Schaut man sich die Kommentare in den niederländischen Zeitungen an, so hat sich das Deutschlandbild der Niederländer in den letzten 25 Jahren komplett verändert. An die Stelle von Argwohn und Abneigung trat zunehmend Bewunderung und Sympathie für das östliche Nachbarland. Vor allem seit dem letzten Höhepunkt der europäischen Finanzkrise Mitte 2011 wird Deutschland immer häufiger als Muster für die Energiewende, die Fertigungsindustrie, die duale Ausbildung sowie die Kultur- und Europapolitik dargestellt. Der Gewinn der Fußball-Weltmeisterschaft im Sommer 2014 war Anlass zu lobenden Zeitungsartikeln über die Lage Deutschlands in Europa. Die positive Bewertung ist bemerkenswert, da die Niederländer Deutschland gegenüber zu Beginn der 1990er Jahre noch eine kritische Distanz einnahmen. Dem Historiker Jacco Pekelder zufolge entwickelten sich die deutsch-niederländischen Beziehungen seit dem Fall der Mauer von einem krisenhaften Umgang hin zu einer intensiven Freundschaft: Sie seien 'the best of friends'.
Die Annahme, dass sich die niederländisch-deutschen Beziehungen zu Beginn der 1990er Jahre in einer Krise befanden, muss nuanciert werden. Tatsächlich überraschte der rasante Wiedervereinigungsprozess damals sowohl die Regierung als auch die meisten Journalistinnen und Journalisten in den Niederlanden. Es dauerte ein wenig bis man sich auf die neue Situation eingestellt hatte. Und tatsächlich gab es einige Unstimmigkeiten zwischen Deutschland und den Niederlanden, vor allem in Bezug auf die EU-Politik. Es stellt sich aber die Frage, welche Rolle diese Unstimmigkeiten für die niederländisch-deutschen Beziehungen im Ganzen und für die wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen im Speziellen spielten. Gerade im Jahr 1993, in dem am häufigsten über die Krise in den Beziehungen geschrieben wurde, vollzogen sich mehrere Wendepunkte in Politik und Kultur, die eher das Bild einer intensiven Partnerschaft rechtfertigen.
Drei Phasen in der Debatte
In diesem Artikel werde ich das niederländische Deutschlandbild in drei Phasen einordnen, um aufzeigen zu können, wie sich die Debatten in den letzten 25 Jahren entwickelt haben und welche Themen dabei eine wichtige Rolle spielten. Dabei möchte ich herausarbeiten, wie das niederländische Deutschlandbild durch die sich ändernden Selbst- und Fremdwahrnehmungen geprägt wurde. Deutschland ist meines Erachtens ein bedeutungsvoller Anderer in der niederländischen Kultur. Drei Entwicklungen waren dabei entscheidend: Zunächst diente Deutschland für die Niederlande seit den 1960er Jahren als Negativbild der eigenen progressiv-liberalen Gesellschaft. Durch den rasanten Wandel der niederländischen Gesellschaft im Zeitraum 1995-2005 verlor der östliche Nachbar jedoch diese Funktion. Zudem möchte ich zeigen, wie sich gleichzeitig die kulturelle Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg geändert hat, und wie dieser Wandel zusammenhängt mit dem sich ändernden Deutschlandbild. Drittens glaube ich, dass die neue politische Lage der beiden Länder in der EU zu einer neuen Einschätzung der eigenen Positionen in der Welt insgesamt geführt hat. Auch dies hatte Konsequenzen für die Beziehungen zwischen Deutschland und den Niederlanden. Anhand der Europapolitik der beiden Länder werde ich die guten Beziehungen zueinander, aber auch die Unterschiede zwischen den beiden politischen Kulturen aufzeigen.
1989 bis 1994 Lehrstunden in Bescheidenheit
Der Fall der Berliner Mauer wurde in den Niederlanden mit Jubel begrüßt. Die progressive Tageszeitung de Volkskrant rief das Jahr 1989 zum Jahr des Volkes aus: "Das war keine Revolution von Parteiführern oder Ideologen, sondern eine Revolution von Studenten, Intellektuellen und Arbeitern. Sie setzten die Reformen durch, die die Honeckers überflüssig fanden."
Auch Ministerpräsident Ruud Lubbers dachte nicht direkt an eine schnelle Wiedervereinigung. Am 8. Dezember 1989, einen Monat nach dem Fall der Mauer und zehn Tage nachdem Helmut Kohl sein Zehn-Punkte-Programm vorgelegt hatte, sprach er bei einem Diner mit Regierungschefs in Straßburg den Begriff "Deutsches Volk" an. Er fragte sich, ob man von einem deutschen Volk ausgehen sollte, und ob es nicht zu früh sei, über Selbstbestimmung zu sprechen. Kohl entgegnete Lubbers nach Ablauf des Essens, dass er ihm die deutsche Geschichte noch einmal erklären würde.
In der Phase nach dem Mauerfall wurden die Niederlande daran erinnert, dass das Land kaum noch als Großer unter den kleinen Mächten gelten konnte. Peter van Walsum, damals höchster Beamter für politische Angelegenheiten beim Außenministerium, deutete die legendären 329 Tage vom Mauerfall bis zur deutschen Wiedervereinigung "als eine Periode, in der wir fast täglich an unseren fehlenden Einfluss erinnert wurden."
Haltungen der Bevölkerung
Angesichts der kleinen und größeren Zwischenfälle im diplomatischen Umgang zwischen den Niederlanden und Deutschland ist es nicht verwunderlich, dass auch in der niederländischen Bevölkerung ablehnende Gefühle gegen ein zu mächtiges Deutschland aufkamen. Dazu wurden eine Reihe Meinungsumfragen von sehr unterschiedlichen Agenturen durchgeführt, die verschiedene Ergebnisse hervorbrachten: Aus einer Befragung Ende November 1989 ging hervor, dass 54 Prozent der Befragten für eine Wiedervereinigung waren, 27 Prozent dagegen und 19 Prozent keine Meinung zu diesem Thema hatten. In anderen Umfragen lag der Anteil der Gegner bei rund 12 Prozent. Nur die bekannte Clingendael Studie "Bekannt und unbeliebt" von 1993 gab Anlass zu großer Sorge. Diese Befragung unter 1807 Jugendlichen im Alter von 15 bis 19 Jahren hatte zum Ergebnis, dass 56 Prozent der Befragten negativ über Deutschland dachten. 71 Prozent bewerteten es als dominant und 46 Prozent betrachteten Deutschland noch immer als kriegssüchtig. Aus der Studie ging auch hervor, dass Jugendliche, die weniger über Deutschland wussten, negativer urteilten als jene, die über mehr Wissen verfügten.
Unabhängig von der Qualität der Befragung, zu der das eine oder andere anzumerken wäre, hatten einige aktuelle Vorfälle das negative Ergebnis beeinflusst. So gab es in der niederländischen Presse einige Empörung über die Übernahme des niederländischen Flugzeugbauers Fokker durch den Flugzeugkonzern von Daimler Benz, die Deutsche Aerospace Aktiengesellschaft (DASA). Es war der Eindruck entstanden, dass der nationale Stolz den deutschen Autobauern ausgeliefert wurde, ohne Garantien für die Entwicklung weiterer neuer Flugzeuge zu erhalten. Das überwiegend negative Urteil der Befragten stand aber vor allem in Zusammenhang mit der großen Medienaufmerksamkeit für die rechtsextremistischen Anschläge in Deutschland, wie in Hoyerswerda und Rostock. Als dann noch bekannt wurde, dass rechtsextremistische Jugendliche das Haus einer türkischen Familie in Solingen in Brand gesteckt hatten, wobei fünf Menschen starben und weitere acht schwer verletzt wurden, organisierte die beliebte niederländische Radiosendung The Breakfast Club eine Postkartenaktion. An dem Aufruf, eine Postkarte mit der Aufschrift "Ik ben woedend" ("Ich bin wütend") an Helmut Kohl zu schicken, beteiligten sich 1,2 Millionen Menschen. Die Aktion erregte auch in Deutschland Aufsehen, da sie erkennen ließ, dass die deutsche Empörung über diesen Anschlag den niederländischen Einsendern entgangen war.
Politische Kooperation
Es muss aber gefragt werden, wie belastet die Beziehungen tatsächlich waren. Politisch gesehen waren die Unstimmigkeiten eher dadurch entstanden, dass es der niederländischen Regierung zeitweise schwer viel, ihre neue Rolle in Europa zu finden. Die traditionell guten Beziehungen wurden 1993 aber mit der Planung eines gemeinsamen niederländisch-deutschen Militärcorps fortgesetzt, welches ab 1995 einsatzbereit war. Auch in wirtschaftlicher Hinsicht war kaum ein Wölkchen am Himmel zu sehen. Die Niederlande waren, wie der bekannte Journalist Willem Leonard Brugsma es umschrieb, der Anlegesteg und Gemüsegarten Deutschlands, womit er auf den Rotterdamer Hafen und die Gewächshausgebiete verwies, in welchen Tomaten und Paprika für den deutschen Markt angebaut wurden. Allerdings sank der Absatz niederländischer Tomaten in Deutschland gerade in den Jahren 1990 bis 1994 mit 50 Prozent durch die zunehmende Konkurrenz aus anderen Ländern. Hier stand das Image von "Frau Antje" auf dem Spiel. Die niederländischen Tomaten wurden als "Wasserbomben" bezeichnet, zu wässerig und zu fabrikmäßig produziert. Deswegen wurde eine neue Parole erdacht: "Ackern für Deutschland". Es wurden neue Produkte entwickelt wie die Strauch-, Cocktail- und Cherrytomate. Nach einigen Jahren fanden die Ackerbauern ihren Weg zum deutschen Markt zurück.
Kulturelle Beziehungen
Anders als die politischen Beziehungen gestalteten sich die kulturellen Beziehungen im Jahr 1993 besonders gut. Anfang der 1990er Jahre war die Qualität des Kulturaustausches vergleichbar mit dem während der kulturellen Blüte zu Zeiten der Weimarer Republik. Den Höhepunkt der Kulturbeziehungen bildete der flämisch-niederländische Auftritt als Ehrengast auf der Frankfurter Buchmesse. Vor allem der schnelle Durchbruch des Autors Cees Nootebooms, nach einigen sehr positiven Besprechungen seines Werkes in der beliebten TV-Sendung Das literarische Quartett, war bemerkenswert. Die Wiederentdeckung Nootebooms in Deutschland sorgte für eine Neuordnung des niederländischen Literaturkanons. In den Niederlanden war Nootebooms schließlich als Autor von Reisebüchern bekannt und konnte sich nicht mit den großen Drei namens Willem Frederik Hermans, Gerard Reve und Harry Mulisch messen lassen. 1993 wurde außerdem Rudi Fuchs zum Direktor des städtischen Museums in Amsterdam – des Stedelijk Museum – ernannt. Die Karriere Fuchs', der 1982 die Leitung der documenta innehatte, war eng mit den Karrieren einiger deutscher Künstler, wie Georg Baselitz, Günther Förg und Markus Lüpertz, verbunden.
Gemeinsame Gegenkultur
Die Erklärung für den intensiven kulturellen Austausch zwischen den Niederlanden und Deutschland liegt in jener geteilten Gegenkultur, die in beiden Ländern während des Kalten Krieges und danach, sicherlich bis 1993, gelebt und gepflegt wurde. Wie Niklas Luhmann schrieb, war Protest, das Dagegensein, ein wesentlicher Bestandteil der alten Bundesrepublik. Auch deshalb besaß Deutschland im Bereich der Kunst und Kultur eine starke Deutungshoheit in den Niederlanden. Künstler wie Joseph Beuys, Pina Bausch und Wim Wenders genossen große Bekanntheit. Verschiedene intellektuelle Debatten in Deutschland, wie der Historikerstreit und die Debatte um das umstrittene Theaterstück "Der Müll, die Stadt und der Tod" von Rainer Werner Fassbinder 1985, wurden anschließend in den Niederlanden unter Intellektuellen weitergeführt. Besonders erwähnenswert ist außerdem Jürgen Habermas' Einfluss auf niederländische Soziologen und Philosophen zu dieser Zeit.
Verbunden mit der grenzüberschreitenden kulturellen Szene bildete auch der gesellschaftliche Protest in den 1970er und 1980er Jahren eine grenzüberschreitende Bewegung. Progressive Niederländer und Deutsche zogen zusammen in den Kampf gegen die Auswüchse des Kapitalismus, die Apartheid in Südafrika und den NATO-Doppelbeschluss. Auch die Kirchen spielten eine wichtige Rolle in der grenzüberschreitenden Friedensbewegung, und gemeinsam gingen deutsche und niederländische Demonstranten erfolgreich gegen die Inbetriebnahme des Kernkraftwerks Kalkar auf die Straße. Der Protest in den Niederlanden hat zwar in den zweiten Hälfte der 1980er Jahren abgenommen, war aber bis in die 1990er Jahre immer noch stark organisiert: 1993 demonstrierten in Amsterdam 50.000 Menschen gegen Rassismus und in Den Haag 25.000 Studierende gegen Einsparungen im Bildungssektor.
Die niederländische Kultur des Protestes hatte aber auch eine zweischneidige Haltung gegenüber Deutschland zur Folge. Einerseits fanden niederländische und deutsche Protestler in ihrem Kampf gegen Unrecht zueinander. Andererseits stand gerade Deutschland für ein Land der übertriebenen Hierarchien, für "Ordnung muss sein". Peter van Walsum, inzwischen niederländischer Botschafter in Bonn, äußerte 1993 in einem Meinungsartikel im NRC Handelsblad, dass ihm nur wenig tatsächliche Feindseligkeit gegenüber Deutschland unter Niederländern begegnet seien, dass jedoch ein bisschen anti-deutsch sein, und vor allem das Verharmlosen des anti-deutsch-Seins bei Anderen, in niederländischen Kreisen scheinbar zum guten Ton gehöre.
1995 bis 2005 Neues Selbstbild: Nähe und Distanz
Die intensiven Debatten über das niederländische Deutschlandbild in den Jahren 1993 bis 1996 waren ein wichtiger Anstoß für Veränderungen in der niederländischen Gesellschaft selbst. Die erhitzten Debatten in der Presse rund um die großen Fußballspiele führten zu Fragen darüber, woher die negativen Gefühle der Niederländer eigentlich kamen. War die Abkehr von Deutschland eine niederländische Variante von Fremdenhass? Ging es um den "Calimerokomplex" eines kleinen Landes, das den großen Nachbarn scheut, oder etwa um eine kollektiv unverarbeitete Kriegsvergangenheit? Diese Fragen überstiegen die bilateralen Beziehungen: Vielmehr bezogen sie sich auf den Platz der Niederlande in der Welt nach dem Fall des Eisernen Vorhangs. Man könnte die Debatten gar als eine Form von Selbsttherapie sehen.
Als im Juni 1994 Ruud Lubbers sich gezwungen sah, seine Kandidatur für den Vorsitz der Europäischen Kommission zurückzuziehen, fielen von niederländischer Seite harte Worte an die Adresse Helmut Kohls. Dieser hatte sich mit dem französischen Präsidenten François Mitterand geeinigt, gemeinsam den belgischen Premierminister Jean-Luc Dehaene bei einer Kandidatur zu unterstützen. Das Gefühl war auch, dass Kohl sich hier für die mangelnde Unterstützung des Niederländers bei der deutschen Einheit revanchierte. Kohl war sich übrigens keiner Schuld bewusst. Nach Meinung des stellvertretenden Ministerpräsidenten Wim Kok aber wurden "alte Wunden wieder aufgerissen" und hatten sich "die Gegensätze in der Beziehung verschärft".
Außenminister Pieter Kooijmans stelle sich gegen diese Ressentiments. Er kündigte eine Studie über Feindbilder an, die bei Niederländern existierten, denn "ansonsten bleibt die Clingendael-Umfrage wie eine Mauer zwischen uns stehen".
Neues Selbstbild; neues Deutschlandbild
Zwischen 1995 und 2005 veränderten sich die Niederlande von einer stabilen, selbstbewussten Gesellschaft in ein Land, das um seine Position in der Welt bangte. Das Massaker an bosnischen Muslimen durch serbische Nationalisten im von niederländischen Blauhelmsoldaten kontrollierten Srebrenica 1995, die politischen Morde an Pim Fortuyn 2002 und Theo van Gogh 2004 und das Referendum von 2005, in dem die Niederländer den Europäischen Verfassungsvertrag ablehnten, trugen hierzu sicherlich bei. Hinzu kam eine kritische Neubewertung der eigenen Vergangenheit, insbesondere der Rolle der Niederländer während der Verfolgung der niederländischen Juden unter der deutschen Besatzung. In den 1990er Jahren erregten Informationen über jene Landsleute, die sich an der Judenverfolgung beteiligt hatten, großes Interesse in den Niederlanden – von Amsterdamer Gemeindebeamten, die Fähnchen auf eine Stadtkarte setzten, um Wohnsitze von Juden zu markieren, bis hin zur Neugründung einer jüdischen Scheinbank Lippmann, Rosenthal & Co., um das Kapital jüdischer Familien zu rauben. Das traditionelle Denken in Begriffen von Gut und Böse machte Platz für eine Palette von Grautönen für jene Niederländer, die sich auf ganz verschiedene Art und Weise an die missliche Situation anpassten und mit den Besatzern zusammenarbeiteten, ohne unbedingt deren Auffassungen zu teilen. Auch das Aufsehen erregende Buch von Chris van der Heijden, "Graue Vergangenheit" (Grijs verleden), das 2001 erschien, brach mit traditionellen Vorstellungen in der Gesellschaft über die Besatzung und regte ein differenziertes Bild der Kriegsgeschichte an. Es erschien in einer Zeit, in der gesellschaftlicher Widerstand an Anziehungskraft verloren hatte und Kritik am multikulturellen Selbstverständnis des Landes aufkeimte. Durch den ernüchternden Blick auf die eigene Kriegsvergangenheit verschwand auch Deutschland als traditioneller Gegenpol zur niederländischen Gesellschaft.
Der Antritt der rot-grünen Koalition im Jahr 1998 sorgte für eine andere Dynamik in den Beziehungen. Bundeskanzler Gerhard Schröder und Außenminister Joschka Fischer hatten im Allgemeinen weniger ein Auge für die kleinen Länder, wodurch die bilateralen Beziehungen weniger intensiv wurden. Für einen Aspekt zeigte Schröder jedoch besonderes Interesse: das Poldermodell. Die Form der niederländischen Verhandlungen der Arbeitsbedingungen zwischen Arbeitgebern, Arbeitnehmern und dem Staat wurden als ein interessantes Muster für die deutschen Arbeitsverhältnisse angesehen, insbesondere in Hinblick auf das Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit, welchem Schröder neues Leben einhauchte. Jedoch stellte sich gerade in Deutschland heraus, dass sich das Poldermodell nicht einfach exportieren ließ, da der deutsche Staat traditionell viel weniger Einfluss auf die Tarifverträge ausübt als dies in den Niederlanden üblich ist.
Neue Aufgaben der Außenpolitik
Von 2002 bis 2005 gerieten die niederländisch-deutschen Beziehungen durch mehrere Faktoren unter Druck. Ein wichtiger Streitpunkt war die Irak-Krise 2003. Während Deutschland sich zusammen mit Frankreich gegen einen neuen Krieg im Irak aussprach, gehörten die Niederlande zur Koalition der Willingen, übrigens ohne Militäreinheiten in den Irak zu schicken. Doch Uneinigkeit gab es vor allem in Hinblick auf die EU. Dass die deutschen und niederländischen Ideen über die Ausgestaltung der europäischen Institutionen auseinandergingen, war dabei noch das kleinste Problem. Deutschland, vor allem der deutsche Außenminister Fischer, war ein wichtiger Motor für das Zustandekommen des Vertrages über eine Europäische Verfassung. Die niederländische Regierung zeigte jedoch besonders wenig Interesse für diese Initiative, was sicherlich dazu beitrug, dass die Niederländer den Verfassungsvertrag 2005 in einem Referendum ablehnten.
Echte Differenzen entstanden jedoch als deutlich wurde, dass Bundeskanzler Schröder und der französische Staatspräsident Jacques Chirac gemeinsam beschlossen hatten, die strengen Haushaltsrichtlinien des Stabilitäts- und Wachstumspakts zu umgehen. Im Finanzministerrat der EU, dem EcoFin, drohte der niederländische Finanzminister Gerrit Zalm mit Sanktionen gegen die zwei großen Länder, worauf der deutsche Finanzminister Hans Eichel ihm vorwarf, das Klima in der EU zu vergiften. Während einer Abstimmung zeigte sich, dass eine Mehrheit die französisch-deutsche Initiative unterstützte. Als der niederländische Außenminister Bernard Bot seinem deutschen Kollegen Fischer gegenüber erklärte, dass der Streit beendet sei, ging dieser innerhalb des niederländischen Kabinetts weiter, da sich Zalm mit Bots Aussage ganz und gar nicht einverstanden zeigte.
Konnten die Reibungen zwischen den Nachbarländern zu Beginn der 1990er Jahre auf Anpassungsprobleme der Niederlande an die neuen internationalen Verhältnisse zurückgeführt werden, so waren die Streitigkeiten zwischen 2002 und 2005 auf grundlegendere Ursachen zurückzuführen. In Bezug auf den Irak zeigten sich die Niederlande enttäuscht über den deutschen Bruch mit einer multilateralen Tradition. Während sie treu auf Seiten der USA standen, nahm Deutschland bewusst Abstand. Bezüglich der EU ging es sowohl um einen ideologischen Konflikt über die Handhabung der Haushaltsrichtlinien als auch um auseinanderklaffende Visionen bezüglich der Architektur der EU. Der ideologische Konflikt war von vorübergehender Art, die entgegengesetzten Auffassungen zur Ausgestaltung der europäischen Demokratie sind hingegen noch immer vorhanden. Übrigens ging die Krise, wie Jochen Stöger betonte, vor allem von niederländischer Seite aus. Schröder äußerte im Jahr 2003 gegenüber dem niederländischen Ministerpräsidenten Jan Peter Balkenende schlichtweg: "Wir sind Freunde".
Von 2005 bis heute: Freundschaftsband mit Differenzen
Einige Monate nach dem niederländischen "Nein" zum Europäischen Verfassungsvertrag wurde Angela Merkel Kanzlerin. Sie setzte sich aktiv für die Erholung der deutsch-amerikanischen Beziehungen und die Rettung des Verfassungsvertrages ein, der schließlich im Vertrag von Lissabon mündete. Im niederländischen Premier Balkenende fand Merkel einen Partner, mit dem sie den christdemokratischen Hintergrund, eine Vergangenheit in der Wissenschaft und einen politischen Führungsstil teilte, der mehr auf Inhalt als auf Ausstrahlung gerichtet war. Als die europäische Finanzkrise ausbrach, gingen die Niederlande und Deutschland sie gemeinsam an. Das bedeutete jedoch nicht, dass es keine Auseinandersetzungen mehr gab. Die Angst vor einer starken französisch-deutschen Achse wuchs in den Niederlanden mit den stets häufiger werdenden Auftritten des Duos "Merkozy". Kritisch reagierte man in den Niederlanden auf den "Pakt von Deauville" vom Oktober 2010, als Merkel und Nicolas Sarkozy sich im Vorfeld eines europäischen Krisengipfels auf Wunsch Merkels auf eine Revision des Vertrages von Lissabon und auf Wunsch Sarkozys gegen automatische Sanktionen für Defizitsünder des Stabilitäts- und Wachstumspaktes geeinigt hatten. Ihre Wanderung entlang des Strandes in der Normandie sollte ihre Einigkeit unterstreichen. Für die Niederländer wirkte dieses Bild jedoch wie ein von "oben" verkündetes Diktat.
Der niederländische Finanzminister entschied sich, von nun an seine Aufmerksamkeit stärker auf Berlin zu richten. Doch im Herbst 2011 kam es zu einer politischen Wende, als die niederländische Regierung effektiv Lobbyarbeit für einen starken EU-Haushaltskommissar mit Durchgriffs- und Sanktionsrechten errichtete. Der neue liberale Premier Mark Rutte, traditionell atlantisch orientiert, musste nach einem Jahr im Amt feststellen, dass nicht England, sondern Deutschland richtungsweisend für die niederländische Politik war. Von deutscher Seite wurde zudem dem niederländischen Standpunkt mehr Aufmerksamkeit gewidmet, nachdem François Hollande 2012 Sarkozy im Élysée-Palast abgelöst hatte. Die guten Beziehungen wurden 2013 mit der ersten niederländisch-deutschen Regierungskonferenz in Kleve betont. Die Niederlande und Deutschland arbeiteten auch während militärischer Missionen intensiver zusammen, beispielsweise in Kunduz oder an der türkischen Grenze zum Irak. Seit 2014 ist ein Teil der niederländischen Luftbeweglichen Brigade, das Paradepferd des niederländischen Heeres, dem Stab der deutschen Division Schnelle Kräfte in Stadtallendorf unterstellt.
Fazit
Die europäische Finanzkrise hat beide Länder unbestreitbar einander nähergebracht. Vor allem auf ökonomischem Gebiet arbeiten Deutschland und die Niederlande ausgezeichnet zusammen. Jedoch ist es für die gute Verständigung nicht unwichtig, auch die Unterschiede zwischen beiden Ländern in Augenschein zu nehmen. Diese Unterschiede haben mit dem Ausmaß des Einflusses in der EU zu tun, aber auch mit der Wiedererkennbarkeit der Brüsseler Institutionen im eigenen Land. Die deutsche föderale Demokratie, mit ihrer stetigen gegenseitigen Kontrolle und einem Bundesverfassungsgericht, hat viel mehr Schnittflächen mit den trägen Brüsseler Entscheidungsprozessen als die niederländische pragmatische, stark von Den Haag aus gelenkte Politik. Das politische Spiel in Brüssel ist vom niederländischen Wähler weit entfernt. Die niederländischen Regierungen halten wenig von möglichen neuen europäischen Vertragsabschlüssen, die zu Unfrieden in der Bevölkerung führen könnten. Dahingegen gibt es in Deutschland nach wie vor Stimmen, die eine Vertiefung der europäischen Integration fordern. Ein anderer wesentlicher Unterschied äußert sich in der gesellschaftlichen Reaktion auf die Weltnachrichten. Die Kernkraftwerkskatastrophe von Fukushima führte in Deutschland zu einer unmittelbaren Stilllegung von Kernkraftwerken und zu einer neuen Energiepolitik. In den Niederlanden aber wurde kein Zusammenhang zwischen der Katastrophe, verursacht durch einen Tsunami in Japan, und der niederländischen, in dieser Hinsicht als sicher eingestuften Geografie hergestellt.
Auch auf die NSA-Affäre reagierte man in den Niederlanden ziemlich gleichgültig, während die deutsche gesellschaftliche Debatte und sogar die deutsch-amerikanischen Beziehungen 2014 durch den Abhörskandal dominiert wurden. Schließlich sind die traditionellen deutschen Volksparteien in der Lage, sich die unter der deutschen Bevölkerung vorhandene Euroskepsis so zu eigen zu machen, dass bis jetzt keine starke euroskeptische Partei auf Bundesebene aufsteigen konnte. In den Niederlanden hat die Euroskepsis eine viel größere Deutungshoheit bekommen, wodurch die EU in der Politik und den Medien nicht die Aufmerksamkeit erhält, die sie verdient.
Von einer starken kulturellen Bezugnahme auf Deutschland, wie sie noch zu Beginn der 1990er Jahre festzustellen war, ist im Jahr 2014 weniger zu bemerken. Obwohl heute viele Deutsche in den Niederlanden arbeiten, stetiger Austausch auf dem Gebiet von Kunst, Theater und Wissenschaft stattfindet, ist die kulturelle und gesellschaftliche Orientierung in den Niederlanden mehr denn je auf die angelsächsische Welt gerichtet. Die Finanzkrise hat jedoch für ein wiederauflebendes Interesse am Potenzial des deutschen Bildungswesens und der deutschen Wirtschaft gesorgt. Die Art und Weise wie Angela Merkel Deutschland durch die Finanz- und Wirtschaftskrise führte und die EU vor unverantwortlichen Ausgaben behütet hat, wurde erst kritisiert, jetzt aber von vielen gelobt. Die Niederlande hatten seit 2002 sieben Regierungen, mit unterschiedlichen Zusammensetzungen und Mehrheiten im Parlament. Wo Deutschland in vielerlei Hinsichten Stabilität und Sicherheit ausstrahlt, scheinen die Niederlande noch immer auf der Suche nach einem neuen Gleichgewicht zu sein.
Zitierweise: Hanco Jürgens, Deutschland im Spiegel des niederländischen Gesellschaftswandels. 1989 bis heute, in: Deutschland Archiv, 27.11.2014, Link: www.bpb.de/196641