Der ostdeutsche Wirtschaftsraum im Transformationsprozess wird im Rückblick oft mit einer rapiden Deindustrialisierung, mit Massenarbeitslosigkeit oder Treuhandskandalen verbunden. Viel wurde bereits über die Folgen einer starren sozialistischen Zentralplanverwaltungswirtschaft für die Konkurrenzfähigkeit der ostdeutschen Industrie vor und nach 1990 geschrieben. Neben zahlreichen anderen Defiziten wurde immer wieder auf bestehende Innovationsblockaden hingewiesen, die dazu führten, dass ostdeutsche Betriebe mit ihren Erzeugnissen gegenüber der innovationsfreudigen westdeutschen Industrie nur in seltenen Fällen bestehen konnten.
In dieser Perspektive gab es bislang keinen Platz für die Frage nach der Gestaltung von Produkten, der Bedeutung des Designs für die ostdeutsche Industrie und dem Anspruch der Gestalter an ihre eigenen Produkte. Forschungsarbeiten, die ostdeutsches Design in den größeren Kontext west-östlicher Auseinandersetzungen über den "richtigen" Weg in die Industriemoderne einordnen und dabei - über die Zäsur von 1989/1990 hinaus - Gestaltungsprozesse als Bestandteil von Wertschöpfungsprozessen im ostdeutschen Wirtschaftsraum untersuchen, sind entsprechend selten.
Anhand von Interviews mit ostdeutschen Industriedesignern sowie mit dem ehemaligen Leiter des Amtes für industrielle Formgestaltung (AIF), Martin Kelm, wird dieser Beitrag daher den Transformationsprozess des ostdeutschen Industriedesigns beleuchten und nach systemspezifischen Freiräumen sowie Begrenzungen für Entwurfsprozesse vor und nach 1990 fragen. Mit welchen Strategien und Lösungsansätzen haben sie auf den Umbruch des politischen und wirtschaftlichen Ordnungsrahmens 1989/1990 geantwortet? Waren sie Gewinner und/oder Verlierer in dieser Umbruchszeit? Damit soll das eingangs beschriebene Bild einer innovationsträgen Industrie keinesfalls durch ein neues Bild abgelöst werden. Es soll lediglich eine etwas differenziertere Sichtweise auf abweichende Erinnerungen von Industriedesignern zwischen kreativer Gestaltung und industriellem Produktionsalltag vorgestellt werden.
Gestaltungsanspruch und Gestaltungspraxis
Dieser Beitrag konzentriert sich auf die professionelle Gestaltung von Industriegütern. Mit dieser begrifflichen Eingrenzung wird gestalterisches Arbeiten in den Blick genommen, das in der DDR ganz überwiegend als "Gestalten für die Serie" verstanden wurde und sich auf Konsum- und Investitionsgüter, auf die Arbeitsumwelt und auf öffentliche Räume bezog.
"Die industrielle Formgestaltung hat zur Aufgabe, den Erzeugnissen neben allgemeinen Qualitätsmerkmalen eine notwendige ästhetische Qualität zu geben; sie ist auf die Steigerung funktioneller, technologischer, materialmäßiger und wirtschaftlicher Momente gerichtet."
Die "gute Form" auf Basis funktionaler Gestaltungsansätze der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zeichnete sich in diesem Verständnis durch Materialgerechtigkeit, Gebrauchstauglichkeit und ästhetische Qualität aus. Dauerhafte Produkte entwerfen, Ressourcen sparsam einsetzen und Verschwendung reduzieren ergänzte in einem ressourcenarmen Land den Kriterienkatalog für funktionales Gestalten, der nicht nur die offizielle Förderpolitik bestimmte, sondern im Gewand des Begriffes der "Materialökonomie" die Gestaltungspraxis im Land entscheidend beeinflusste.
Das Bestreben der staatlichen Designförderung galt der Integration der Formgestaltung in den Produktentwicklungsprozess, der Erhöhung der Akzeptanz in den Leitungsebenen der Industrie sowie dem Aufbau von Gestaltungseinrichtungen in den Betrieben. Eines der ersten Designateliers entstand schon 1960 in der Vereinigung Volkseigener Betriebe Eisen-, Blech- und Metallwaren (VVB EBM), gegründet von Erich John.
Das AIF gründete 1977 den VEB Produkt- und Umweltgestaltung (ab 1983 VEB Designprojekt Dresden) mit Ateliers in Halle, Gotha, Karl-Marx-Stadt, Berlin und Dresden, um als Designdienstleister vor allem Gestaltungsaufträge aus der bezirksgeleiteten Industrie ohne eigene Gestaltungsabteilungen abdecken zu können. Auf Grundlage einer eigenverantwortlichen Auftragsakquise und Mittelerwirtschaftung wurden Projekte von einem interdisziplinären Team aus Designern, Architekten, Ingenieuren und Psychologen bearbeitet. Sowohl der Mitarbeiter im Dresdner Atelier des AIF, Bernhard Sorg, als auch der Leiter der AIF-Abteilung Arbeitsumweltgestaltung in Dresden, Joachim Fuchs, sprachen rückblickend von hervorragenden Teams und ergebnisreicher Grundlagenforschung. Sorg nannte das Designprojekt eine "Nische"; "von den Arbeitsmöglichkeiten her (…) die absolute Spitzenstellung".
Die zentralistische Gestaltungspolitik des AIF wurde von manchen Designern kritisiert, von anderen aber auch als professionelle Unterstützung bei der konfliktreichen Etablierung von Design in den betrieblichen Entwicklungsalltag erlebt. So schrieb Peter Altmann, Gestalter im Industriezweig Schienenfahrzeuge, über die Verbesserung von Arbeitsbedingungen durch den Einsatz des AIF. Erst mit der wachsenden Erfahrung, dass durch die Einbindung gestalterischer Expertise die Produktqualität und Absatzfähigkeit von Produkten auf internationalen Märkten erhöht und gleichzeitig eine Verbesserung der "Materialökonomie" erzielt werden konnte, habe sich eine Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit den Formgestaltern entwickelt. Ähnliches berichtete Winfried Klemmt, der als Chefdesigner im VEB Werkzeugmaschinenkombinat "7. Oktober" arbeitete. Seines Erachtens schufen die Aktivitäten des AIF die Grundlage für die Etablierung einer eigenständigen Designabteilung im Kombinat und die Einbeziehung der Formgestaltung in den Prozess der Planung und Entwicklung von Maschinensystemen.
In den ökonomisch kriselnden 1980er Jahren zeichneten sich jedoch massive Widersprüche zwischen Gestaltungsanspruch und Gestaltungspraxis ab. Design galt trotz aller Förderbemühungen vielfach als betrieblicher Störfaktor, der die Erfüllung von Produktionsplänen bedrohte.
Hubert Kittel, Gestalter bei den Vereinigten Porzellanwerken Colditz, verurteilte überdies die zunehmende Anbiederung an westliche Moden aufgrund der politisch geforderten Erhöhung von Exportquoten in das westliche Ausland.
Industriedesign im Transformationsprozess
Mit dem ökonomischen und politischen Systemumbruch war ein massiver Wertverlust für funktionales Produktdesign ostdeutscher Herkunft verbunden. Gerade noch vorrangige Gestaltungskriterien wie Langlebigkeit oder Reparaturfähigkeit verloren angesichts der Dominanz und Attraktivität des westlichen Produktions- und Konsummodells rasant an Bedeutung. Der einst zentrale Bestimmungspunkt der "Materialökonomie" wurde durch neue Kriterien ersetzt.
Der ehemalige Staatssekretär Kelm arbeitete bis 1992 als Berater der Firma "mediadesign" und für die Kammer der Technik in den Themenbereichen "Design und Ökologie" sowie "Ökologisches Bauen". Mit der Einstellung von Fördermaßnahmen durch das Arbeitsamt musste er diese Tätigkeit beenden und erreichte nach kurzer Arbeitslosigkeit das Rentenalter.
Viele betriebliche Gestaltungsateliers verloren im Zuge des Wegbrechens ganzer Industriezweige ihre Arbeitsgrundlage. Eigene Gestaltungsabteilungen konnten sich die überwiegend kleinen und mittleren Unternehmen im ostdeutschen Wirtschaftsraum nach 1990 nicht mehr leisten. Nicht wenige ausgebildete Industrieformgestalter wendeten sich in dieser Zeit anderen Handlungsfeldern wie Grafikdesign, Modellbau oder Öffentlichkeitsarbeit zu. Einigen gelang es, als Gestalter die Transformation volkseigener Betriebe in Privatunternehmen zu begleiten. So arbeitete Klemmt bis 1996 als Formgestalter, Werbeleiter und Marketingchef für die NILES Werkzeugmaschinen GmbH Berlin, ehemaliger Stammbetrieb des Werkzeugmaschinenkombinates.
Positiv wurde von denjenigen bemerkt, die weiter im Industriedesign tätig waren, dass nun endlich Hürden beseitigt waren, die das kreative Entwickeln und Umsetzen neuer Produktideen bis 1990 immer wieder behindert hatten. Endlich konnten moderne Technologien und Materialien ohne Rücksicht auf Embargobestimmungen oder den Zwang zur Eigenentwicklung eingesetzt werden. Politische Repressionen und ideologische Schulungen waren Vergangenheit. Sorg sprach daher auch von den frühen 1990er Jahren als der "günstigsten Phase" seines Lebens:
"Das kann man sich heute nicht mehr vorstellen. Heute bist du schon wieder daran gewöhnt, dass überall einer ist, bei dem du was einreichen musst, oder der Ja oder Nein sagt. Du weißt eben ganz genau, wann du Fehler machst und wann du ein Gesetz übertrittst. Damals wussten wir das nicht. (…) Wirklich, wo du sagst, da gehst du raus in die Wildnis und da kannst du überleben oder da kannst du untergehen, aber du bewegst dich (…)."
Diese Zeit der Befreiung hieß jedoch auch, dass die in der Mehrzahl freiberuflichen Designer und Bürogemeinschaften nun in Konkurrenz zu etablierten westlichen Dienstleistern Aufträge akquirieren und diese unter größerem Zeitdruck im vereinbarten finanziellen Rahmen umsetzen mussten. Sorg beschrieb, wie noch Ende der 1980er Jahre die etwa 60 Designer des VEB Designprojekt in einem vom AIF organisierten und finanzierten Seminar eine Woche lang in kreativen Arbeitstechniken geschult wurden.
Fazit
2014 wurde der Designpreis der Bundesrepublik Deutschland erstmalig an einen ostdeutschen Gestalter verliehen. Karl Clauss Dietel erhielt diese prestigeträchtige Auszeichnung für sein Lebenswerk und erklärte in einem Radiointerview, dass mit dieser Anerkennung auch die vielen anderen ostdeutschen Gestalter gemeint sind, die "unter teilweise widrigen Bedingungen in der DDR" gearbeitet haben und die viele Jahre lang vergessen worden sind.
Zitierweise: Sylvia Wölfel, Die Gestaltung des Wandels: Ostdeutsches Industriedesign im Transformationsprozess, in: Deutschland Archiv, 16.1.2015, Link: http://www.bpb.de/198915