellung füreinander eintreten, die niemanden "zurücklassen" und Interessenskonflikte einvernehmlich zu lösen versuchen. In Thüringen, Brandenburg und Niedersachsen ist das soziale Pflichtgefühl noch am stärksten ausgeprägt, in Sachsen-Anhalt, Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz am schwächsten. Einer Scheidelinie entlang der früheren deutsch-deutschen Grenze entspricht das nicht, zumal der größte Gegensatz innerhalb des Ostens (zwischen Thüringen und Sachsen-Anhalt liegt. Dieser Befund gibt Rätsel auf.
Tabelle 1: Einstellungen zu Eigenverantwortung und Solidarität in den Ländern (Zustimmung in Prozent)
| | "Der Staat sollte mehr Verantwortung dafür übernehmen, dass für jeden gesorgt ist." (EVS 2008) | "Mit Sicherheit sind Freiheit und Gleichheit wichtig. Aber wenn ich mich für eines von beiden entscheiden müsste, fände ich Gleichheit wichtiger, also dass niemand benachteiligt wird und soziale Unterschiede nicht zu stark werden." (EVS 2008) | "Wettbewerb ist gut. Er bringt Leute dazu, härter zu arbeiten und neue Ideen zu entwickeln." (EVS 2008) | "Jeder sollte sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmern und nicht zu sehr um die der anderen." (EVS 2008) |
"alte Länder" (inkl. Berlin) | Baden-Württemberg | 22,8 | 35,6 | 84,1 | 64,6 |
Bayern | 8,6 | 31,8 | 96,3 | 59,8 |
Berlin | 39,6 | 38,2 | 93,2 | 47,4 |
Hessen | 16,1 | 46,6 | 89,9 | 50,6 |
Niedersachsen | 20,0 | 36,8 | 89,2 | 45,6 |
Nordrhein-Westfalen | 16,9 | 39,1 | 87,8 | 58,0 |
Rheinland-Pfalz | 28,1 | 36,7 | 93,6 | 62,9 |
Schleswig-Holstein | 38,7 | 73,1 | 85,9 | 54,6 |
"neue Länder" | Brandenburg | 36,6 | 58,7 | 82,5 | 41,3 |
Mecklenburg-Vorpommern | 42,5 | 59,0 | 83,1 | 51,0 |
Sachsen | 36,7 | 62,1 | 82,0 | 53,9 |
Sachsen-Anhalt | 29,9 | 76,1 | 74,7 | 78,7 |
Thüringen | 48,9 | 75,4 | 86,3 | 33,3 |
Hamburg, Bremen und das Saarland wurden wegen geringer Fallzahlen nicht berücksichtigt.
Das Ideal: eine "kompetitive" Demokratie
Von diesen Fragen lässt sich auf den in den Ländern präferierten Demokratietyp schließen, wenn die Zustimmungswerte gemittelt werden. Demnach geht – trotz leiser Zwischentöne hier und dort - in allen Ländern der Wunsch in Richtung einer Demokratie, die das gesellschaftliche Miteinander kompetitiv, nicht kooperativ regelt. Dieses Meinungsbild bestätigt das in Deutschland implementierte Ordnungsmodell. Das ist aus zwei Gründen kein trivialer Befund: Erstens lässt die Regelmäßigkeit, in der die Politik ein "solidarisches Miteinander" verlangt und vor einer "Entsolidarisierung" warnt, vermuten, diese Forderungen beruhten auf gesellschaftlichen Wertemustern. Dem ist offenkundig nicht so. Tatsächlich scheint die Politik vor allem soziale Gleichheit zu meinen, spricht sie von Solidarität. Zweitens nimmt die Ähnlichkeit von Ost und West wunder – vor dem Hintergrund, dass das Wettbewerbsideal "westlicher Demokratie" in lediglich zwei Jahrzehnten überzeugen konnte (und das, obwohl es häufig für die ökonomischen Schwierigkeiten der Transformation verantwortlich gemacht wurde), das Solidaritätsprinzip jedoch zuvor über vier Dezennien dem Volk in jedem Lebensbereich aufgedrängt worden war.
Die Stimmungslage entspricht dem gesteigerten Bedürfnis nach Selbstentfaltung und Individualisierung ("postmaterialistische Wende"), das seit einigen Jahren in vielen westlichen Gesellschaften zu beobachten ist. Demnach haben die wirtschaftliche Stabilität, der gestiegene Lebensstandard und die soziale Sicherheit Prioritäten in den westlichen Gesellschaften verschoben: weg von Sicherheit, Ordnung und sozialem Halt (weil dafür gesorgt ist), hin zu Selbstverwirklichung und Teilhabe. Für derartige Bedürfnisse bietet die Demokratie die nötige Freiheit. Dass das in der DDR verordnete Solidaritätsprinzip an Attraktivität einbüßt, überrascht daher nicht. Im Westen kann es demgegenüber auf keine gewachsene Tradition verweisen. Eine leistungsorientierte "Wettbewerbskultur" gehört gleichsam zum Gründungskonsens der Bundesrepublik.
Demokratie als "Kümmerer" oder "Nachtwächter": regionale Meinungsgegensätze
Anders als bei der Gesellschaftsordnung entspricht das Meinungsbild bei der Verantwortung für den Einzelnen einem geografischen Muster. In Schleswig-Holstein sowie allen ostdeutschen Ländern macht sich immerhin die eine Hälfte der Bevölkerung für Chancengerechtigkeit im politischen und wirtschaftlichen Leben stark, die andere für Eigenverantwortlichkeit. In Verbindung mit dem Wettbewerbsdenken spricht dies für einen libertär-liberalen Einschlag der politischen Kultur. Eine Erklärung scheint - zumindest für den Osten - schnell gefunden: Aus dem "Willen zur Nivellierung" und dem "Glauben an die Allmacht des Dirigismus" in den "neuen" Ländern sprechen Denk- und Verhaltensstereotype, wie sie der real existierende Sozialismus nicht allein in der DDR, sondern im gesamten östlichen Europa über Jahrzehnte kultiviert hat. Das erklärt jedoch nicht, warum die Menschen zwischen Nord- und Ostsee ähnliche Vorstellungen haben wie die der "neuen" Länder und nicht wie jene aus den "alten".
In allen übrigen Ländern vereinigt das Ideal des eigenverantwortlichen Bürgers mehr Fürsprecher hinter sich (rund Dreiviertel der Bevölkerung) als ein paternalistischer Staat. Die libertäre Demokratie, die sich von der in Deutschland implementierten durch ein Mehr an individuellem Pflichtbewusstsein und einen "schlankeren" Staat abhebt, ist für viele am besten vorstellbar.
Tabelle 2: Präferierte Demokratiemodelle in den Ländern (in Prozent)
| | Verantwortlichkeit für das eigene Lebensschicksal (Staat) | Verhalten zu den anderen (Konkurrenz) | resultierender Demokratietyp |
"alte" Länder (inkl. Berlin) | Baden-Württemberg | 29,2 | 74,4 | libertär |
Bayern | 20,2 | 78,1 | libertär |
Berlin | 38,9 | 70,3 | libertär |
Hessen | 31,4 | 70,3 | libertär |
Niedersachsen | 28,4 | 67,4 | libertär |
Nordrhein-Westfalen | 28,0 | 72,9 | libertär |
Rheinland-Pfalz | 32,4 | 78,3 | libertär |
Schleswig-Holstein | 55,9 | 70,3 | libertär-liberal |
"neue" Länder | Brandenburg | 47,7 | 61,9 | libertär-liberal |
Mecklenburg-Vorpommern | 50,8 | 67,1 | libertär-liberal |
Sachsen | 49,4 | 68,0 | libertär-liberal |
Sachsen-Anhalt | 53,0 | 76,6 | libertär-liberal |
Thüringen | 62,2 | 59,8 | libertär-liberal |
Keine "zwei politischen Kulturen" - Folgen für Politik und Forschung
Ein Vierteljahrhundert, nachdem der Ruf "Wir sind das Volk" durch die Straßen in Plauen, Leipzig und vielen weiteren Städten der DDR hallte, um bessere Lebensbedingungen, politische Teilhabe- und bürgerliche Freiheitsrechte zu erreichen, und die staatliche Einheit noch nicht in der Luft lag, kann von einem politisch-kulturellen Ost-West-Gegensatz keine Rede (mehr) sein - zumindest mit Blick auf die Vorstellungen davon, was eine "gute" Demokratie ausmacht: Das Wettbewerbsideal spricht für "innere Einheit", die Frage nach der individuellen Verantwortung generiert eine Kluft, welche die Ost-West-These zwar unterstreicht, jedoch Ausnahmen (Schleswig-Holstein) erkennen lässt. Dass aus diesen Spannungen freilich eine Gefahr für die Stabilität der Bundesrepublik erwächst, ist zu bezweifeln, denn erstens heißt das "nur", Chancengerechtigkeit wird hier höher bewertet als dort, zweitens handelt es sich nur um eine Facette von Demokratie, drittens erlaubt es der deutsche Föderalismus, auf die politischen Präferenzen länderspezifisch einzugehen. Gleichwohl tut die politische Elite im Bund gut daran, die Mehrheit im Volk, die sich für einen "schlankeren" Staat einsetzt, nicht zu vernachlässigen. Aus demokratietheoretischer Sicht wäre es angeraten, die eine oder andere demoskopische Studie zur Kenntnis zu nehmen. Sie offenbaren nämlich, dass der gesellschaftliche Wunsch nach staatlicher Verantwortung nicht so groß ist, wie Medienberichte hin und wieder suggerieren. So beurteilten jüngst nur 34 bis 43 Prozent die "Agenda 2010" negativ. Dies entspricht der Größenordnung, in der das Volk Bedenken gegenüber individueller Verantwortung äußert.
Die Befunde geben dennoch Grund zur Gelassenheit: Mehr als zwei Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung scheint das Erbe des real existierenden Sozialismus in den Mentalitätsbeständen zu verblassen. Beim Gemeinschaftsethos lassen sich keine nennenswerten Unterschiede zwischen Ost und West mehr feststellen; bei der Verantwortung für den Einzelnen verlaufen Spannungen quer zur früheren innerdeutschen Grenze. Wenngleich dies nur eine Momentaufnahme einer politisch-kulturellen Facette sein mag, so handelt es sich doch um grundsätzliche Fragen des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Das Meinungsbild widerspricht dem Vorurteil, es gebe gegensätzliche politische Vorstellungen von "guter" Politik. Die Ursachen für die regionalen Unterschiede bei der politischen Kultur zu präzisieren, muss Aufgabe der Sozialwissenschaft sein. Hier besteht – das haben die Diskrepanzen bei den Demokratievorstellungen gezeigt - großer Nachholbedarf in der Wissenschaft, die der subnationalen Ebene jenseits von "Ost" und "West" zu lange aus dem Weg gegangen ist. Das 25-jährige Jubiläum der deutschen Einheit wäre ein geeigneter Anlass hierfür.
Zitierweise: Tom Mannewitz, 25 Jahre nach der Wiedervereinigung: Welche Demokratie wollen die Deutschen? In: Deutschland Archiv, 22.1.2015, Link: http://www.bpb.de/199207