In der dritten Sektion der Deutschlandforschertagung 2014 mit dem Titel "Kultur im Schatten der Mauer" setzten sich die Referentinnen und Referenten mit der Kultur und Kulturpolitik der ehemaligen DDR auseinander. Geleitet wurde die Sektion von Dr. Irmgard Zündorf vom Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam. Was aber bleibt von der Mauer? Um diese Frage mit Blick auf die Kultur zu beantworten, ist es zunächst erforderlich, diese von der Kulturpolitik und der Kulturpropaganda der ehemaligen DDR abzugrenzen.
Zwischen Imagepflege und Propaganda – Die Kulturpolitik der DDR
Josephine Evens aus Bonn griff mit ihrem Vortrag zur "Imagepflege der Kultur- und Informationszentren der DDR im Ausland bis zur internationalen Anerkennung 1972/73" ein lange Zeit unerforschtes Thema auf. In Konkurrenz zu den Goethe-Instituten der Bundesrepublik Deutschland hatte die DDR im Rahmen einer regelrechten Imagekampagne die Kultur- und Informationszentren ins Leben gerufen. Schon seit den 1950er Jahren seien die kulturellen Auslandsbeziehungen zu einem wesentlichen außenpolitischen Instrument geworden, denn die DDR suchte nach Möglichkeiten, den mit der Hallstein-Doktrin zementierten Alleinvertretungsanspruch der Bundesrepublik zu umgehen und sich in einem günstigen Licht zu präsentieren.
Von 1956 bis 1972/73 konnte die DDR in den sozialistischen Bruderstaaten, aber auch in Skandinavien und in einigen afrikanischen und arabischen Staaten Kultur- und Informationszentren unterhalten, die neben Sprachkursen für Deutsch und kulturellen Veranstaltungen Sozialismuspropaganda betrieben und sich an der vermeintlichen Entlarvung des "wahren Charakters" der Bundesrepublik und der kapitalistischen Staaten versucht hätten. Die Arbeit der Zentren habe dabei in jedem Land unterschiedliche Schwerpunkte gehabt, wobei sich der "Klassenkampf im Urlaubsort", zum Beispiel an der Schwarzmeerküste, auch an Westdeutsche richten sollte. Als nichtstaatliche Institutionen konnten die Abteilungen der Auslandsinformation, die für die völkerrechtliche internationale Anerkennung der DDR werben sollten, auch in Staaten agieren, die die DDR nicht anerkannten.
Carel Horstmeier aus Groningen vertrat in seinem Vortrag mit dem Titel "DDR-Kulturpropaganda: der Blick auf Westeuropa" die These, dass sich der Bau der Berliner Mauer in der DDR-Anerkennungspolitik "bemerkenswert wenig bemerkbar" gemacht hätte. Zwar habe die auswärtige Kulturpolitik kurzfristig unter dem Mauerbau gelitten, mittelfristig habe in Westeuropa jedoch ein Umdenken in Richtung Entspannung und Anerkennung der DDR eingesetzt, anstelle der bisherigen – weitgehend erfolglosen – Destabilisierungsbemühungen, wodurch auch die DDR-Kulturpolitik eine größere Resonanz erhalten habe.
Dass die DDR-Führung schon frühzeitig die Kultur politisch zu instrumentalisieren wusste, zeige die seit 1954 bestehende "Gesellschaft für kulturelle Verbindungen mit dem Ausland", die die diplomatische Anerkennung der DDR vorbereiten sollte. Nach der Umwandlung der Gesellschaft in die "Liga für Völkerfreundschaft" im Jahr 1961 konnte bis zuletzt ein umfassendes Netz von Freundschaftsgesellschaften und -komitees aufgebaut werden, das sich verstärkt auf das nicht-sozialistische Ausland konzentriert habe und deren Mitglieder sich oftmals aus dem Umfeld der kommunistischen Parteien der jeweiligen Staaten rekrutiert hätten.
Schreiben über die Mauer
Johanna M. Gelberg (Luxemburg) erläuterte in ihrem Vortrag "Leben mit der Mauer – Schreiben über die Mauer", dass sich die innerdeutsche Grenze zu einer eigenen literarischen Kategorie entwickelt hätte. Die Mauer-Darstellung in der Literatur, so Gelberg, sollte durch die Literarisierung sowohl für eine Stabilisierung als auch für eine Überwindung der Grenze sorgen.
Zumindest in der literarischen Fiktion der sogenannten Mauerspringergeschichten in Stefan Heyms Erzählung "Mein Richard" und der Adaption des westdeutschen Schriftstellers Peter Schneider habe die Grenze leichten Fußes passiert werden können. Dass selbst im deutsch-deutschen Literaturbetrieb die durchlässige Grenze ein Ideal darstellte, davon zeugten die zahlreichen Autorentreffen oder gemeinsamen Publikationsvorhaben. Erst die Positionierung auf der Mauer ermögliche es, so Gelberg, die ost- und westdeutsche Literatur als etwas Gemeinsames zu betrachten, wogegen die "kontrastive Literaturgeschichtsschreibung" (Norbert Otto Eke) grundsätzlich von zwei deutschen Literaturen ausgehe.
Schreiben vor und nach dem Mauerfall am Beispiel von Volker Braun und Bruno Apitz
"Mauern überwinden und Mauern bauen: Schreiben vor und nach der Wiedervereinigung am Beispiel Volker Brauns", so lautete der Titel von Hannah Schepers (Berlin) Präsentation. Am Beispiel von Volker Braun, jenem kritischen DDR-Intellektuellen, der zu Zeiten der deutschen Teilung sowohl in Ost- als auch in Westdeutschland publiziert hatte, werde deutlich, dass die Wiedervereinigung im Einzelfall auch mit Resignation und nicht erfüllten Erwartungen einhergehen konnte. Zuvor habe Volker Braun der DDR loyal gegenüber gestanden – in Opposition habe er sich nur zur SED befunden.
Braun, der Literatur stets als ein Mittel der politischen Artikulation verstanden habe, musste nach dem Mauerfall erkennen, dass das Schriftwerk als einstige politische Ersatzöffentlichkeit in der DDR und mithin auch die Rolle des Schriftstellers im nunmehr wiedervereinigten Deutschland an Bedeutung eingebüßt habe. Einem Schriftsteller wie Braun, so Schepers, gelänge es unter den neuen Bedingungen nicht mehr mit seinen politischen Anliegen durchzudringen. So könne beispielsweise die folgende Zeile aus dem Gedicht "DAS EIGENTUM" (1990) vor dem Hintergrund seiner Mahnungen vor der vermeintlich zunehmenden Ökonomisierung aller Lebensbereiche und der scheinbar kritiklosen Übernahme des westdeutschen Gesellschaftsmodells interpretiert werden: "Da bin ich noch: mein Land geht in den Westen."
Braun, der einst die Mauer und sämtliche Grenzen mit seiner Sprache und seinen "geistigen Brücken" zu überwinden vermocht habe, sei nach der Wiedervereinigung auf für ihn teils unüberwindbare "materielle Brücken" und "geistige Mauern" getroffen. Dass die Bundesrepublik Volker Braun mit der Vergabe des Büchner-Preises im Jahr 2000 seinen Tribut zollte, könne ein Indiz dafür sein, dass der Schriftsteller seinen literarischen Einfluss im wiedervereinigten Deutschland selbst unterschätzt hatte.
Lars Förster (Chemnitz) machte in seinem Beitrag "Bruno Apitz, der Mauerbau und die Neuverfilmung von 'Nackt unter Wölfen' oder: Die Chance auf eine neue gesamtdeutsche Debatte" auf den seit den 1990er Jahren – nach Ansicht des Referenten unter literarischen und zeitgeschichtlichen Gesichtspunkten zu Unrecht – in Vergessenheit geratenen Autor Bruno Apitz aufmerksam, dessen 1958 erstmals in der DDR veröffentlichter Roman alsbald zu einem Weltbestseller avancierte.
Der Autodidakt Apitz wurde im Jahr 1900 als zwölftes Kind einer Arbeiterfamilie in Leipzig geboren. Sein politisches Engagement führte ihn bereits 1917 wegen "Antikriegspropaganda" ins Gefängnis. Als späteres KPD-Mitglied wurde Apitz während des Nationalsozialismus mehrfach inhaftiert, von 1937 bis zur Befreiung des Lagers 1945 war er im KZ Buchenwald interniert.
Apitz' Roman "Nackt unter Wölfen" sollte als Nachkriegswerk auf die vom Autor kritisierten Kontinuitäten des Faschismus westlich der Mauer hinweisen. Weil er den Mauerbau begrüßt habe, galt Apitz in der Bundesrepublik als schreibender Unterstützer der SED. Das Jahr 1961 habe gleich eine zweifache Zäsur für Apitz und sein Werk bedeutet: Ausgerechnet im Jahr des Mauerbaus wurden die Lizenzbedingungen für belletristische Lektüre aus der DDR gelockert, sodass "Nackt unter Wölfen" 1961 - als erster DDR-Roman - in der Bundesrepublik veröffentlicht werden konnte. Die DEFA-Verfilmung des Romans, die unter der Regie von Frank Beyer stand und in der der Schauspieler Armin Müller-Stahl eine Hauptrolle spielte, sei jedoch unter einen besonderen politischen Druck geraten, da sich der Film gänzlich der propagierten Verherrlichung des antifaschistischen Widerstandes unterwerfen sollte.
Zurzeit finden die Dreharbeiten für eine MDR/ARD-Neuverfilmung des Weltbestsellers statt, die zum 70. Jahrestag der Befreiung des KZ Buchenwald im April 2015 ausgestrahlt werden soll. Der Film biete nach Auffassung des Referenten Lars Förster eine Chance auf eine neue gesamtdeutsche Debatte über die nationalsozialistischen Verbrechen in den Konzentrationslagern einerseits und über die spezifische Aufarbeitung des Faschismus in den 1950er und 1960er Jahren in Ost- und Westdeutschland andererseits.
Ein erster Grundstein für eine solche Diskussion sei 2012 mit der Herausgabe einer erweiterten Neuausgabe des Romans gelegt worden, die etwa die sogenannten Bergen-Belsen-Streichungen, die im Zuge der ideologischen (Selbst-)Zensur vorgenommen wurden, aufführt. Dorthin, nach Bergen-Belsen, dem Sinnbild für den Tod, hätte das im Lager lebende Kind nach dem Willen des kommunistischen Lagerwiderstands eigentlich geschickt werden sollen. Doch diese Episode und die drastischen Verhältnisse hätten der Leserschaft nicht zugemutet werden sollen. Denn bei der Herausgabe des Werkes in der DDR sei letztlich nicht die Authentizität des Lagerlebens, sondern die Stilisierung der kommunistischen Figuren zu Helden maßgeblich gewesen – diese politisch erwünschte Sichtweise durfte keinesfalls in einem verrohten und brutalen Lagerleben, das wohl keinen seiner Insassen gänzlich ausnahm, untergehen.
Die deutsche Teilung in der Musik
Der Musikwissenschaftler Benjamin Meyer (Wien) kam in seinem Vortrag "Ideologische Musikästhetik nach dem Fall der Mauer" einerseits zu dem Schluss, dass die deutsche Einheit auf dem Gebiet der Musik bereits in den 1980er Jahren nahezu bestanden habe, da sich die DDR-Komponisten von dem verordneten "sozialistischen Realismus" stillschweigend verabschiedet hätten. Andererseits verwies der Referent darauf, dass durch die Übernahme des westdeutschen kulturellen Systems die Teilung nach wie vor im Bewusstsein von Künstlerinnen und Künstlern und Musikwissenschaftlerinnen und Musikwissenschaftlern verankert sei.
Die politische Musik, ein Kampfbegriff aus dem Kalten Krieg, habe im Westen die avantgardistische Musik dargestellt. Nach der Philosophie Theodor W. Adornos könne Musik nur dann politisch sein, wenn sie avantgardistisch sei. Daraus resultiere unweigerlich ein Widerspruch, da die exklusive avantgardistische Musik folglich nie ihren gesellschaftsverändernden Anspruch einzulösen vermochte. In der Gegenwart komme sowohl dem "sozialistischen Realismus" als auch der avantgardistischen Musik keine gesellschaftliche Relevanz mehr zu.
Den Referentinnen und Referenten gelang es, die unterschiedlichen kulturellen Blickwinkel auf die Mauer in abwechslungsreichen Beiträgen herauszustellen. Dabei wurde deutlich, dass die Ausgangsfrage "Was bleibt von der Mauer?" im Bereich von Kunst und Kultur auch nach einem Vierteljahrhundert der überwundenen deutschen Teilung nicht einheitlich, sondern nur individuell unter Berücksichtigung der Lebenslinien und -erfahrungen der einzelnen Künstlerinnen und Künstler vor und nach der Wiedervereinigung zu beantworten ist.
Zitierweise: Jan-Philip Blumenscheit, Tagungsbericht: Sektion "Kultur im Schatte der Mauer", in: Deutschland Archiv, 28.11.2014, Link: http:\\www.bpb.de\197042