Ein dreifaches Abenteuer
Das Thema, auf das ich mich eingelassen habe, ist ein dreifaches Abenteuer: Wenn ich die Veranstalter richtig verstanden habe, soll ich erstens auf das Leben und den Alltag des Lebens mit der Mauer und die Erinnerung daran im Jubiläumsjahr des Mauerfalls ein besonderes Augenmerk richten; zweitens das Konzept der asymmetrisch verflochtenen, also irgendwie integrierten doppelten deutschen Nachkriegsgeschichte methodisch und exemplarisch genauer durchdeklinieren; und drittens schließlich muss das Ganze, wie es sich heutzutage gehört, in eine europäische Perspektive gestellt werden, denn das Ende der Mauer gehörte auch zum Anfang vom Ende des Ostblocks.
Also eine sehr ehrenvolle Herausforderung für einen Pensionär, der viel Zeit hat und im früheren Leben einige halbwegs einschlägige Beiträge zur west- und ost- und gesamtdeutschen Geschichte geschrieben hat. Sicherlich hängt nicht nur alles mit allem zusammen, sondern auch diese drei Teile auf besondere Weise. Mauer und Maueröffnung waren mehr als ein innerdeutsches Ereignis. Dass Deutschland-West und Deutschland-Ost nicht, wie in Europa viele hofften, ein Dauerzustand sein würden, hat kaum jemand noch geglaubt. Aber erst das abrupte Ende der DDR und der ebenso abrupte Sturz in die Einheit haben auch für Historiker die Frage nach integrativen Elementen der deutschen Nachkriegsgeschichte pointierter gestellt als zuvor. Ob und inwieweit das auch für Europa gilt, kann und muss zumindest erörtert werden.
Die Mauer, das Leben mit der Mauer und die Teilung
Der DDR-Kabarettist David Ensikat hat in seinem Lexikon "Populäre DDR-Irrtümer" eine bissige Anmerkung zur Farbe Grau formuliert, die ja auch mit der Mauer zu tun hat und in der Westwahrnehmung fast die einzige, zumindest die dominierende DDR-Farbe war. Ich zitiere Ensikat: "In kaum einem Bericht über die DDR, sofern er nicht von der DDR selbst produziert war, fehlte das Wörtchen grau. Grau war der Himmel über uns, grau die Städte und Dörfer. Grau waren bei uns schon die Kinder in ihren grauen Pionierhalstüchern. Die ganze DDR war ein einziges Grau-in-Grau. Nachdem ich im Frühjahr 1990 mit einem "Zeit"-Redakteur bei strahlendem Sonnenschein durch den grünen Park vor meinem Hause spazieren gegangen war, konnte ich dann in seinem Artikel über diesen Spaziergang lesen, wie er mit mir durch das trostlose Grau meiner Umgebung gelaufen sei, dass ihm selbst die Natur hier trostlos erschienen wäre. Er war, das kannten wir von vielen Besuchern aus dem Westen, mit seinem grauen DDR-Bild bei mir angekommen und wieder abgereist. Es stimmt ja, so schön bunt wie die Reklamewelt der Bundesrepublik war bei uns nichts. Aber die Bäume waren doch nicht weniger grün und nicht mal so viel kranker als die im Westen. Dass die Gesichter der DDR-Bürger im Frühling nicht diese gesunde Solar-Bräunung vieler West-Gesichter hatten, stimmt wiederum. Unsicher ist inzwischen, was gesünder ist – die natürliche Blässe oder die nicht ganz so natürliche Bräunung." Das muss nicht kommentiert werden.
Zeit für Zwischentöne
Für die historische Analyse ist die Farbe Grau aber noch auf andere Weise wichtig. In der DDR gab es zwischen schwarz und weiß viele graue Zwischentöne, ohne die Gesellschaft und Alltag nicht zu verstehen sind. Schlichte Weltbilder sind bequem, weil sie ja nicht einfach falsch sind. Die DDR als totalitäre SED-Diktatur lautstark anzuprangern und damit gleichzeitig den ominösen Weichspülern und Schönfärbern der neuen und alten DDR-Forschung eins auszuwischen, wie das der Berliner Forschungsverbund tat und gelegentlich immer noch tut, ist viel einfacher als eine differenzierte Sicht, die keineswegs auf nachträgliche Selbstkritik verzichtet, aber eben auch sperrige und erfahrungsgeschichtlich skandalös erscheinende Befunde einbeziehen will. Nur so hat man aber meines Erachtens auch Chancen, beispielsweise über die politische Bildung diejenigen zu erreichen, die sich einer zeithistorischen Aufklärung mehr oder minder verweigern. Mit Verharmlosung hat das wenig zu tun. Hier setzen auch die Überlegungen zu einer integrierten Nachkriegsgeschichte an.
Auch die Mauer war grau, zumindest auf ihrer Ostseite, zudem war sie brutal. Die Mauer ist Symbol für vieles, was integral zur DDR-Geschichte gehört: die vollständige Teilung Berlins und der beiden Hälften Deutschlands, die Diktatur der Grenze, zerrissene Familien, gebrochene Biografien, der Schießbefehl, den es angeblich nicht gab, Erschossene, Verblutete, Ertrunkene, Verhaftete, Freigekaufte - aber zeitweilig auch: Hoffnung der Linientreuen oder Sympathisierenden und späten Idealisten, den Sozialismus nun ohne Einwirkung von außen aufbauen zu können, wenn man einmal vom absurden Etikett "antifaschistischer Schutzwall" absieht. Ein Monstrum mitten in Europa, über dessen historische Existenz künftige Generationen wahrscheinlich nur noch den Kopf schütteln können, weil schwer verständlich erscheint, wie so etwas möglich war. Vor 1989 war sie viele Jahre Pflichtprogramm für Schüler und Touristenattraktion, nach dem 9. November 1989 dann unerschöpfliche Quelle der Mauerspechte und Souvenirjäger aller Länder. Einen "Dialog durch die Mauer", wie Otto Reinhold die Geschichte des SED/SPD-Papiers von 1987 charakterisiert hat oder auch Historikerkontakte, an denen ich mehrfach beteiligt war, gab es, aber sie waren sehr mühsam.
Die Mauer gibt es nicht mehr, bis auf wenige mehr oder minder konservierte Überreste – einer davon steht in meinem Dorf Groß Glienicke, ist jetzt aber als Denkmal hergerichtet. Museen und Gedenkstätten erinnern daran, ein Bildband zeigt sogar die Reste der Mauer in 125 Orten in zahlreichen Ländern der Welt. Ansonsten hat sich die Mauer zum prominenten Erinnerungsort aus der DDR verflüchtigt. Viel lässt sich über das Leben mit der Mauer sagen. Das notgedrungene oder auch gedankenlose Arrangement mit der Mauer, die anfänglichen Versuche, sich dagegen aufzulehnen, später sie politisch durchlässig zu machen, aber auch die mentalen sowie innen- und außenpolitischen Folgen dieser "Diktatur der Grenze" sind ein komplexes Thema mit vielen Facetten, die es noch zu erforschen gilt.
Roland Jahn, heute der Bundesbeauftragte für die Stasiunterlagen (BStU), hat dazu eine sehr aufschlussreiche und ehrliche persönliche Bemerkung in seinen jüngst erschienenen Erinnerungen "Wir Angepassten. Überleben in der DDR" gemacht. Er sah zwar schon früh, dass es zwei Wahrheiten gab: eine aus dem Westfernsehen und eine andere, die im Alltag mit FDJ-Hemd verlangt wurde. Die kleinen Dinge aber waren es, gegen die Jahn und seine Freunde sich als Jugendliche auflehnten, zum Beispiel, dass sie ihre Haare nicht lang tragen durften. O-Ton Jahn: "Wenn ich mich nach all den Jahren heute an diese Episode erinnere, kann ich mir nicht mehr vorstellen, wie absurd das Ganze war. Da kämpften wir für das Recht auf lange Haare, und ich fand den Anblick der Grenze nicht weiter erwähnenswert. Nicht mal einen Moment des Zorns oder einen Gedanken des Protests gegen die Mauer habe ich damals empfunden." Diese Stimme aus der Erinnerung eines unverdächtigen Zeugen gehört wie viele andere bittere, traurige, schrille, lächerliche oder zynische Stimmen zur Geschichte dieser Mauer, die neben dem 17. Juni 1953 zu den besterforschten und -dokumentierten Themen der DDR-Geschichte zu rechnen ist.
Gewöhnung an die Mauer
Die Mauer hatte aber auch eine westdeutsche Seite. Sie beendete abrupt den Zustrom kostenlos ausgebildeter Arbeitskräfte und forcierte die Anwerbung von Ausländern mit erheblichen gesellschaftlichen Folgen. Sie blockierte die innerdeutsche Kommunikation und beförderte den Rückzug der Westdeutschen auf ihre solide erbaute und formidable Doppelhaushälfte. Vielleicht förderte sie deshalb indirekt auch die Reformbereitschaft und den Demokratisierungsdrang einer selbstzufriedenen Gesellschaft, angestoßen von einer unruhig gewordenen jungen Generation.
Zur Mauergeschichte gehört für mich aber aus der Rückschau auch die besonders erschreckende Erfahrung, die sich auf die SED-Diktatur insgesamt erstreckt: eine fatale oder auch triviale Gewöhnung an dieses monströse Bauwerk auf beiden Seiten. Die politische Phantasie reichte nicht aus, um sich den Fall und die rasante Pulverisierung der Mauer vorzustellen. Denn seien wir ehrlich – niemand hat 1989 die Öffnung der Mauer und das schnelle Ende der DDR erwartet. Aber es hat sich 1961 auch niemand vorstellen können oder wollen, dass so etwas wie diese Mauer mitten in Berlin und später die mit deutscher Gründlichkeit perfektionierten Sperranlagen durch ganz Deutschland in dieser Form realisierbar waren und so lange existieren würden.
Ich habe im Herbst 2004 in Panmunjom die Grenze zwischen Nord- und Südkorea besuchen können. So makaber dieses Relikt eines heißen Krieges ist und so absolut die Trennung entlang des 38. Breitengrades zwischen beiden koreanischen Landesteilen bis heute ausfällt - im Vergleich zu Berlin schien mir die Grenze zumindest optisch weniger brutal, weil sie eben nicht mitten durch eine Großstadt verläuft. Ein Mitarbeiter aus unserer Gruppe sagte damals: Man stelle sich vor, es hätte Westberlin nicht gegeben, wie anders hätte sich die deutsche Nachkriegsgeschichte wohl entwickelt!
Eigendynamik der Mauer
Die Mauer war aber, so paradox das zunächst erscheint, auch Ausgangspunkt eines neuen politischen Konzepts, das für Deutschland und Europa erhebliche Auswirkungen, gewollte und ungewollte, haben sollte. Egon Bahr formulierte mit "Wandel durch Annäherung" den Ansatz der Brandtschen Ost- und Deutschlandpolitik. Das muss an dieser Stelle nicht näher erörtert werden und scheint mir heute, anders als zeitgenössisch, weitgehend Konsens zu sein. Sie war erfolgreich, auch wenn längst nicht alle Blütenträume reiften. Sie produzierte aber ungewollt auch ein gravierendes Problem. Wenn die Brandtsche Deutschlandpolitik zumindest auch eine nationale Motivation hatte, so wurde sie im Laufe der Jahre in eine andere Richtung gedrängt. Sie entwickelte eine Eigendynamik, die nicht mehr ohne weiteres zu bremsen war. Oskar Lafontaine und eine jüngere Wählergeneration in der Bundesrepublik verkörperten diese Position. Man kann sie mit Karl Dietrich Bracher auch als Option für eine "postnationale Demokratie unter Nationalstaaten" charakterisieren. Solche Überzeugungen waren in der Bundesrepublik durchaus verbreitet, weil man dort davon ausging, dass ein vereintes Deutschland in der Mitte Europas für alle Nachbarn unverträglich sei. Nicht nur Günter Grass, sondern auch viele Historiker haben gerade dieses (durchaus plausible) Argument in politisch bester Absicht immer wieder vorgebracht. Der Begriff Eigendynamik soll einen komplexen Vorgang kennzeichnen, bei dem sich ursprüngliche Intention und langfristige Folgen erheblich auseinanderentwickeln.
Die Eigendynamik der von der Entspannungs- und neuen Ostpolitik ausgehenden Entwicklung zur Zweistaatlichkeit war ja auch nicht per se falsch. Sie hatte eine Veränderung der DDR und die Verträglichkeit Deutschlands in Europa zum Ziel. Es gab nun nicht mehr das alte Junktim zwischen Wiedervereinigung und Entspannung beziehungsweise Abrüstung. Damit wurde die Zweistaatlichkeit für die meisten Europäer eine schöne Selbstverständlichkeit, die den Nachbarn die Angst vor einer erneuten deutschen Übermacht nahm. "Ich liebe Deutschland so sehr, dass ich mich freue, dass es zwei Deutschlands gibt" - dieser Satz wird sowohl einem französischen als auch einem italienischen Intellektuellen zugeschrieben. Hinter der Ironie steckte tiefe Zufriedenheit.
Eine gewisse Eigendynamik prägte auch das Credo der Entspannungspolitiker im Westen (keineswegs nur in der Bundesrepublik), die schließlich vorrangig nur noch an Systemstabilität interessiert waren und nicht mehr die prinzipiellen Veränderungen wahrnahmen, welche die Dissidenten in Mittelosteuropa und der DDR einforderten und sich dafür prügeln ließen. Die Eigendynamik galt aber konträr dazu in anderer Form auch im Osten, besonders in der DDR, weil die mit der Anerkennung des Status quo verbundenen Ost-West-Kontakte und Entspannungstrends das scheinbar so feste Gebäude poststalinistischer Herrschaft mit einer gewissen Zwangsläufigkeit destabilisierten. Die Entspannung enthielt somit unbeabsichtigt ein subversives Element, ohne das ein Ende der DDR schwer möglich gewesen wäre. Darauf versucht auch das Konzept der asymmetrischen Verflechtung einzugehen.
Abgrenzung und Verflechtung - Aspekte und Zugänge zu einer integrierten Nachkriegsgeschichte
Unser Blick auf die deutsche Nachkriegsgeschichte hat sich durch die Wiedervereinigung erheblich verändert. Andere Schwerpunkte werden gesetzt, alte und neue Fragen werden jetzt sowohl an die getrennte als auch an die gemeinsame Geschichte gestellt. Daraus ergeben sich praktische Konsequenzen für Schulbücher, die politische Bildung, aber auch für die wissenschaftliche Historiografie. Die Trennung oder reine Parallelisierung von west- und ostdeutscher Geschichte in alter Form ist nicht mehr möglich, das scheint mittlerweile Konsens. Aber auch eine bloße Dichotomie von west- und ostdeutscher Geschichte als Erfolgs- und Misserfolgsgeschichte sollte - nicht nur aus meiner Sicht - vermieden werden, obwohl diese Dichotomie in Grenzen ja evident ist und etwa im fünften Band von Hans-Ulrich Wehlers "Deutscher Gesellschaftsgeschichte" ein furioses Plädoyer gefunden hat, verbunden mit einer heftigen Polemik gegen das "Intermezzo der ostdeutschen Satrapie". Die Konzeption einer wie auch immer integrierten Geschichte darf aber keinesfalls die prinzipiellen Unterschiede zwischen Demokratie und Diktatur und die notwendigen Wertungen verwischen, worauf unter anderem Horst Möller mehrfach warnend hingewiesen hat. Und das tut sie auch nicht, anders als das früher oft bei den populären Systemvergleichen der Fall war. Dass ich als einer unter mehreren für ein integriertes Projekt plädiert habe, finden mittlerweile fast alle richtig. Das tut mir gut, aber wie eine neue Darstellung genau aussehen kann und soll, hat bislang über Ansätze in Sammelbänden hinaus noch niemand umfassender ausgelotet. Es ist leider auch ziemlich vertrackt.
Ungeteilte Nationalgeschichten oder kontrastive Parallelen
Peter Bender, einer der frühesten publizistischen Protagonisten der Entspannung und der politischen Anerkennung der DDR, gehörte zu denen, die die Frage der Einheit der Nation jenseits von Sonntagsreden immer umgetrieben haben. Sein letztes Buch "Deutschlands Wiederkehr" zielt auf eine ungeteilte Nachkriegsgeschichte. Der abschließende Satz des Buches lautet: "Wir haben Glück gehabt." Gemeint ist damit, dass die Chance zur Vereinigung in einem Moment kam, als das sowjetische Imperium an innerer Schwäche auseinanderfiel und die Nation trotz 40-jähriger Teilung noch so viel innere Kraft besaß, um schnell wiederhergestellt zu werden. Wie die Deutschen-Ost und Deutschen-West mit der gleichen Vergangenheit und ihrem 1945 "gebrochenen Kreuz" gegeneinander standen, wie sie sich (in der Phase der Entspannung) zueinander wandten, in vieler Hinsicht nebeneinander lebten und sich schließlich miteinander vereinigten - das sind die Kapitelüberschriften und Leitlinien der Darstellung in den verschiedenen Etappen. So pointiert das präsentiert wird und so überzeugend sich das liest - es bleibt im Kern bei einer politischen Geschichte und einer Gegenüberstellung der kontrastiven Parallelen in West und Ost.
Es gibt verschiedene andere Versuche, das Problem in Gesamtdarstellungen anzusprechen. Ich nenne hier nur die Namen von Peter Graf Kielmansegg, Eckart Conze und - ohne explizite Erörterung - Ulrich Herbert. Am weitesten vorangekommen sind die Erörterungen von Konrad Jarausch in seinem auf unseren gemeinsamen Überlegungen beruhenden Aufsatz im ersten Heft 2004 der "Zeithistorischen Forschungen" mit dem Titel "Die Teile als Ganzes erkennen".
Asymmetrisch verflochten
Ich geniere mich etwas, das mir zugeschriebene Wortungetüm der "asymmetrisch verflochtenen Parallelgeschichte" noch einmal aufzudröseln und zu erläutern, aber es muss zumindest in rudimentärer Form sein, weil sonst das Andere nicht verständlich wird.
Ich war keineswegs ein großer Patriot, der immer tapfer an die Wiedervereinigung geglaubt und historiografisch dafür gestritten hat. Eine verdeckte Nationalgeschichte, die die über 40-jährige Teilung gewissermaßen als unnatürliche Zwischenphase charakterisiert, war und ist nicht mein Zugang. Aber erst aus der Beschäftigung mit beiden Teilen Deutschlands resultierte das eigentlich Interessante, nämlich das spezifische Profil einer deutschen Nachkriegsgeschichte, die nicht mehr in der Trennung aufgeht, aber auch nicht umstandslos eine ungeteilte Geschichte sein soll und kann, wie das Peter Bender in seinem letzten Buch versucht hat. Denn erst dieser doppelte Blick machte Zusammenhänge und Wechselwirkungen erkennbar, die sonst verborgen oder blass blieben. Sich mit beiden Teilen zusammen zu beschäftigen, war vor 1989 in der Wissenschaft ziemlich unüblich, in der DDR sowieso, aber auch in der Bundesrepublik. Auch das vom damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl initiierte Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in Bonn sollte ja ursprünglich, wie der Name sagte, nur den westlichen Teil musealisieren, erst nach 1990 wurde der Zusatz stillschweigend fallengelassen und die DDR-Geschichte schamhaft eingefügt. Die Einordnung der beiden Hälften in übergeordnete Entwicklungen und Bezugsfelder, die die Basis unseres Modells ausmachen, erscheint mir vergleichsweise einfach. Schwierig und nur in Grenzen sinnvoll ist dagegen eine gemeinsame Gliederung und Periodisierung, die beide Staaten und Gesellschaften umfasst. Systematik und Chronologie lassen sich somit nur in bestimmten Grenzen miteinander harmonisieren. Die deutsche Geschichte nach 1945 lässt sich durch drei Bezugsfelder charakterisieren: Erstens die Besatzungsmächte und die Beziehungen der Deutschen zu ihnen, zweitens die jeweils relativ eigenständige innere Entwicklung von Demokratie (Bundesrepublik) und Diktatur (DDR), und drittens schließlich als besonders komplizierter Teil die besonderen Formen deutsch-deutscher Verflechtung, die unterschiedlich intensiv in verschiedenen Phasen ausfielen, aber immer asymmetrisch waren.
Diese drei Felder (Außenbeziehungen, endogene innere Entwicklung, "dialektische" Verflechtung) lassen sich durchgehend als tragende Elemente in der Architektur einer deutschen Nachkriegsgeschichte verstehen. Das Mischungsverhältnis dieser drei zentralen Determinanten war aber unterschiedlich. So waren die Besatzungsmächte nur in den Anfängen ausschlaggebend. Auch die Verflechtung fiel in den einzelnen Phasen sehr unterschiedlich aus, sie spielte aber stets eine wichtige Rolle. Das schwierige konzeptionelle Problem bleibt, die Entwicklungsphasen und Profile beider Staaten und Gesellschaften in dieses Gerüst einzubauen. Eine befriedigende Darstellung deutscher Nachkriegsgeschichte müsste somit diese drei Bezugsfelder berücksichtigen und integrieren, ohne sie stets gleichgewichtig zu behandeln.
Periodisierungen
Unsere Historiografie ist, wenn sie über dürre Chronologie hinausgeht, hochgradig von subjektiven Konstruktionen geprägt. Periodisierungen und Phasenbildungen sind solche Konstruktionen, die aber plausibel begründet werden müssen. In unserem Potsdamer Modell haben wir verschiedene Phasen und Stufen unterschieden, in die sich die ost- und die westdeutsche Entwicklung sinnvoll und harmonisch einbauen lassen. Das ist als grober Rahmen zu verstehen, der keine inhaltlich genauen Leitlinien vorgibt. Dieses Modell von mehreren Stufen und zeitlichen Sequenzen sei hier noch einmal ganz knapp und verkürzt in vier Themenbereichen genannt:
Unstrittiger Ausgangspunkt der doppelten Nachkriegsgeschichte ist das Jahr 1945 als Endpunkt der deutschen Katastrophe und als Chance zum Neubeginn. Diese Chance wurde unterschiedlich interpretiert, aber sie war unzweifelhaft eine prägende Gemeinsamkeit in Ost und West. Die europäische Dimension des Weltkrieges und seiner Folgen wird 1945 ebenfalls sichtbar: Viele deutsche Probleme waren zugleich europäische (Zerstörung, Zwangsmigration, Kampf ums Überleben, Orientierungslosigkeit und so fort). Auch andere europäische Staaten hatten zeitlich verzögert ihre Probleme einer "Vergangenheitsbewältigung", aber die deutsche Entwicklung wurde besonders intensiv von der Erinnerung an den Nationalsozialismus (oder auch dem Fehlen einer solchen Erinnerung) überschattet.
Der seit der bolschewistischen Revolution von 1917 entstandene Ost-West-Konflikt wird in seiner zugespitzten Form des Kalten Krieges erst seit 1947/48 zur bestimmenden Determinante der europäischen Entwicklung und der Teilung Deutschlands. Ich unterscheide also, anders als die Umgangssprache, begrifflich und inhaltlich Ost-West-Konflikt und Kalten Krieg. Niemand hat die Teilung, wie sie mit der doppelten Staatsgründung 1949 initiiert wurde, gewollt, aber keine der alliierten Besatzungsmächte hat sie aktiv und nachdrücklich verhindert.
Mit dem offenen Kalten Krieg und der beginnenden Teilung wurde seit 1947/49 deutsche Nachkriegsgeschichte zur Kontrastgeschichte der sowjetsozialistischen DDR-Diktatur und der liberalkapitalistischen demokratischen Bundesrepublik unter der rigiden oder lockeren Aufsicht der Besatzungsmächte. Die Teilung in zwei Staaten und entgegengesetzte politische Systeme innerhalb der beiden Blöcke entwickelte zunehmend eine Eigendynamik, die partiell auch akzeptiert und gewollt wurde. Die Erweiterung der Handlungsspielräume machte in beiden Teilen unterschiedliche Fortschritte. Der Kalte Krieg als ideologisch, ökonomisch und militärisch besonders scharfe Form des Ost-West-Konflikts und Formen der Entspannung verliefen in sich ablösenden, wellenförmigen Phasen, wie Bernd Stöver in seiner Gesamtdarstellung betont hat. Aber erst das atomare Patt und die wechselseitige Bereitschaft der Supermächte, dieses Patt zu akzeptieren, waren nach der Lösung der Kubakrise von 1962 die wichtigste Voraussetzung einer nachhaltigen Entspannung, aus der Ansätze einer neuen Politik erwuchsen. Der Politologe Werner Link hat im atomaren Arrangement der Supermächte das Ende des Kalten Krieges (nicht des Ost-West-Konflikts) gesehen. Osteuropa- und Deutschlandspezialisten konstatierten damals bereits erste Risse im sowjetischen Block.
Die primär aus dem Kalten Krieg resultierende Kontrastgeschichte hat verdeckt, dass neben den Faktoren der Abgrenzung auch direkte und indirekte Formen der asymmetrischen Verflechtung die deutsche Nachkriegsgeschichte in allen Phasen bestimmt haben und ihr ein besonderes Profil gaben. Damit ist eine Sondersituation im Nachkriegseuropa gemeint, die deutlich über das Verhältnis von West- und Osteuropa hinausweist und deren Problematisierung und Reflexion eines der wichtigsten Elemente der Neukonzeption ausmachen. Dazu lassen sich im Zuge der vorsichtigen Normalisierung der innerdeutschen Beziehungen seit den 1970er Jahren zunehmend auch systemübergreifende Problemlagen fortgeschrittener Industriegesellschaften rechnen. Diese betrafen bildungspolitische, kulturelle, wirtschaftliche, ökologische und andere Fragen ebenso wie die Bedrohungsszenarien durch die atomare Hochrüstung der Supermächte und gesellschaftliche Reaktionen darauf in den Friedensbewegungen in beiden Staaten. Zumindest nachträglich sind aber auch die inneren Erosionserscheinungen in der DDR deutlich zu erkennen. Die wachsende Misserfolgsgeschichte der DDR und des Ostblocks im Wettlauf um technologische Innovation wurde unübersehbar, wenngleich daraus niemand den schnellen Untergang der DDR prognostizierte.
Auch im Westen gab es massive Krisenerscheinungen: Massenarbeitslosigkeit, Stagflation, Überlastung der Sozialsysteme – Kohl war als Kanzler 1989 am Ende und wurde wohl nur durch das Ende der DDR und die Einheit auf rasante Weise gerettet. Gleichwohl sind die Erosionserscheinungen im Westen nicht wirklich vergleichbar mit denen in der DDR.
Auf der Basis akzeptierter Teilung gab es deutliche Trends der Wiederannäherung und gesteigerter wechselseitiger Kommunikation. Einige Stichworte sind: das Berlin-Abkommen, verbesserte Reisemöglichkeiten, Akkreditierung von Journalisten, Städtepartnerschaften, Schulklassenfahrten in die DDR, wissenschaftliche Konferenzen. Vieles kommt einem heute trivial oder selbstverständlich vor. Dem war aber nicht so. Offensichtlich ist jedoch, dass mit der Entspannung in doppelter Weise jene Eigendynamik freigesetzt wurde, die ich anfangs erläutert habe. Zwar thematisierte die politische Klasse im Westen in den 1980er Jahren wieder nachdrücklicher die nationale Frage, die im Osten offiziell völlig tabu war.
Aber in diese Zeit gehören auch Beispiele für peinliche Anbiederung, Verharmlosung, selektive Wahrnehmung, schiefe Systemvergleiche. Post festum sind solche Erscheinungen harsch und mit großen Portionen von Rechthaberei kritisiert worden. Um einen angemessenen Rahmen der Kritik zu finden, ist aber eine möglichst genaue und komplexe Kontextualisierung all dieser Phänomene, die uns nun oft unverständlich erscheinen, nötig. Daran hapert es häufig bis heute.
Soweit also die drei durchgehenden Bezugsfelder und Determinanten sowie einige inhaltliche Stufen, in denen mit unterschiedlicher Gewichtung Verflechtungen analysiert werden können.
Ausgewählte Beispiele der asymmetrischen Verflechtung und offene Fragen
In der DDR-Geschichte ist die Präsenz des Westens im Osten für jeden, der sich mit DDR-Geschichte befasst, evident. Das muss hier nicht ausgeführt werden. Nur einige Beispiele: Die DDR verstand sich anfangs auch als Kernstaat eines einheitlichen Deutschlands, sie sollte das bessere Modell und Gegenstück zur bürgerlichen und reaktionären Gesellschaft in Westdeutschland sein – ein Anspruch, der in den Anfangsjahren keineswegs völlig ohne Attraktion blieb. Der Antifaschismus als Gründungsmythos und Kernlegitimation gehört in diesen Kontext. Nicht nur der V. Parteitag der SED 1958 mit der vollmundigen Parole "Einholen und Überholen" der Bundesrepublik, auch die Wirtschaftsreformen der 1960er Jahre bezogen sich explizit auf den Systemwettbewerb. In der Direktive des "Neuen Ökonomischen Systems" von 1963 wurde als Ziel formuliert, "die Überlegenheit unserer sozialistischen Ordnung gegenüber dem kapitalistischen System in Westdeutschland auch auf ökonomischem Gebiet zu beweisen". Macht man einen zeitlichen Sprung, so ist fraglich, ob 20 Jahre später die DDR ohne die vom Klassenfeind, das heißt in diesem Fall der damalige bayrische Ministerpräsident und CSU-Vorsitzende Franz Josef Strauss, 1983/84 vermittelten Milliardenkredite die Zahlungsunfähigkeit überlebt hätte.
Zu den vielleicht wichtigsten sichtbaren und wirksamen Verflechtungen gehört in jüngster Zeit die offizielle Präsenz der westdeutschen Medien in der DDR seit dem Grundlagenvertrag. Gerade die eindrucksvollen Bilder von den verschiedenen Schauplätzen der friedlichen Revolution in diesem Jahr, die allerdings auch zeigen, dass es gar nicht so friedlich zuging, belegen das lange bekannte, aber immer wieder verblüffende und für die innere DDR-Geschichte zentrale Phänomen, dass viele Prozesse des Aufbegehrens und Protests in den Städten der DDR indirekt über die Westmedien ermöglicht wurden. Denn nur sie konnten trotz aller bürokratischen Einschränkungen so berichten, dass sich auch die Bürgerrechtler informiert fühlten. Zudem bot in einer international anerkannten und auf Seriosität bedachten DDR westliche Berichterstattung Schutz vor Eskalation der offenen Gewalt auf den Straßen. Die Bilder der prügelnden Sicherheitskräfte in Dresden, Leipzig und Berlin im Vorfeld und nach dem Ende der Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der DDR gingen um die Welt, aber die Gewaltsamkeit nahm nirgendwo die Formen des 17. Juni 1953 oder des chinesischen Tian‘anmen an. Das war einer anderen innenpolitischen Konstellation geschuldet, aber eben auch dieser medialen Verflechtung.
Für die Entwicklung der Bundesrepublik ist der Einfluss der DDR in der Regel viel weniger relevant, oft aber auch subtiler, mittelbarer und schwerer erkennbar. Generell wäre einer möglichen Hypothese nachzugehen: dass der attraktive "lange Weg nach Westen" in der Bundesrepublik nicht nur durch das Wirtschaftswunder beflügelt wurde, sondern möglicherweise auch durch die Nachbarschaft einer denkbar unattraktiven deutschen Diktatur in der unmittelbaren Nachbarschaft.
Einige Einzelbeispiele
Die frühe Zwangsvereinigung von KPD und SPD zur SED in der sowjetischen Zone stärkte im Westen die Position Kurt Schumachers, der eine Fusion strikt ablehnte. Man kann die Linie weiterziehen: die Transformation der SED in eine leninistisch-stalinistische Kaderpartei förderte lange vor dem westdeutschen KPD-Verbot (1956) eine Entwicklung, sodass die ehemals starke KPD eine kleine Splitterpartei wurde. Sie wurde dennoch von der SED mit der sogenannten "Westarbeit" massiv gestützt und taugte insofern als Gespenst zur politischen Instrumentalisierung und Rechtfertigung von Überwachungsexzessen.
In unterschiedlicher Akzentuierung fanden gesellschaftspolitische Grundsatzdebatten in der Bundesrepublik immer auch vor dem Hintergrund des Sowjetsozialismus in der DDR statt. Das betraf frühe Vorstellungen von Sozialisierung, Planwirtschaft und Mitbestimmung bei den Gewerkschaften und der SPD sowie linke Kritik an den sozialen Zuständen im Westen. Das berühmte Wahlkampfplakat "Alle Wege des Marxismus führen nach Moskau" ist dafür ebenso bekannt wie die populäre Variante "Geh doch rüber, wenn es Dir nicht passt". Es geht hier nicht um Prinzipien der Bundesrepublik als einer wehrhaften Demokratie, sondern um irrationale Formen des Antikommunismus der 1950er Jahre.
Das gesamte Thema NS-Aufarbeitung ist, wie Annette Weinke eingehend gezeigt hat, wie kaum ein anderes von der Systemkonfrontation geprägt. Einen besonders interessanten Teilaspekt nenne ich nur als Schlagwort: die gleichzeitigen Theateraufführungen von Peter Weiß‘ "Die Ermittlung" in beiden deutschen Staaten 1965. Parallel zum Auschwitz-Prozess hatte Peter Weiß 1964 mit der Arbeit an seinem Theaterstück "Die Ermittlung" begonnen. Für die Rezeption und den Streit um Weiß wurde sein öffentliches Bekenntnis zum Sozialismus wichtig. Damit sah ihn die DDR als Bündnispartner, in der Bundesrepublik geriet er ins Kreuzfeuer der Kritik. Dennoch fand die Uraufführung des Stücks am 19. Oktober 1965 gleichzeitig auf 14 Bühnen in Ost und West statt, vier im Westen, zehn in der DDR. Mit der Ringuraufführung wurde das Stück zu einem außerordentlichen kulturellen Ereignis des Jahres 1965. Die öffentlichen Debatten im Westen wiesen ein breites Spektrum unterschiedlicher Meinungen auf, wobei die kritischen Stimmen überwogen. In der DDR war der Tenor einheitlich: Das Stück entlarve die Kontinuität faschistischer Tendenzen in der Bundesrepublik, während die antifaschistische DDR die Vergangenheit bewältigt habe. Die Aufführungsgeschichte sowie die Debatten im Vorfeld der Aufführung und im Anschluss daran illustrieren höchst eindrucksvoll die Ergiebigkeit und Notwendigkeit einer deutsch-deutschen Beziehungsgeschichte im Hinblick auf die gemeinsame Vergangenheit. Sie zeigen aber auch, dass Mitte der 1960er Jahre das politische Klima anders geworden war, die Frontlinien nicht mehr nur polarisiert nach Ost und West verliefen und eine kontroverse Diskussion für die Sache der Aufklärung nutzbar gemacht werden konnte.
Ein viel diskutiertes Beispiel für Verflechtungen hat Hans-Günter Hockerts knapp und präzise vorgestellt: die Sozialpolitik. Sie wird gern als Musterbeispiel dafür genannt, dass die Konkurrenz der DDR die Ausgestaltung des westdeutschen Sozialstaats wesentlich gefördert habe. Adenauers Zitat im Vorfeld der Rentenreform von 1957 dient dafür häufig als Beleg: "Wir müssen die Bundesrepublik attraktiv halten für die Menschen in der Zone!" Schaut man genauer hin, wird es viel komplizierter. Hockerts betont zu Recht, dass bislang niemand eine intensivere Forschung dazu angestellt habe, hebt aber andererseits die Ergiebigkeit dieses Beispiels für eine komparative Versuchsanordnung hervor: Ein gemeinsamer Traditionsbestand, aus dem sich zwei Staaten und Systeme bedienen mit schließlich völlig unterschiedlichem Ergebnis, aber jeweils hoher Relevanz für die politische Legitimation. Weniger "Sowjetisierung" als Neusortierung alter Traditionsbestände war das Charakteristikum. "So hat die DDR auf ältere Vorstellungen und Vorbilder im Traditionsstrom der Arbeiterbewegung zurückgegriffen, auf alternative Ideen, die in den Weimarer Jahren nicht oder nur ansatzweise zur Geltung gekommen waren", wie beispielsweise Ambulatorien, Einheitsversicherung, Sozialhygiene.
Für die evangelischen Kirchen in der DDR, deren gesellschaftliche Bedeutung erheblich war und die sich mit den westlichen als "besondere Gemeinschaft" verstanden, war die Verflechtung besonders eng. Aber sie standen auch vor einem schwierigen Dilemma von Autonomie und Anpassung. Die spärlichen Errungenschaften sollten nicht aufs Spiel gesetzt werden, obwohl die eigenen Wertvorstellungen eigentlich entschlossenere Positionen verlangt hätten. Insofern könnte man Manfred Stolpe als hohen und wegen seiner Kontakte zum MfS umstrittenen Funktionär der evangelischen Kirchen in der DDR und Egon Bahr, den Architekten der Neuen Ostpolitik, durchaus funktional in einer ähnlichen Entscheidungssituation sehen. Die Fixierung auf Systemstabilität blockierte schließlich die Wahrnehmung der notwendigen Änderungen und machte aus Bürgerrechtsgruppen potenzielle Störenfriede des Status quo.
Viele weitere Stichworte ließen sich hier noch nennen, um die verqueren deutsch-deutschen Zusammenhänge zu exemplifizieren: Rollenbilder der Frau in Familie und Gesellschaft, der Sport, soziale Isolierung und Integration von Flüchtlingen, Vertriebenen und Übersiedlern, die Behandlung ausländischer Arbeiter, der Umgang mit dem historisch extrem belasteten Verhältnis zum gemeinsamen Nachbarn Polen auf unterschiedlichen Ebenen, neuerdings die schlagzeilenträchtige Belieferung westdeutscher Kaufhäuser mit "Knastware" aus der DDR. Es gibt also viele Felder, auf denen die Untersuchung von Verflechtungen und Abgrenzung für das Verständnis der deutschen Nachkriegsgeschichte sinnvoll und ergiebig ist.
Dennoch muss ich wie andere auch nachdrücklich vor einer Überstrapazierung dieses Ansatzes warnen. Es gibt zahlreiche Zusammenhänge und Themen, die völlig unabhängig von dieser deutsch-deutschen Konstellation figurieren und zu behandeln sind. Ebenso sind natürlich auch künftig DDR- und BRD-Forschung als eigenständige Teil- oder Subdisziplinen legitim und notwendig.
Europa
Abschließend die Frage, inwieweit integrative Konzepte auch für eine künftige europäische Geschichte produktiv zu machen sind. Was etwa in Brüssel im künftigen Haus der europäischen Geschichte an Themen behandelt wird, wird auch von solchen Zugängen abhängig sein.
Geht man davon aus, dass die friedliche Revolution in der DDR vom 9. Oktober in Leipzig bis zur Maueröffnung in Berlin in beiden Teilen Deutschlands, vor allem aber in Westdeutschland, das Bewusstsein der nationalen Zusammengehörigkeit geschärft hat und den Zeithistorikern gewissermaßen einen erweiterten Blick auf die deutsche Nachkriegsgeschichte nahegelegt hat, so lässt sich dieser Ansatz einer asymmetrischen Verflechtung vielleicht auch auf die europäische Geschichte übertragen. Als Folge des Kalten Krieges und der europäischen Integration, die ja eine amputierte, weil rein westeuropäische Integration unter der sowjetischen Bedrohung aus dem Osten war und zunächst blieb, bedeutete europäische Geschichte im Grunde eine in West- und Osteuropa geteilte Geschichte mit wenig Bezügen zum Ganzen. In der frühen Bonner Politik hat Osteuropa nicht wirklich eine Rolle gespielt. Adenauers Europavorstellung hat Hans-Peter Schwarz treffend mit ironischem Unterton als Westeuropa mit dem Kölner Dom als Zentrum charakterisiert.
Erst mit Brandts neuer Ostpolitik rückten die Länder Mittelosteuropas, die ja auch Teile deutscher Geschichte und des "deutschen Ostens" beherbergten, wieder stärker in einer realistischen und nicht nur ostalgischen oder revanchistischen Perspektive ins Blickfeld. Es gab im Ostblock vielfältige Europavorstellungen, aber sie blieben auf politisch randständige und intellektuelle Kreise beschränkt. Im westlichen Europa wuchs das Interesse am östlichen Teil des Kontinents immerhin mit der Erosion des Ostblocks. Die politische "Rückkehr nach Europa", von den Dissidenten vielfach programmatisch gefordert, konnte aber erst nach 1989 eingelöst werden. Damit steht auch im wiedervereinten Europa die Frage nach den Möglichkeiten einer integrierten europäischen Geschichte durchaus auf der Tagesordnung. Ob das gelingen kann und man dabei nicht nur einem dürren Schema folgt, ist mir keineswegs klar. Dass die "Mitte ostwärts liegt" dürfte eine Einsicht sein, zu der nur Kenner wie Karl Schlögel gelangen. Zudem wird das vermutlich strittig bleiben. Tony Judts große Synthese zur "Geschichte Europas seit 1945" ist imposant, konzeptionell jedoch folgt sie im Wesentlichen einer politischen Geschichte. Verflechtungen und Wechselwirkungen bleiben, wenn es sie denn gab, schwer erkennbar. Immerhin ist sein Blick auch intensiv auf das "realsozialistische" Großprojekt im östlichen Europa gerichtet.
Europa als Perspektive ist auch für die deutsche Geschichte unverzichtbar. Damit würde nicht zuletzt eine Kritik aufgegriffen, die Jürgen Kocka vor einigen Jahren formuliert hat: die Gefahr der "Verinselung" und relativen Genügsamkeit der DDR-Forschung angesichts der Faszination durch die Materialfülle zur DDR. Stattdessen sollte der Blick auch auf europäische Dimensionen und auf komparative Studien gerichtet sein. Beides geschieht, aber zu wenig. In Deutschland hängt dieses Defizit, das sich vermutlich ebenfalls in anderen Ländern konstatieren lässt, mit einer ausgeprägten dreifachen Trennung der Wissenschaftsdisziplinen zusammen: historische und politologische DDR-Forschung hatte sich vor 1990 zunehmend als eigener Zweig etabliert; die BRD-Forscher richteten selten einen intensiveren Blick auf die DDR; die Osteuropaforschung schließlich klammerte die DDR in der Regel ebenfalls aus, sodass komparativ ergiebige Zusammenhänge nicht genutzt wurden. Diese Feststellungen gelten alle nur grosso modo und charakterisieren den Mainstream, Ausnahmen gab es zu allen Zeiten ebenfalls.
Die europäische Perspektive ist gerade für die jüngste Zeitgeschichte und unser Thema unverzichtbar, nicht nur weil sie modisch ist. Zu den wichtigsten äußeren Voraussetzungen für den schnellen politischen Kollaps der DDR und des Ostblocks gehörten Gorbatschows Reformen und die Liberalisierung der Verhältnisse in Polen und Ungarn. Zumindest indirekt dürfte das ewig unruhige und rebellische Polen massiv die Einsicht in Moskau befördert haben, dass der Ostblock in seiner alten Form auf Dauer nicht zu retten sei. Überdies wurde er ökonomisch zunehmend ein teures Zuschussgeschäft, da die sozialpolitischen Wohltaten nicht nur in der DDR, angefangen bei der Energieversorgung über ein riesiges System von gestützten Konsumpreisen bis zu den Verteidigungskosten, ohne sowjetische Hilfe nicht aufrecht zu erhalten waren. Gorbatschows Appell an das "gemeinsame Haus Europa", verbunden mit realer Abrüstung und der Perspektive tiefgreifender Reformen, war daher nicht die Propaganda, als die sie zunächst wahrgenommen wurde.
Die friedliche Revolution in der DDR hatte aber nicht nur in ihren Voraussetzungen, sondern auch in ihren Folgen in doppelter Hinsicht europäische Dimensionen: Sie beschleunigte den politischen Kollaps des gesamten Ostblocks und sie erinnerte die Westeuropäer daran, dass die Teilung Deutschlands revidierbar und nicht die dauerhafte historische Strafe für Auschwitz war. Dass andererseits die Realisierung der Wiedervereinigung nur im europäischen Kontext möglich war, diese Einsicht und ihre Umsetzung gehörten zu den unzweifelhaften historischen Leistungen Helmut Kohls, auch wenn am Anfang nicht Kohl, sondern die Bürgerrechtler standen, die etwas anderes wollten. Zur großen 25-Jahr-Feier der "kleinen Oktoberrevolution" in Leipzig am 9. Oktober 1989 hat Bundespräsident Joachim Gauck zu Recht die Präsidenten Polens, Ungarns, Tschechiens und der Slowakei eingeladen, um so diesen doppelten historischen Zusammenhang von Voraussetzungen und Folgen gewissermaßen in personifizierter Form zu unterstreichen.
Mittelosteuropa sollte als eigenes Thema, auch in der doppelten deutschen Perspektive, aufgenommen werden. Dass wir heute mit Polen ein fast freundschaftliches Verhältnis haben, wäre nach der Barbarei der NS-Zeit und den scharfen Spannungen in Zusammenhang mit Vertreibung und Oder-Neiße-Grenze früher schlicht unvorstellbar gewesen. Das gilt für andere Länder in abgeschwächter Form nicht minder.
Schlussbemerkungen
Der Jubel der Erinnerungsveranstaltungen zum Mauerfall ist schön und gerechtfertigt, selbst wenn der Overkill an Artikeln, Büchern, Fernsehdokumentationen, Filmen, Interviews, Ausstellungen, Installationen und Gedenkstunden gelegentlich Zweifel aufkommen lässt, ob man auf diese Weise, ähnlich wie 2003 zur Erinnerung an den Aufstand vom 17. Juni 1953, nicht auch Überdruss- und Ermüdungseffekte produziert. Der Blick auf Deutschland im Ausland hat sich verändert. Ein Beispiel ist, dass in London eine große Ausstellung zur deutschen Geschichte viel Resonanz findet, in der erstmals nicht mehr der Zweite Weltkrieg und die Nazis im Zentrum des Interesses stehen.
Wir sind aber ebenfalls Zeugen fataler Entwicklungen geworden, die zunächst kaum denkbar schienen. Das Ende des Ost-West-Konflikts - und der Fall der Mauer steht dafür wie kein anderes Symbol - hat nicht nur Jubel ausgelöst, sondern auch zerstörerische Konflikte freigesetzt oder ermöglicht: vielfältig in Nahost, aber nun auch in der Ukraine. Diese neuen Konfliktkonstellationen sind keine ursächlichen Produkte, aber vermittelt auch Folgewirkungen der Umbruchjahre 1989 bis 1991. Denn die Zweiteilung der Welt unter dem Damoklesschwert atomarer Bedrohung hatte nicht nur in Europa, sondern offenbar auch in einigen anderen Weltteilen scharfe Konflikte zumindest gebändigt.
Das Plädoyer für integrierte Konzepte einer Nachkriegsgeschichte Deutschlands und Europas kann nicht bedeuten, nach glatten Lösungen Ausschau zu halten. Integration heißt nicht gleiche Augenhöhe, aber Einbeziehung auch von widersprüchlichen Befunden. Dazu gehören biografische Erfahrungsgeschichten, wie sie jetzt en masse auf dem Buchmarkt und in Zeitungsserien erscheinen, als wichtige Dimensionen konträrer, zumindest heterogener Erlebniswelten. Sammlungen autobiografischer Skizzen wie die von Anja Goertz "Der Osten ist ein Gefühl" können als eine von vielen Illustrationen dienen. Sogar Toleranz statt Hysterie gegenüber Symbolen harmloser DDR-Ostalgie würde ich dazu rechnen, andernfalls landet man, wie Klaus Staeck jüngst bissig kommentierte, beim Verbot der Spreewaldgurke.
Das Thema bleibt also aktuell - und vertrackt.
Zitierweise: Christoph Kleßmann, Was bleibt von der Mauer? Gemeinsame Nachkriegsgeschichte in Deutschland, in Europa? In: Deutschland Archiv, 11.12.2014, Link: http://www.bpb.de/197550