In der allgemeinen Erinnerung ist von der Verfassungsdiskussion, die sich zur Zeit der Wiedervereinigung entspann, vornehmlich der "Artikelstreit" im Gedächtnis geblieben. Dabei ging es um die Frage, ob die Einheit über Grundgesetzartikel 23, der den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik vorsah, oder Artikel 146, und somit auf der Grundlage einer neuen Verfassung, zu vollziehen sei. Dass insbesondere von Akteuren, die eine Vereinigung allein nach Artikel 23 ablehnten, auch bereits inhaltliche Impulse für eine neue Verfassung ausgingen und wie diese aussahen, soll im Folgenden skizziert werden.
Artikel 23 GG
Feier zum des Tag der Deutschen Einheit vor dem Berliner Reichstag am 3. Oktober 1990. Mehrheitlich sprachen sich die Deutschen in Ost und West für eine schnelle Wiedervereinigung nach Artikel 23 des Grundgesetzes aus (© Bundesregierung, B 145 Bild-00106330, Foto: Christian Stutterheim)
Feier zum des Tag der Deutschen Einheit vor dem Berliner Reichstag am 3. Oktober 1990. Mehrheitlich sprachen sich die Deutschen in Ost und West für eine schnelle Wiedervereinigung nach Artikel 23 des Grundgesetzes aus (© Bundesregierung, B 145 Bild-00106330, Foto: Christian Stutterheim)
Der Artikel 23 formulierte, dass das Grundgesetz "[i]n anderen Teilen Deutschlands [...] nach deren Beitritt in Kraft zu setzen" sei. Dieser war bereits 1957 beim Beitritt des Saarlands zur Bundesrepublik zur Anwendung gekommen. Die Befürworter eines Beitritts der DDR zur Bundesrepublik argumentierten, dass so das Grundgesetz als "erfolgreichste Verfassung der deutschen Geschichte" erhalten werden könne.
Die Zustimmung zum Grundgesetz, die von den Westdeutschen durch die Partizipation am politischen System – als ein plébiscite de tous les jours – demonstriert werde, hätten auch die Ostdeutschen mit der Volkskammerwahl am 18. März 1990 gegeben, bei der schließlich die Allianz für Deutschland durch ihr Eintreten für eine Vereinigung nach Artikel 23 gewonnen habe. Somit wachse dem Grundgesetz Legitimität von allen Deutschen zu. Das Grundgesetz sei ohnehin "von Anfang an auch als Verfassung für das ganze deutsche Volk entworfen" worden.
Artikel 146 GG
Artikel 146, nach dem das Grundgesetz seine Gültigkeit verliert "an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist", war für seine Befürworter die lex specialis, also gegenüber Artikel 23 die vorrangige Bestimmung zum Vollzug der Einheit.
Um den Artikelstreit, der bald wie ein "Glaubenskrieg" anmutete, zu entspannen, wurde von verschiedenen Seiten ein kombinierter Weg entworfen: erst ein Beitritt nach Artikel 23 und dann die Einberufung einer verfassunggebenden Versammlung nach Artikel 146.
Union für Vereinigung nach Artikel 23 GG
Am 11. Februar 1990 erklärte der Bundeskanzler und CDU-Vorsitzende Helmut Kohl nach einer Moskaureise dem ZDF:
"Wir werden eine neue Verfassung zu schaffen haben […] Ich bin dafür, daß das, was sich bewährt hat, und zwar auf beiden Seiten, von uns übernommen werden soll. Es gibt auch Entwicklungen in der DDR in diesen 40 Jahren, die es sich sehr lohnt anzusehen. Ich bin ganz und gar dagegen, eine Position einzunehmen, die auf Anschluß hinausgeht."
SPD, FDP und Grüne im Artikelstreit
Wenngleich die Ost-SPD den Vereinigungsweg nach Artikel 146 verfolgte, hatte diese sich nach dem ernüchternden Ergebnis der Wahlen vom 18. März 1990 in eine Koalition unter Führung der CDU begeben und bekannte sich notgedrungen zu Artikel 23, um Einfluss auf die Aushandlung von Beitrittsmodalitäten nehmen zu können.
Die westdeutsche FDP folgte prinzipiell ihrem Regierungspartner auf dem Vereinigungsweg nach Artikel 23. Gleichwohl stand sie einer Überarbeitung des Grundgesetzes nicht ablehnend gegenüber, erachtete aber eine "grundsätzliche Neugestaltung" als "nicht notwendig".
Bei den westdeutschen Grünen verursachte ein links-intellektuelles Widerstreben gegen einen vereinten deutschen Nationalstaat, das etwas abgeschwächter auch in Teilen der SPD zu finden war, eine abwehrende Einstellung zur deutschen Einheit – bis schließlich "nicht mehr das Ob der Vereinigung […], sondern nur noch das Wie" diskutiert wurde.
Wahlplakat des Bündnis 90 zur Volkskammerwahl 1990 (© Bundesarchiv, Plak 100-062-008, Grafiker: Volkmer Staub)
Wahlplakat des Bündnis 90 zur Volkskammerwahl 1990 (© Bundesarchiv, Plak 100-062-008, Grafiker: Volkmer Staub)
Bei den ostdeutschen Grünen und der DDR-Bürgerbewegung sorgte man sich insbesondere um den Beitrag, der von der Friedlichen Revolution im wiedervereinigten Deutschland erhalten bleiben würde. Das Bündnis 90, das als Listenverbindung der Bürgerbewegungen Demokratie Jetzt, Neues Forum und Initiative Frieden und Menschenrechte für die Volkskammerwahl gegründet wurde, warb zusammen mit den Grünen im Wahlkampf mit der Losung: "Artikel 23: Kein Anschluß unter dieser Nummer!" Eine Wiedervereinigung sollte überhaupt erst nach der Demokratisierung der DDR und somit zwischen gleichberechtigten Verhandlungspartnern nach Artikel 146 vollzogen werden.
Kuratorium für einen demokratisch verfassten Bund deutscher Länder
Wie erwähnt, hatte Artikel 146 in neuer Fassung über den Tag der Wiedervereinigung hinaus Bestand und sah (beziehungsweise sieht noch immer) das Ende des Grundgesetzes bei Verabschiedung einer neuen Verfassung vor. Ungeachtet der Tatsache, dass damit eigentlich nur eine Selbstverständlichkeit abgebildet wird, denn das Volk als Träger des pouvoir constituant, sprich als konstituierende Gewalt, kann sich jederzeit eine neue Verfassung geben, stellte der Fortbestand dieser Regelung gewissermaßen den Rettungsanker für diejenigen dar, die weiter für eine neue Verfassung eintraten.
So legte etwa die feministische Initiative "Frauen für eine neue Verfassung" Vorschläge für eine neue Konstitution vor, deren Bestreben vornehmlich die Verbesserung der Frauenrechte war.
Plakat des Kuratoriums für einen demokratisch verfassten Bund deutscher Länder (© Bundesarchiv, Plak 102-064-028)
Plakat des Kuratoriums für einen demokratisch verfassten Bund deutscher Länder (© Bundesarchiv, Plak 102-064-028)
In exponierter Stellung befand sich hierbei das "Kuratorium für einen demokratisch verfassten Bund deutscher Länder", das am Vorabend des 17. Juni 1990 – dem damaligen Feiertag in Gedenken an den Volksaufstand von 1953 – in Berlin als erste gesamtdeutsche Bürgerinitiative gegründet wurde, "um eine breite öffentliche Verfassungsdiskussion zu fördern, deren Ergebnisse in eine verfassunggebende Versammlung einmünden sollen", wie es im Gründungsaufruf hieß.
Einige Mitglieder dieser Arbeitsgruppe, wie Tatjana Böhm, Erich Fischer, Ulrich K. Preuß, Wolfgang Templin, Wolfgang Ullmann und Rosemarie Will, fanden sich auch im Arbeitsausschuss des Kuratoriums wieder. Weitere Ausschussmitglieder waren Gerald Häfner, Lea Rosh, Hans-Peter Schneider, Jürgen Seifert oder Tine Stein. Um eine neue Verfassung nicht in isolierten Zirkeln zu entwerfen, veranstaltete das Kuratorium neben zahlreichen kleineren Veranstaltungen drei große Kongresse in Weimar (September 1990), Potsdam (Dezember 1990) und Frankfurt am Main (Juni 1991), an denen insgesamt über 2000 Bürgerinnen und Bürger teilnahmen und ihre Ideen einbrachten.
Verfassungsentwurf des Kuratoriums
Implizit die Integrationsfunktion einer neuen Verfassung betonend, wurden in der Präambel des Kuratoriumsentwurfs sowohl die freiheitlich-demokratischen Erfahrungen im westlichen als auch die demokratische Revolution im östlichen Staat angeführt. Der Entwurf verstand sich nicht als Totalrevision, sondern vielmehr als "Aktualisierung und Fortentwicklung des Grundgesetzes".
Das im Grundgesetz wenig konkretisierte Sozialstaatsprinzip sollte mit sozialen Grundrechten und Staatszielbestimmungen weiter ausgeformt werden: Bildung (Art. 7) und eine angemessene Wohnung (Art. 13a) als Menschenrechte. In Verbindung mit einem Recht auf Arbeit sollte der Staat zur Schaffung und Erhaltung von Arbeitsplätzen beizutragen haben (Art. 12a). Soziale Sicherung "im Alter und bei Krankheit, Pflegebedürftigkeit, Erwerbsunfähigkeit, Obdach- und Mittellosigkeit" war als Bürgerrecht vorgesehen (Art. 12b). Deutschland war definiert als "ein republikanischer, demokratischer, sozialer und ökologischer Bundesstaat" (Art. 20). Die ökologische Ausrichtung war eines der Wesensmerkmale des Verfassungsentwurfs. Neben einer Informations- und Dokumentationspflicht für alle die Umwelt berührenden staatlichen Entscheidungen (Art. 20a) wäre die Haushalts- und Ausgabenpolitik von Bund und Ländern dem Schutz der natürlichen Lebensbedingungen unterworfen gewesen (Art. 104a, 109, 115). Ferner sollte der Umweltminister eine Zustimmungspflicht – faktisch also ein Vetorecht – zu ökologisch bedeutsamen Vorhaben erhalten (Art. 65). Ein Bundestagsausschuss zur Technikfolgenabschätzung (Art. 45) war ebenso wie ein Ökologischer Rat von Bundestag und Bundesrat zur Unterstützung der Verwaltung und Gesetzgebung (Art. 53b) vorgesehen.
Stärkung der Legislative und der plebiszitären Demokratie
Generell wurde im Kuratoriumsentwurf die Legislative gegenüber der Exekutive gestärkt. So wurden das freie Mandat der Bundestagsabgeordneten hervorgehoben (Art. 38a) sowie die Rechte von Opposition und parlamentarischen Minderheiten im Hinblick auf die Einsetzung von Untersuchungsausschüssen und Akteneinsicht (Art. 43b, 44) ausgebaut, um einer "Ohnmacht des Parlaments [als] Gefahr für die Demokratie" vorzubeugen.
Die anzustrebende Betitelung "Bund deutscher Länder" für das neue Staatsgebilde verriet einen weiteren Wesenskern des Kuratoriumsentwurfs: die Stärkung der Bundesländer bei Zurücknahme unitaristischer Entwicklungen in 40 Jahren Bundesrepublik. Die Praxis der konkurrierenden Gesetzgebung sollte durch klare Abgrenzungen zwischen Bund und Ländern minimiert und den Ländern mehr Gesetzgebungskompetenzen zugestanden werden (Art. 72–74a). Demnach wäre der Bundesrat als permanente zweite legislative Kammer bei allen Gesetzesvorhaben des Bundestages zustimmungspflichtig gewesen (Art. 77). Zur Förderung eines Europas der "starken Regionen" hätten auch die "außenpolitischen Kompetenzen" der Länder erweitert werden sollen (Art. 32).
Eine Machtbeschneidung der Exekutive war auch zugunsten des direkten Volkswillens vorgesehen. Nach Meinung der Mitglieder des Arbeitsausschusses "wird die Beschränkung auf den repräsentativen Parlamentarismus der gewachsenen demokratischen Kultur und dem zunehmenden Bedürfnis der Bürgerinnen und Bürger nach Teilhabe nicht mehr gerecht".
Kritik und Scheitern des Entwurfs
So ambitioniert der Kuratoriumsentwurf nicht nur inhaltlich, sondern auch hinsichtlich der Fülle an Reformanstößen war, so wenig wunder nimmt die Kritik daran. Sein hohes Maß an Verrechtlichung hätte dem politischen Raum einiges an Materie entzogen. Dies brachte dem Entwurf den Vorwurf ein, auf "Verfassungsperfektionismus" zielend zu wenig der öffentlichen Sphäre zu überlassen. Moniert wurde, dass die Autorinnen und Autoren zwar den politischen Prozess pluralisieren wollten, "daß sie aber zur gleichen Zeit das Grundgesetz mit lauter Forderungen aus einem politischen Spektrum für alle verbindlich aufladen und zementieren möchten".
Seitens der Bundesregierung trafen die Bestrebungen zu einer neuen Verfassung auf viel grundsätzlicheres Ablehnen. Sie hielt es für schädlich, "unser bewährtes Grundgesetz in Frage zu stellen", denn jenes "dürfte auch für die 16 Millionen Landsleute in der DDR von Vorteil sein".
"Wir haben den Weg des bisherigen Art. 23 GG erfolgreich beschritten. Wir werden nicht zur Weggabelung zurückkehren und nachträglich die Option des alten Art. 146 GG ergreifen oder hinterherschalten. Eine Verfassungsneuschöpfung wird es mit uns nicht geben, auch keinen Umbau und keine Totalrevision."
Reformdebatte
Wolfgang Ullmann, Abgeordneter der Volkskammer und Mitglied des Kuratoriums, im Gespräch mit Demonstranten am Rande des Staatsaktes zur Vereinigung am 3. Oktober 1990 (© Bundesregierung, B 145 Bild-00102902, Foto: Klaus Lehnartz)
Wolfgang Ullmann, Abgeordneter der Volkskammer und Mitglied des Kuratoriums, im Gespräch mit Demonstranten am Rande des Staatsaktes zur Vereinigung am 3. Oktober 1990 (© Bundesregierung, B 145 Bild-00102902, Foto: Klaus Lehnartz)
Auf der erwähnten Bundestagssitzung wurde die Gründung einer 64-köpfigen Gemeinsamen Verfassungskommission (GVK) mit Mitgliedern zur Hälfte aus Bundestag und Bundesrat beschlossen, die, wie es der Einigungsvertrag (Art. 5) vorsah, notwendige Änderungs- und Ergänzungsarbeiten am Grundgesetz vornehmen sollte. Die Verfassungsdiskussion wurde in eine Reformdebatte kanalisiert. Nach einigem Hin und Her saß mit dem Bündnis 90/Die Grünen-Abgeordneten Wolfgang Ullmann zumindest ein Vertreter der DDR-Bürgerbewegung und des Kuratoriums in der GVK, die am 16. Januar 1992 zusammentrat. Ullmann, für den die Verfassungsfrage "[b]ei weitem die wichtigste aller Fragen der deutschen Vereinigung war", verließ jedoch die Kommission 16 Monate später.
Inmitten der Umsetzung der GVK-Empfehlungen leistete übrigens die PDS im Januar 1994 einen verspäteten Beitrag zur Verfassungsdebatte, indem sie einen eigenen Entwurf vorlegte.
Schlussbemerkungen
Eine andere Form der Wiedervereinigung als durch den zügig realisierbaren Beitritt der DDR zur Bundesrepublik scheint in der Rückschau eher unrealistisch. Schließlich drängte die Mehrheit der ostdeutschen Bevölkerung auf eine schnelle Einheit und das Momentum der außenpolitisch günstigen Situation sollte nicht ungenutzt verstreichen. Dass es aber nicht zu einer Vereinigung unter einem gestreckten Artikel 23 mit einer nachgeschalteten Verfassungsverabschiedung kam, lag zum einen am Unwillen der politischen Entscheidungsträger. Zum anderen gelang es den Befürwortern von Artikel 146 nicht, entsprechende gesellschaftliche Mobilisierungspotenziale zu erschließen. Das Kuratorium für einen demokratisch verfassten Bund deutscher Länder konnte mit einem eigenen Verfassungsentwurf zwar Publizität entfalten und ein gewisses Medienecho hervorrufen. Letztlich gelang es ihm aber nicht, die breite Bevölkerung von seinem Ansinnen zu überzeugen. Zwischen westdeutschem "Zurück zur Normalität" und ostdeutschem beginnenden "Vereinigungskater" wurde die sicherheitsstiftende Funktion des Grundgesetzes einer möglicherweise identitätsstiftenden Funktion einer neuen gemeinsamen Verfassung vorgezogen.
Man mag auch heute noch den Kuratoriumsentwurf angesichts der Vielzahl an aufgenommenen Themen und Reformanstößen als "knallbunte Wundertüte" charakterisieren.
Zitierweise: Christopher Banditt, Das "Kuratorium für einen demokratisch verfassten Bund deutscher Länder" in der Verfassungsdiskussion der Wiedervereinigung, in: Deutschland Archiv, 16.10.2014, Link: www.bpb.de/193078