DA: Frau Links, Herr Lindner, Herr Hoffmann, haben Sie herzlichen Dank für Ihr Kommen. Wie kam es zu der Idee, die Ereignisse des Herbstes '89 als Graphic Novel darzustellen?
Johanna Links: Der erste Impuls kam von der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung, die uns gefragt hat, ob wir nicht Lust hätten, zu den Ereignissen des Herbstes '89 eine Graphic Novel herauszubringen. Mein Vater, der Verleger Christoph Links, hat dann gezielt Bernd Lindner für das Projekt angefragt. Uns war es besonders wichtig, jemanden zu haben, der sich in dieser Zeit auskennt und der auch in Leipzig verortet ist. Herr Lindner hat dann Herrn PM Hoffmann für das Projekt gewonnen.
Bernd Lindner: Die Anfrage kam für mich überraschend, aber ich war auch sofort davon angetan. Ich arbeite im Zeitgeschichtlichen Forum in Leipzig, bin also für die populäre Vermittlung von Zeitgeschichte beruflich zuständig. Wir sind immer auf der Suche nach neuen Wegen, die Geschichte gerade der jüngeren Generation näher zu bringen, die die DDR nur noch aus Erzählungen kennt.
Die eigentliche Herausforderung war es, keinen Text im populärwissenschaftlichen Stil zu erstellen, sondern einen, der sich in Zeichnungen umsetzen lässt. Mein Wunsch war es, einen Zeichner vor Ort zu finden, dem ich Leipzig nicht erklären muss, und der die Ereignisse zumindest teilweise miterlebt hat.
DA: Herr Hoffmann, was ist Ihr persönlicher Bezug zu den Ereignissen des Herbstes '89?
PM Hoffmann: Für mich war das eine sehr aufregende Zeit, die aber auch von Ängsten durchsetzt war. Zum einen hatte man das Gefühl, in ein System hineingeworfen zu werden, das man nicht versteht und das einen überfordert. Auf der anderen Seite hatte man die Chance, ein zweites Leben beginnen zu können und der eigenen Biografie eine ganz andere Wendung zu geben. Das Gefühl habe ich heute immer noch, wenn ich daran denke.
DA: Ist ein persönlicher Bezug für Sie als Zeichner eher ein Vorteil oder ein Nachteil?
PM Hoffmann: Wenn man sich künstlerisch mit etwas befasst, dann sind persönliche Erinnerungen und Beziehungen immer von Vorteil. Man muss natürlich aufpassen, dass man trotzdem genügend Distanz wahrt, um dem Ganzen eine Form zu geben, die auch andere verstehen können. Ich denke, solche starken Erinnerungen tun der Kunst gut, solange man nicht in seinem eigenen Blickwinkel verhaftet bleibt.
DA: Dabei war dann sicher der Prozess des Abgleichs mit den Eindrücken von Herrn Lindner entscheidend. Wie sah die konkrete Zusammenarbeit aus?
Johanna Links: Wir hatten zu Beginn des Prozesses eine Beratung durch einen freien Drehbuchautor, der uns dabei unterstützt hat, der Geschichte eine gewisse Dramaturgie zu verleihen. Schließlich war es für uns alle ein Pionierprojekt. Es ging dabei um ganz grundsätzliche Fragen: Wie erzählt man historische Ereignisse für ein junges Publikum? Wie alt soll die Hauptfigur sein, was soll sie durchmachen, soll sie sich auch verlieben? Die Identifikationsmöglichkeit war uns bei dieser Form der Vermittlung von Zeitgeschichte besonders wichtig.
Bernd Lindner: Wir hatten einen recht engen Zeitplan. Zunächst habe ich ein Storyboard erstellt, nachdem wir uns mit dem Verlag über die Grundgeschichte geeinigt hatten. Ich habe die Inhalte relativ konkret für jede Seite festgelegt.
Bei 80 Seiten muss man komprimieren: Es gibt eine fiktive Person, Daniel, dann gibt es die halbfiktiven Bürgerrechtler, die an reale, historische Personen angelehnt sind. So ein Comic lebt ja von markanten, wieder erkennbaren Gesichtern, also war klar, ich kann nicht 20 Akteure entwerfen. Wir mussten uns bei den Bürgerrechtlern auf vier bis fünf Personen beschränken, die dann ihren Vornamen zur Verfügung gestellt haben und über die viel transportiert wurde.
So habe ich Uwe Schwabe, einer der treibenden Kräfte des Herbstes '89 in Leipzig, gefragt, ob er bei der Geschichte mitspielen würde. Er ist Mitarbeiter bei uns im Haus und ehrenamtlich Leiter des Leipziger Archivs Bürgerbewegung, das sich ebenfalls darum bemüht, deren Geschichte zu vermitteln. Er war sofort einverstanden und war dann immer wieder mein Prüfstein. Mit allen Texten, die ich geschrieben habe, bin ich immer zu ihm gegangen, denn sie sollten - bei aller genrebedingten Kürze - dennoch inhaltlich stimmig sein.
PM Hoffmann: Am Anfang war ich zwar von der Idee sehr angetan, hatte aber schon Bedenken, ob das Ganze so umzusetzen ist. Ich hatte zwar Erfahrungen als Comic-Zeichner, hatte aber noch nie so eine komplexe, historische Geschichte illustriert, bei der Figuren und Schauplätze vorgegeben sind und wieder erkennbar sein müssen. Und das alles im realistischen Stil, bei dem jeder Ziegelstein passen muss, davor hatte ich jede Menge Respekt.
DA: Herr Lindner, wie viel von dem 17-jährigen Daniel steckt in Ihnen oder in Menschen, die Sie kennen?
Bernd Lindner: Ich bin Kultursoziologe, war lange in der DDR-Jugendforschung tätig und habe mich dort mit den Einstellungen und Befindlichkeiten von Jugendlichen beschäftigt. Für die Generation von Daniel, also die letzte Jugendgeneration der DDR, habe ich den Begriff der "distanzierten Generation" geprägt.
Diese Generation, die zwischen 1960 und 1975 geboren wurde, wuchs in eine Zeit und in ein Land hinein, die sie sich nicht ausgesucht hatten. Sie bekamen mit, dass ihre Eltern einen relativ hohen Preis dafür bezahlten, dass sie dort verhältnismäßig gut leben konnten. Das ständige Still-, und Mundhalten, das brave Mitmachen wurde in den Augen ihrer Kinder nicht angemessen honoriert. Wir haben mit unseren Ergebnissen der Jugendforschung in den 1980er Jahren belegen können, dass die nachwachsende Generation kaum noch ein Verhältnis zu diesem Land hatte. Zur sozialistischen Idee eventuell ja, aber nicht zu der Form, wie sie in der DDR praktiziert wurde.
So ein Kind dieser Generation hatte ich im Kopf, wobei Daniel nicht von Vornherein distanziert ist, sondern durch konkrete Erlebnisse in Elternhaus und Schule zunehmend innerlich auf Distanz geht zum DDR-System. Das war der Ausgangspunkt für die Geschichte. Bei Daniel kommen sukzessive mit dem Erwachsenwerden die ersten, prinzipiellen Fragen an das System und damit die ersten Brüche. Er bekommt den Druck von außen zu spüren, wie das bei vielen Jugendlichen der Fall war, wenn sie studieren wollten, ohne zuvor drei Jahre zur Armee zu gehen. Da setzt ein Umdenken bei ihm ein und er kommt zufällig in den Umkreis der Bürgerrechtler, genau als der Prozess des Herbstes ´89 losgeht. Er ist ein mitlaufender Beobachter, und zunehmend auch ein Beteiligter, da es ja sein eigenes Leben und seine Zukunft betrifft.
DA: Christian Schlüter schreibt in der Berliner Zeitung: "Der Zeichner hätte sich mehr künstlerische Freiheit nehmen sollen. Aber vielleicht hatte er ja mit den Vorgaben seines Autors Bernd Lindner zu kämpfen." Wie haben Sie das empfunden, Herr Hoffmann?
PM Hoffmann: Sicher waren die einzelnen Panels von Herrn Lindner vorgegeben, aber ich hatte auch die Freiheit, Änderungen vorzunehmen. Aber am Ende war ich dankbar über diese enge Struktur, weil es einem hilft, sich zu orientieren, gerade wenn man unter Zeitdruck arbeitet.
DA: Frau Links, waren Sie zu diesem Zeitpunkt schon in den Prozess eingebunden?
Johanna Links: Der Verlag hat den Prozess eng begleitet. Ich habe mir alle Texte von Herrn Lindner vorab angesehen, teilweise auch Änderungen vorgenommen. Das ging dann stückweise weiter an Herrn Hoffmann. Zum Teil haben wir zu dritt zusammengesessen und Anpassungen vorgenommen.
Ein klassischer Ablauf, in dem erst das Storyboard erstellt wird, dann die Zeichnungen angefertigt werden und zuletzt der Verlag draufschaut, war durch den engen Zeitplan gar nicht möglich. Wir mussten stückwerkartig arbeiten. Das hat uns zwischendurch auch Nerven gekostet, aber am Ende hat es gut funktioniert.
PM Hoffmann: Das ist übrigens eine ganz atypische Art und Weise, wie man Comics zeichnet. Anders als in den USA, wo viele Serien entstehen, die von einem ganzen Team erstellt werden, hat man es in Deutschland meistens mit sogenannten Autorencomics zu tun, bei denen alles aus einer Hand entsteht.
DA: Inwieweit waren Fotos Vorlagen für die Zeichnungen?
PM Hoffmann: Fotos waren Teil des Produktionsprozesses. Die Graphic Novel ist sozusagen eine Mischung aus Fotovorlagen, freien Illustrationen und digitaler Bearbeitung. Das ist meine Arbeitsweise, mit der ich auch andere Illustrationen erstelle. Und hier war es so, dass Szenen von mir nachgestellt worden sind. Meistens habe ich mich selbst als Model zur Verfügung gestellt und mit verschiedenen Kostümen gearbeitet, Kleidungsstücke aus den 1980er Jahren getragen, alles was man noch so findet. Zudem habe ich einige Personen aus meiner Familie und dem Freundeskreis verpflichtet. Mein Bruder hat viele Polizisten und Stasifiguren gespielt. Ich selbst bin Vorlage für den Vater von Daniel. Auch meine Freundin hat mitgespielt.
Das hat den Vorteil, dass man Gesichter bekommt, die man fortführen und animieren kann. Man erstellt ein Setting im Atelier, teilweise mit Kulissen und Gepäckstücken, alles, was in der Szene eine Rolle spielen könnte. Mein Bruder hat in einer alten Bereitschaftsuniform mit dem Original-DDR-Gummiknüppel meine Freundin verhaftet. Das ist im Comic die Szene, in der Katrin abgeführt wird.
Nach Friedensgebeten in sieben Kirchen fanden sich am 27.11.1989 etwa 200.000 Menschen zur traditionellen Montagsdemonstration vor dem Opernhaus in Leipzig ein (© Bundesarchiv, Bild 183-1989-1127-033, Foto: Friedrich Gahlbeck)
Nach Friedensgebeten in sieben Kirchen fanden sich am 27.11.1989 etwa 200.000 Menschen zur traditionellen Montagsdemonstration vor dem Opernhaus in Leipzig ein (© Bundesarchiv, Bild 183-1989-1127-033, Foto: Friedrich Gahlbeck)
Bernd Lindner: Der Herbst '89 ist ja relativ gut fotografisch dokumentiert, weil in Leipzig die einzige Ausbildungsstätte für künstlerische Fotografie in der DDR war, die Hochschule für Grafik und Buchkunst. Viele der Studenten sind anschließend in der Stadt geblieben, weil Leipzig ein gutes Pflaster war, um als Fotograf Geld zu verdienen, beispielsweise bei Messen und Verlagen. Sie haben dann im Herbst '89 mit großem Engagement den Prozess der Friedlichen Revolution dokumentiert.
In der DDR gab es keine lichtstarken Filme. Die Demonstrationen fanden aber nach 18 Uhr statt. Die Fotografen haben es dennoch mit ihrem Können geschafft, eine "Revolution im Halbdunkel" zu dokumentieren. Ich habe dann schon 1990 damit angefangen, zusammen mit den Fotografen Bildbände mit diesen Fotos herauszugeben, und wir haben Ausstellungen gemacht, die von ihren Bildern lebten. Diese Fotos habe ich auch Herrn Hoffmann gegeben, das war ein möglicher Bezugspunkt, aber keine zwingende Vorlage.
DA: Besonders beeindruckt hat uns das Panel (die Grafik) auf Seite 60, das vom Aufbau sehr komplex ist. Wie viel Freiheit ist in diesem Bild? Da mussten ja viele Losungen auf eingeschränktem Raum versammelt werden.
PM Hoffmann: Ja, zumal die Losungen auch alle stimmen mussten, aber das hat Herr Lindner sehr gut recherchiert.
Panel aus der Graphic Novel "Herbst der Entscheidung" zur Montagsdemonstration mit 200.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern am 23.10.1989 in Leipzig (© Ch. Links Verlag, Berlin 2014)
Panel aus der Graphic Novel "Herbst der Entscheidung" zur Montagsdemonstration mit 200.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern am 23.10.1989 in Leipzig (© Ch. Links Verlag, Berlin 2014)
Bei diesen Massenszenen war mir wichtig, die Atmosphäre in das Bild zu transportieren. Da kam uns auch diese Nachtstimmung entgegen. Ich habe mit Tuschepinseln gearbeitet.
Damit habe ich versucht, gerade bei den großen Menschenmassen, so eine atmosphärische Feinheit einzuarbeiten und diese Stimmung, die ganz typisch war, und an die sich noch viele erinnern können. Diese vielen Menschen, die relativ ruhig auf einem Platz stehen, jeder hat die Gebäude noch in Erinnerung, diese funzeligen Straßenlaternen, dieses leicht Bedrückende, was sich dann auflöst in eine gefühlte Erleichterung. Das darzustellen, war mir wichtig.
Aber insgesamt sind die Massenszenen frei komponiert, das lässt sich natürlich schwer im Atelier nachbauen. Und dann mussten noch die Akteure wie beispielsweise Daniel ins Bild gesetzt werden.
Bernd Lindner: Die Darstellung vom 9. Oktober 1989 war besonders knifflig. Das war ja der entscheidende Tag der Friedlichen Revolution, an dem die Demonstranten erstmals rund um den Leipziger Innenstadtring gelaufen sind. Das bedeutete, sie mussten an vielen neuralgischen Punkten vorbei, so an der Bezirksverwaltung der Staatssicherheit und der Volkspolizei. Das mussten sie sich erst mal trauen. Und die Frage ist nun: Wie stellen wir diesen Gang um den Ring auf ganz wenigen Seiten dar?
Ich habe mir überlegt, mit den Lageberichten der Volkspolizei zu arbeiten, die genau erfassen, was an dem Tag wann und wo stattfand. Aber für die bildliche Umsetzung hatte ich eigentlich eine ganz andere Idee skizziert, als sie PM Hoffmann sie dann angelegt hat. Als ich die fertigen Zeichnungen sah, war ich sofort begeistert.
Herr Hoffmann hatte es geschafft, alle markanten Orte, an denen die Demonstration vorbei zog, auf zwei Seiten zusammenzufassen, bis hin zur Darstellung der Szene, als an ihrem Ende der Jubel ausbricht. Dazu ist im Protokoll der Volkspolizei lakonisch vermerkt: "20.25 Uhr: ein Feuerwerkskörper wird gezündet." Da hatte tatsächlich jemand eine Silvesterrakete aufbewahrt und mit auf die Demonstration genommen, um sie - ohne vorher zu wissen, wie die Demonstration tatsächlich ausgeht - an diesem Abend zu zünden. So etwas muss man einfach bildlich darstellen. Es ist fast so, als wurde es damals aufgeschrieben, um Bild zu werden, aber es gibt kein Foto davon.
Panel aus der Graphic Novel "Herbst der Entscheidung" zur Demonstration mit 70.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern am 9.10.1989 auf dem Leipziger Ring (© Ch. Links Verlag, Berlin 2014)
Panel aus der Graphic Novel "Herbst der Entscheidung" zur Demonstration mit 70.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern am 9.10.1989 auf dem Leipziger Ring (© Ch. Links Verlag, Berlin 2014)
PM Hoffmann: Bei diesen Szenen sind die verschiedenen Perspektiven der Beteiligten dargestellt. Ich habe versucht, den Betrachter an der Situation teilhaben zu lassen. Mal sind die Gesichter individuell im Vordergrund gestaltet, mal werden sie eher anonymisiert, oder man sieht die Menge von oben von der Reformierten Kirche aus. Dies ist mühsam umzusetzen, soll aber das veranschaulichen, was man selbst von Demonstrationen kennt: Auf der einen Seite hat man das Gefühl, unter ganz unterschiedlichen Individuen zu sein, auf der anderen Seite ist man ein Teil der Menge und wird davon auch mitgetragen.
Johanna Links: Das war auch die große Herausforderung bei dem Projekt: Einerseits die Ereignisse zu dokumentieren, andererseits eine individuelle Geschichte zu erzählen, wie sie im Untertitel genannt ist: "Eine Geschichte der Friedlichen Revolution". Das macht auch den besonderen Reiz dieser Graphic Novel aus.
PM Hoffmann: Wenn man Geschichte anhand eines Mediums wie zum Beispiel Film oder Buch erzählt und sich zu streng an die historischen Fakten hält, dann muss jede Geschichte irgendwie erstarren. Es ist also immer eine Gratwanderung, der Geschichte auch Fantasie und Lebendigkeit zu verleihen, ohne dabei unseriös zu werden. Dies gilt insbesondere für den Comic, bei dem man sehr holzschnittartig arbeiten muss.
DA: Es war sicher auch eine Herausforderung, dass der Ausgang der Ereignisse bekannt war?
Bernd Lindner: Mir war Folgendes wichtig: Alles, was es bisher an Prosa-Literatur dazu gibt, wurde als Geschichte von oben geschrieben. Meine Intention war, unter anderem motiviert durch meine eigenen Erlebnisse, die Geschichte von unten zu erzählen, über die eigentlichen Akteure.
Das Besondere an dieser Friedlichen Revolution ist ja, dass sie keinen Anführer hatte. Dadurch hatte sie aber auch kaum bekannte Gesichter. Wir haben diesen Ereignissen praktisch Gesichter gegeben, weil in der Öffentlichkeit bisher nur ganz wenige Personen bekannt sind, bis auf die Pfarrer Christian Führer und Christoph Wonneberger vielleicht. Aber das waren schon herausgehobene Personen damals, eben Amtspersonen der Kirche.
Uwe Schwabe hat jetzt stellvertretend für alle Demonstranten den Deutschen Nationalpreis bekommen, den im Grunde jeder der 150 bis 200 Akteure verdient gehabt hätte. Sie haben ja alle auf dieses Ziel hingearbeitet. Und das war mir auch wichtig, in der Graphic Novel zu zeigen: Es ging ja bei den Demonstrationen nicht darum, die DDR zu stürzen, sondern die Demonstranten sind angetreten, um dieses Land, an dem ihnen etwas lag, zu verändern und zu verbessern.
DA: Lassen Sie uns da gleich einhaken. Zeigt der Comic kluge Akteure, die überrollt werden? Wie viel ist an dieser Deutung eigene Erfahrung oder gar eigene Enttäuschung?
Bernd Lindner: Wir, die wir die DDR reformieren wollten, sind - zumindest, was dieses Ziel angeht - allesamt gescheitert. Das war ein Ernüchterungsprozess. Die "Wende in der Wende", wie es Bärbel Bohley einmal ausdrückte, hat uns alle überrollt.
Ein Grundproblem der Bürgerrechtsbewegungen war, dass sie den Wunsch eines großen Teils der Bevölkerung nach Reisefreiheit völlig verkannt hatten. Dazu gibt es auch eine Szene in der Graphic Novel: Der ältere Mann, der bis zum Mauerbau in West-Berlin zur Schule gegangen ist und in Ost-Berlin gewohnt hat. Kurz vor dem Abitur kam die Mauer, und seitdem war er nicht mehr "drüben". Diese Leute hatten alle diese stille Sehnsucht, da mal wieder hinzukommen.
Bärbel Bohley hat am Abend des 9. November gesagt: "Die Regierung und die Menschen haben den Verstand verloren". Das war ihre spontane Reaktion auf die Öffnung der Mauer. In der Graphic Novel habe ich dem Bürgerrechtler Uwe dazu den Satz in den Mund gelegt: "Das ist die letzte Rache der SED". Die bricht jetzt unsere Bewegung. Doch diese konnte nur gebrochen werden, weil in den Köpfen der Bürgerrechtler nicht verankert war, dass der Wunsch nach freiem Reisen in der Bevölkerung so groß war, dass sie letztendlich alles andere überragt hat, als die Mauer fiel.
PM Hoffmann: Aus der Perspektive meiner Generation, verkörpert von Daniel, ging es auch darum, sich nicht nur materiell, sondern auch kulturell und geistig zu verbessern. Das wird im Comic auch auf zwei Seiten dargestellt. In West-Berlin war plötzlich so Vieles greifbar, wovon man geträumt hatte: Ich konnte in Ausstellungen gehen, konnte mir alle Bücher kaufen, meinen Horizont erweitern, und ich konnte sogar hier studieren. Und das ist ein Gefühl, das ich damals exakt genauso hatte. Ich habe dann die Wehmut nach der vertrauten DDR schnell abgeworfen und wusste, das ist die große zweite Chance.
Bernd Lindner: In West-Berlin lief damals der Film nach dem Roman von Milan Kundera "Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins" mit den sehr authentischen Szenen des Prager Frühlings. Da wir Kundera nicht kannten - er wurde in der DDR nicht verlegt -, war das für mich so ein Aha-Erlebnis. Ebenso haben wir eine Szene eingebaut, in der Daniel eine Galerie besucht. Es gab in der DDR kaum Bildbände über Moderne Kunst. Einmal erschien ein Katalog zu einer Paul Klee-Ausstellung, der war am ersten Tag ausverkauft. Dafür haben die Leute Schlange gestanden. Und jetzt kam ich hier rüber, und alle Galerien waren voll damit.
PM Hoffmann: Dieser Aspekt wird oft vergessen. Man denkt immer nur an die "blühenden Landschaften". Ich selber konnte mich ein bis zwei Jahre später für Kunstgeschichte einschreiben. Das war vorher undenkbar, wenn man nicht die entsprechenden Beziehungen hatte.
DA: Haben Ihre Erfahrungen in der DDR Einfluss auf den Daniel in der Graphic Novel gehabt?
PM Hoffmann: Irgendwie schon. Auch die Verpflichtung zur Armee. Ich sollte schon in der achten Klasse zu einer Berufsoffizierslaufbahn herangezogen werden, zumal ich nicht ganz unsportlich war. Damals klang das alles noch aufregend und verlockend, doch später regte sich in unserer Klasse sehr viel Kritik an diesem Beruf. Das spiegelt sich in Daniel wider: Diese innere Zerrissenheit, gar nicht unbedingt aus politischen oder weltanschaulichen Gründen. Man wollte einfach nicht seine Lebenszeit verschwenden, nur um einen Studienplatz zu bekommen.
DA: Welche Zielgruppe haben Sie für die Graphic Novel im Blick?
Johanna Links: Wir haben von Anfang an gehofft, dass wir durch das Medium der Graphic Novel ein jüngeres Publikum, durch die Landeszentralen für politische Bildung auch Schülerinnen und Schüler erreichen. Nach dem, was wir bislang an Rückmeldungen haben, ist das auch gelungen. Die Kritik ist rundum sehr wohlwollend. Wir haben mit der Identifikationsfigur des 17-Jährigen Daniel jemanden geschaffen, der die Leserinnen und Leser mitnimmt, jemand, mit dem man gern eine Zeitreise macht. Trotzdem soll es auch eine dokumentarische Reise in die Welt der Bürgerbewegungen sein. Es geht uns am Ende vor allem darum, der Generation, die diese Zeit nicht selbst erlebt hat, dieses Stück der deutsch-deutschen Geschichte auf neue und zeitgemäße Art und Weise zu vermitteln.
DA: Herr Hoffmann, war die Zielgruppe entscheidend für den Stil der Zeichnungen?
PM Hoffmann: Nein. Ich habe zwar einen Sohn in dem Alter, der ist jetzt 14 Jahre alt und liest auch gern Comics, doch als Zeichner sollte man nicht zu viel über die Zielgruppe nachdenken, sondern lieber seinem Stil treu bleiben. Ich denke aber, dass ich mich in die Perspektive des Daniel selbst noch ganz gut hineinversetzen kann.
DA: Neben Schülerinnen und Schülern fühlen sich möglicherweise ebenso Lehrerinnen und Lehrer angesprochen. Hatten Sie überlegt, Unterrichtsmaterial mit aufzunehmen, wie beispielsweise bei dem von Ihnen veröffentlichten Comic "Tunnel 57"?
Johanna Links: Nein, weil wir uns bewusst absetzen wollten von einer didaktisch-pädagogischen Vermittlungsform. Wir wollten nicht ausschließlich Geschichte bebildern und zusätzliches Material mitliefern, also Lehrmaterial produzieren. Wir wollten ein originelles, eigenständiges Werk herstellen, das in der Graphic-Novel-Szene besteht. Es gibt zwar ein ergänzendes Glossar, aber der Fokus liegt darauf, dass die Geschichte in Bildern erzählt wird.
Bernd Lindner: Mir war es schon wichtig, zielgruppengerecht zu arbeiten, wobei ich auch die Zielgruppe hinsichtlich der Altersspanne etwas weiter sehen würde. Und ich habe Wert darauf gelegt, dass die Akteure von damals, die ich fast alle kenne, sagen können, dass die Geschichte authentisch ist und sie sich darin wiederfinden können. Das war ich ihnen und mir schuldig. Und bis jetzt ist die Resonanz von ihrer Seite gut.
DA: Mussten Sie sich damit auseinandersetzen oder war es von vornherein klar, dass eine Graphic Novel ein geeignetes Medium zur Darstellung der Ereignisse des Herbstes '89 ist?
Bernd Lindner: Sonst hätte ich es nicht gemacht.
PM Hoffmann: Ich würde die Frage anders stellen: Was spricht dagegen? Man kann alles mit einer Bildergeschichte erzählen. Und heute sind Bilder so präsent im Alltag, da ist es durchaus legitim, damit auf junge Menschen zuzugehen. Es gibt ja im Übrigen bereits viele Beispiele mit sehr ernsten Inhalten, bei denen das gut funktioniert hat. Ich denke da an "Barfuß durch Hiroshima" oder den "Maus"-Comic.
Johanna Links: Wir haben uns als Verlag natürlich auch dem Zeitgeist angepasst: Der Stellenwert des Comics beziehungsweise der Graphic Novel hat sich grundlegend geändert, mittlerweile auch in Deutschland. Comics sind im öffentlichen Diskurs präsent und werden als Medium für die Vermittlung von Inhalten ernst genommen. Zudem ist für uns das diesjährige Doppeljubiläum - 25 Jahre Friedliche Revolution und 25 Jahre Ch. Links Verlag - ein willkommener Anlass, etwas Neues auszuprobieren.
Das Interview führten Clemens Maier-Wolthausen und Katharina Barnstedt
Zitierweise: "Fast so, als wurde es damals aufgeschrieben, um Bild zu werden." Ein Gespräch zur Entstehung der Graphic Novel "Herbst der Entscheidung", in: Deutschland Archiv, 15.9.2014, Link: http://www.bpb.de/191378
Literaturverweise:
Bernd Lindner, "Bau auf, Freie Deutsche Jugend" - und was dann? Kriterien für ein Modell der Jugendgenerationen der DDR,in: Generationalität und Lebensgeschichte im 20. Jahrhundert, Hera von Jürgen Reulecke (Hg), Schriften des Historischen Kollegs München 2003, S. 187 -215.
Bernd Lindner, Das eigentliche Gestaltungsfeld. Kulturelle Prägungen der Jugendgenerationen in der DDR, in: Deutschland Archiv 1/2005, S. 49 – 56.
Interner Link: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ), 33-34/2014, Themenheft "Comics"