Am 18. Februar 1965, im vierten Jahr nach dem Mauerbau, verkündeten der Vorsitzende des Ministerrates Willi Stoph und der Minister des Innern Friedrich Dickel, dass in zunehmendem Maße Bürgerinnen und Bürger der DDR in ihre Heimat zurück wollten, die sich zeitweilig außerhalb des Landes aufhielten. Als Gründe für ihren Wunsch nach einer Rückkehr hätten sie "die überzeugende Friedenspolitik" der DDR sowie die "Erfolge ihres sozialistischen Aufbaus" genannt. Wörtlich: "Sie [die Rückkehrer] wenden sich von dem reaktionären Regime der westdeutschen Bundesrepublik und Westberlins ab, um ein Leben in friedlichen Verhältnissen und mit einer gesicherten Perspektive zu führen."
Was beide Funktionäre verheimlichten, war die Tatsache, dass es keinen durchsetzbaren Rechtsanspruch auf Heimkehr in die DDR gab. Je nach politischer Zweckmäßigkeit erfolgte die Aufnahme, und bei einer Abweisung gab es heimliche "Rückschleusungen" in die Bundesrepublik gegen den Willen der Bürger, geregelt in "Vertraulichen Verschlußsachen".
Staatsbürgerschaft der DDR
Die Verfassung der DDR von 1949 hielt fest, dass Deutschland eine "unteilbare Republik" sei, in Artikel 1 war zu lesen: "Es gibt nur eine deutsche Staatsangehörigkeit".
Die Legaldefinition des Begriffes "DDR-Staatsbürger" stellte auf den Zeitpunkt der Gründung der DDR ab. Wer Deutscher war und 1949 seinen ständigen Wohnsitz in der DDR hatte, war DDR-Staatsbürger, es sei denn, er hatte die Staatsbürgerschaft seitdem "verloren".
Was dieses Gesetz auch verschwieg, war, dass bereits seit Anfang der 1950er Jahre, also noch unter dem Dach der Verfassung von 1949, ein umfangreiches, streng geheimes Regelwerk zur Ausbürgerung von Rückkehrerinnen und Rückkehrern in die DDR existierte. Zwar propagierten die SED-Funktionäre öffentlich, dass rückkehrwillige Bürger das Recht hätten, "jederzeit“ ihren Wohnsitz in der DDR zu nehmen und sagten auch umfangreiche Hilfen bei der Eingewöhnung zu, intern sah das allerdings ganz anders aus.
Ausbürgerungen in den 1950er Jahren
Bereits im Mai 1955 unterschied Willi Stoph als damaliger Minister des Innern zwischen Rückkehrern und Zuziehenden.
Am 26. August 1957 erließ der nunmehrige Minister des Innern Karl Maron das erste umfangreiche Regelwerk, die Dienstanweisung 7/57 über Rückkehrer und Erstzuziehende als "Vertrauliche Verschlußsache B 3/1 – 730/57".
"Das Aufnahmeersuchen ist abzulehnen bei Rückkehrern und Zuziehenden,
a) deren Vergangenheit, ihr Verhalten in den Westzonen und nach dem Grenzübertritt erkennen läßt, daß sie gegen die DDR und den sozialistischen Aufbau eingestellt sind;
b) wenn sie vorbestraft sind und die Zahl und Art der Vorstrafen vermuten lassen, daß sie erneut straffällig werden und andere offensichtlich asoziale Elemente (Landstreicher, Bettler, Prostituierte u.ä.);
c) wenn es sich um Geistesgestörte und unheilbar Kranke handelt;
d) die schon mehrfach republikflüchtig wurden und deren Gesamtverhalten erkennen läßt, daß sie nicht die Gewähr geben, in der DDR festen Wohnsitz zu nehmen; […]"
Die SED-Funktionäre schauten sehr genau hin, welche Deutschen ihrem Staat nützlich sein konnten. Jeder Aufnahmeersuchende musste zur Überprüfung der Person in ein Aufnahmeheim, es sei denn, es handelte sich um Personen, "an denen ein besonderes staatliches Interesse“ bestand, beispielhaft aufgeführt "hochqualifizierte Fachkader, Spezialisten, Wissenschaftler".
Reform der internen Vorgaben von 1965
Am 30. Dezember 1965 gab der neue Minister des Innern Friedrich Dickel eine sehr umfangreiche überarbeitete Fassung der Vorschrift von 1957 als "Vertrauliche Verschlußsache B 3/1 – 55/65" heraus.
"Die Staatsbürgerschaft kann Rückkehrern im Interesse des Schutzes und der Sicherheit der Deutschen Demokratischen Republik aberkannt werden, wenn grobe Verletzungen der staatsbürgerlichen Pflichten vorliegen, insbesondere [...] wenn er Verbrechen aus feindlicher Grundeinstellung oder aus anderen Gründen begangen hat. Dazu gehören: [...] Schädlingstätigkeit [...].“
Egal aus welchem Grund ein Deutscher oder eine Deutsche in die DDR zurück wollte, ob zur Pflege der betagten Eltern, aus Heimweh oder um eine Ehe zu schließen, bei festgestellter "Schädlingstätigkeit" wurde er aus der "sozialistischen Gemeinschaft" ausgeschlossen.
Aberkennungsverfahren der Staatsbürgerschaft
Erich Honecker zeichnet 1975 den Minister für Staatssicherheit, Erich Mielke, und den Innenminister, Friedrich Dickel, als "Held der DDR" aus. Volkspolizei und Stasi arbeiteten bei der Ausbürgerung eng zusammen (© BStU)
Erich Honecker zeichnet 1975 den Minister für Staatssicherheit, Erich Mielke, und den Innenminister, Friedrich Dickel, als "Held der DDR" aus. Volkspolizei und Stasi arbeiteten bei der Ausbürgerung eng zusammen (© BStU)
Das Verfahren zur Aberkennung der Staatsbürgerschaft fand im Innenministerium in enger Zusammenarbeit mit dem Ministerium für Staatssicherheit statt. Es gab in den Aufnahmeheimen Arbeitsgruppen der Deutschen Volkspolizei (AG/VP), in denen Angehörige der Dienstzweige Kriminalpolizei und Pass- und Meldewesen mitarbeiteten. Jede Entscheidung war mit der Arbeitsgruppe des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) im Aufnahmeheim abzustimmen, aber die Hauptarbeit leistete die Polizei. Dazu gehörten "Vernehmungen, Befragungen und Prüfungshandlungen unter Anwendung kriminaltaktischer und -technischer Verfahren sowie psychologischer Untersuchungen mit dem Ziel der Verhinderung des Mißbrauchs des Aufnahmeverfahrens für feindliche Zwecke und zur Verhinderung des Eindringens feindlicher, krimineller und asozialer Elemente."
Bei einer beabsichtigten Aberkennung der Staatsbürgerschaft und nach Abstimmung mit dem MfS, übergab der Leiter der AG/VP einen begründeten Antrag an den Leiter der Abteilung Innere Angelegenheiten im Ministerium des Innern, der diesen nach Prüfung an den Ministerrat zur Entscheidung weiterleitete. Die Antragsentscheidung des Ministerrates wurde auf demselben Weg wieder zurück übermittelt. Die Leiter der Aufnahmeheime hatten dem Rückkehrer die Aberkennung der Staatsbürgerschaft mündlich zu übermitteln und diese Mitteilung aktenkundig zu machen. Der Betroffene selbst bekam kein Schriftstück in die Hand. Friedrich Dickel gab den Wortlaut der mündlichen Mitteilung in der Anlage 4 der internen Dienstvorschrift genau vor:
"Sie haben [….] die staatsbürgerlichen Pflichten gegenüber der Deutschen Demokratischen Republik grob verletzt. Nach § 1 Abs. 3 des Erlasses des Staatsrates der Deutschen Demokratischen Republik vom 21. August 1964 hat Ihnen der Ministerrat der Deutschen Demokratischen Republik mit sofortiger Wirkung die Staatsbürgerschaft der Deutschen Demokratischen Republik aberkannt. Damit geht Ihnen das Recht auf Aufnahme in die Deutsche Demokratische Republik verloren. Sie werden deshalb unverzüglich nach Westdeutschland/Westberlin zurückgewiesen.
Zur Beachtung: Gegen die Entscheidung des Ministerrates der Deutschen Demokratischen Republik über die Aberkennung der Staatsbürgerschaft der Deutschen Demokratischen Republik gibt es kein Rechtsmittel der Beschwerde."
Das Recht auf Heimat mündlich zu versagen, kein Rechtsmittel gegen diese so wichtige Entscheidung zuzulassen, war zutiefst menschenverachtend.
Rückblick auf den NS-Staat
Bereits im NS-Staat gab es eine ganz ähnliche Verfahrensweise, wie sie Jahrzehnte später vom SED-Staat praktiziert wurde. Ohne beides miteinander gleichzusetzen, sollen die Parallelen aufgezeigt werden.
Am 15. Juli 1933 war das Gesetz über den Widerruf von Einbürgerungen und die Aberkennung der deutschen Staatsangehörigkeit veröffentlicht worden
Der Leitartikel des "Niederdeutschen Beobachters" vom 15. Juli 1933 mit der Überschrift: "Großtag der Regierungsarbeit. Das Ende des Parteienstaates gesetzlich verankert - keine Staatsangehörigkeit mehr für Landesverräter und eingewanderte Volksschädlinge“ erläuterte das Anliegen des Gesetzes so:
"Den seit dem 9. November 1918 bis zum 30. Januar 1933 in Deutschland wie Heuschreckenschwärme eingebrochenen Ostgaliziern und anderen eingewanderten Volksschädlingen soll nunmehr gesetzlich die Staatsangehörigkeit im Wege des Einbürgerungswiderrufes entzogen werden können, falls die Einbürgerung nicht als erwünscht anzusehen ist. [...] Die Ausmerzung dieser unerwünschten Zeitgenossen aus dem deutschen Staatsverbande soll innerhalb von zwei Jahren durchgeführt sein. Aber auch noch einer anderen Kategorie von 'Staatsbürgern' wird nunmehr das Handwerk gelegt. Mit dem Besitz der deutschen Staatsangehörigkeit ist als selbstverständliche, aber auch vornehme Pflicht die der Treue gegen Reich und Volk untrennbar verknüpft. Gegen diese Treuepflicht haben zahlreiche im Ausland lebende oder dorthin geflüchtete Reichsangehörige verstoßen, indem sie insbesondere der feindseligen Propaganda gegen Deutschland Vorschub geleistet oder die Maßnahmen der nationalen Regierung herabzuwürdigen gesucht haben. Da diese landesverräterischen Elemente im Hinblick auf ihren Aufenthalt außerhalb des deutschen Hoheitsgebiets nicht anders zur Rechenschaft gezogen werden können, wird durch Gesetz die Möglichkeit geschaffen, ihr Verhalten, das einen schweren Mangel an nationaler Gesinnung verrät, durch Ausschluß aus der Volksgemeinschaft zu ahnden.“
Die mündliche Aberkennung der DDR-Staatsbürgerschaft ohne Rechtsmittel für Bürger, die im Ausland "als Gegner gegen die Arbeiter- und Bauernmacht hetzten“ oder die sich nicht in das gesellschaftliche Leben der DDR eingliedern würden, war ein durchaus ähnliches Verfahren. Allerdings veröffentlichten die SED-Funktionäre nur wenig zu ihrem Vorgehen. Brisant waren die "Vertraulichen Verschlußsachen“, die nur ausgewählte Bürger kannten.
"Rückschleusungen"
Es gab Deutsche, die trotz Aberkennung der Staatsbürgerschaft unbedingt in der DDR verbleiben wollten. Bereits 1955 verwendete Willi Stoph für diese Fälle das Wort "Rückschleusung".
"Rückkehrer und Erstzuziehende, die durch ihr Verhalten offensichtlich zeigen, daß sie sich nicht in das gesellschaftliche Leben in der DDR einfügen, sind nach Westdeutschland zurückzuschleusen. Das gilt insbesondere für asoziale und kriminelle Elemente. [...] Für die Durchführung der Rückschleusung ist der Leiter des VPKA [Volkspolizei-Kreisamt] verantwortlich. Rückschleusungen können nach folgenden Methoden durchgeführt werden: [...] Wenn die Gewähr der freiwilligen Ausreise nicht besteht, ist ein VP-Angehöriger mitzugeben. [...] Als Transportmittel können öffentliche Verkehrsmittel oder VP-eigene Fahrzeuge benutzt werden.“
Friedrich Dickel, Minister des Innern 1963-1989, Aufnahme von 1985 (© BStU)
Friedrich Dickel, Minister des Innern 1963-1989, Aufnahme von 1985 (© BStU)
1965 änderte Innenminister Friedrich Dickel lediglich die Bezeichnung für dieses Verfahren. Er benutzte nun die Worte "Rückweisung bzw. Rückführung“ und präzisierte die Vorgehensweise so:
"Rückweisungen sind aus Sicherheitsgründen einzeln (außer Familien) über verschiedene Grenzübergangsstellen, nur bei vorliegender Notwendigkeit in kleineren Gruppen bis zu 3 Personen durchzuführen. Sie sind bis zu den Grenzübergangsstellen durch VP-Angehörige zu begleiten. [...] Über die zurückzuweisenden Personen ist ein Übergabeprotokoll zu fertigen und vom Leiter der Arbeitsgruppe Volkspolizei zu unterschreiben. Die Übergabe ist durch den verantwortlichen Offizier der Grenzkontrollorgane bestätigen zu lassen.“
Kein durchsetzbarer Rechtsanspruch auf Heimkehr, entwürdigende Überprüfungen in den Aufnahmeheimen und dann der willkürliche Rauswurf mittels "Rückschleusung", das war die tatsächliche Umgangsweise. Die Gewissheit, dass die Bundesrepublik jeden Deutschen aufnehmen musste, war für den SED-Staat ein großer Vorteil. So schickten sie die unerwünschten Bürger nicht in die Staatenlosigkeit und es gab kein internationales Aufsehen. Öffentlich übten sie allerdings heftige Kritik am "Alleinvertretungsanspruch“ Bonns.
Wie viele Familien durch dieses willkürliche Verfahren getrennt wurden, lässt sich heute nicht mehr feststellen, aber die Doppelgesichtigkeit und Verlogenheit des SED-Staates werden am Beispiel der versagten Heimkehr besonders deutlich.
Fazit
1967 hielt Walter Ulbricht auf dem VII. Parteitag der SED ein Referat zum Thema "Die sozialistische Staats- und Rechtsordnung in der Deutschen Demokratischen Republik“. Ulbricht bezeichnete die DDR als einen "demokratischen deutschen Rechtsstaat; denn in ihr wurde die bürgerlich-demokratische Revolution, die mit dem Großen Deutschen Bauernkrieg begann, unter Führung der Arbeiterklasse zum Siege geführt. Damit wurde eine gesunde demokratische und sozialistische Entwicklung gewährleistet. In der DDR werden die fortschrittlichen Traditionen des deutschen Volkes gepflegt und weiterentwickelt.“
Damals konnte niemand hinter die Fassade schauen. Heute zeigen die einstmals geheim gehaltenen Vorschriften, dass keinesfalls auf "fortschrittliche Traditionen“ zurückgegriffen wurde, sondern dass Willkür und Rechtlosigkeit bei der Aufnahme von Rückkehrern praktiziert wurden. Mit dieser Verfahrensweise konterkarierten die SED-Funktionäre die eigene Verfassung und stellten sich außerhalb der Rechtsordnung, denn gemäß Artikel 8 der Verfassung von 1949 (bis 1968 in Kraft) waren die persönliche Freiheit und das Recht, sich an einem beliebigen Ort niederzulassen, gewährleistet, und im Artikel 134 war festgeschrieben: "Kein Bürger darf seinen gesetzlichen Richtern entzogen werden. Ausnahmegerichte sind unstatthaft."
Doch genau so ein "Ausnahmegericht" befand über den willkürlichen Entzug der DDR-Staatsbürgerschaft. Allerdings wurde auf strengste Geheimhaltung geachtet, selbst den Erfüllungsgehilfen gegenüber. So verschickte ein Oberstleutnant der VP Erhardt am 28. April 1958 die vertrauliche Dienstanweisung Nr. 7/57 an den Leiter der Zentralen (Polizei)-Lehranstalt Aschersleben, Oberst Leppert, mit dieser Anmerkung:
"Die eingeklammerten Absätze wurden den örtlichen Räten zur Kenntnis gegeben und können auch uneingeschränkt zu Lehrzwecken verwendet werden. Der übrige Inhalt dieser Weisung trägt einen Spezialfachcharakter und ist auch nur einem bestimmten Personenkreis zugänglich zu machen. Es ist daher nicht angebracht, den Gesamtinhalt der Weisung den Schülern zur Kenntnis zu bringen."
Zu den Informationen, die tabu waren, gehörte z. B. diese:
"Erstzuziehende und Rückkehrer, die in der DDR eine strafbare Handlung begangen haben und nach Westdeutschland zurückgeschleust werden sollen, sind nach Verbüßung der Strafe unmittelbar durch die Strafvollzugsanstalten nach Westdeutschland zu entlassen. Solche Personen sind mit dem Gefangenensammeltransportwagen (GStW) so zeitig in Marsch zu setzen, daß sie vor Ablauf der Strafhaft [...] zur Zurückschleusung übergeben werden."
Die SED-Funktionäre brandmarkten öffentlich Personenschleusungen von DDR-Bürgern mit Hilfe von Fluchthelfern aus der Bundesrepublik als "kriminellen Menschenhandel“ und führten Schauprozesse durch, intern aber praktizierten sie mit ihren "Rückschleusungen" eine durchaus ähnliche Verfahrensweise. Der Unterschied bestand darin, dass die Fluchthelfer Deutsche transportierten, die selbst weg wollten und gegen ihren Willen festgehalten wurden, während die SED-Funktionäre die heimlichen Rückschleusungen als eine praktische Möglichkeit benutzten, um sich unerwünschter Deutscher zu entledigen, und dabei spielte der Wille der Bürger gar keine Rolle.
Der SED-Staat war ein "Verwandlungskünstler".
Zitierweise: Heidrun Budde, DDR-Rückkehrer - Aufnahme nach politischer Zweckmäßigkeit, in: Deutschland Archiv Online, 10.10.2014, Link: http://www.bpb.de/192584