Auch zum 25. Jahrestag der Friedlichen Revolution wird wieder an die mutigen Männer und Frauen erinnert werden, die den politischen Umbruch 1989 angestoßen haben. Sofern solche Ehrungen den geschichtspädagogischen Impuls ausdrücken, dass gesellschaftliche Veränderungen hin zur Freiheit die Zivilcourage von Einzelnen oder Gruppen voraussetzen, ist nichts dagegen einzuwenden. Zweifelsohne liegt das Verdienst der Bürgerbewegten in der DDR darin, alternativ zum SED-Staat universelle Werte artikuliert, als Avantgarde mit Aktionen den Angstfaktor aufgeweicht, lokale Initiativen vernetzt, für die Zivilität der Proteste gesorgt und eine Kompromisskultur garantiert zu haben. Gerade die beiden letzten Faktoren sind angesichts der Bürgerkriegs-Turbulenzen im Nahen Osten, in Nordafrika und neuerdings der Ukraine nicht hoch genug zu würdigen.
Zurückweichen, nicht Implodieren
Als dominante Ursache für das Gelingen der Friedlichen Revolution greift der Blick auf die Bürgerrechtsbewegung aber zu kurz. Hier soll nicht der These der Implosion des SED-Staates das Wort geredet werden.
Nur wenig Protestpotenzial, aber viel (theoretisches) Unterdrückungspotenzial
Das Protestpotenzial in der DDR war im September 1989 kaum über das übliche Maß hinausgewachsen. Die Zahl der Oppositionellen war überschaubar. Der Staatssicherheitsdienst zählte 1989 etwa 60 Personen zu den "unbelehrbaren" Meinungsführern und rund 600 zu den "Führungsgremien" in den Gruppen – keine unglaubwürdige Schätzung. Das Potenzial der "Teilnehmer von Aktivitäten/Veranstaltungen", das bei Friedens- und Protestaktionen Ende der 1980er Jahre mobilisierbar war, umfasste demnach 2.500 Personen plus "Sympathisanten oder politisch Irregeleitete".
Von Leipzig springt der Funke über
Die Situation in Leipzig stellte daher auch eher eine Anomalie dar. Durch das Zusammenwachsen von Kirchenkreisen, Oppositionellen und Ausreiseantragstellern entwickelte sich hier die Montagsdemonstration zu einer neuen Protestform. Sie fanden seit September 1989 im Anschluss an die Friedensgebete statt, die seit Mitte der 1980er Jahre jeden Montag in der Nikolai-Kirche abgehalten wurden. Die Montagsdemonstration wurde als Modell und Ereignis zum "Motor der Revolution".
Doch der Funke sprang erst auf andere Städte über, als die SED "Schwäche" zeigte. Am 29. September wurde bekannt gegeben, dass die Flüchtlinge in den Botschaften der Bundesrepublik noch vor dem 40. Jahrestag der Gründung der DDR am 7. Oktober ausreisen dürfen. Selbst in Leipzig überstieg die Zahl der Demonstranten erst nach dieser Ankündigung die Grenze von Zehntausend. Sie schwoll am 2. Oktober auf 20.000 an. Am Jahrestag der DDR-Gründung waren es 10.000, am 9. Oktober 70.000,
Die quantitative Demonstrationsdynamik folgte am Anfang offenbar vor allem der Ausreise- und Fluchtdynamik.
Konflikte innerhalb der SED
Die SED-Funktionäre in Leipzig und Dresden, die wie Hans Modrow und Wolfgang Berghofer mit den Demonstranten sprachen, wurden in der Berliner SED-Zentrale mit den Worten "Verräter" und "Kapitulanten" bedacht. Diese Worte belegen die wachsende Entfremdung zwischen unterschiedlichen Gruppierungen des SED-Führungspersonals.
Erst nach dem Sturz Erich Honeckers am 18. Oktober stieg die Beteiligung an den Demonstrationen auch außerhalb der drei sächsischen Bezirksstädte bedeutend an. Die Teilnehmerzahlen nahmen nach der Maueröffnung zwar ab, es blieb aber ein fester Kern von Aktiven. Erst nach dem Sturz von Egon Krenz und dem Politbüro Anfang Dezember ging die Zahl der Demonstrationen nennenswert zurück.
Lenin soll einmal gesagt haben, dass die Deutschen sich eine Bahnsteigkarte kaufen würden ehe sie einen Bahnhof stürmten. Es scheint, als hätte die Mehrheit nur darauf gewartet, dass Egon Krenz ihnen diese Bahnsteigkarte aushändigte. Die Aufforderung zum Dialog durch die SED in paradoxer Paarung mit einem gleichzeitig unzureichenden Dialogangebot stimulierten offenbar das Protestverhalten, bis Krenz und Co. schließlich vertrieben wurden. Ob das dargelegte Protestverhalten für die gesamte DDR zutrifft, müsste genauer untersucht werden.
Agonie der Staatspartei
Damit stellt sich die Frage nach der Rolle der SED in der Friedlichen Revolution. Als Staatspartei war sie durch die jahrelange Unterdrückung der Freiheitsrechte diskreditiert. Dieses bestätigte sich zu Beginn der Revolution noch einmal. Daher wurde der SED und ihren Funktionären in Revolutions- und Oppositionsdarstellungen vor allem die Rolle des Gegenparts, Unterdrückers und bestenfalls die des Bremsers zugebilligt.
Dabei liegt es auf der Hand, dass gerade die Agonie der Staatspartei, ihr Zögern und widersprüchliches Handeln, eine der wichtigsten Grundvoraussetzungen für den Erfolg der Revolution war. Es reicht kaum aus, nur auf den Starrsinn der gesundheitlich angeschlagenen alten Männer im Politbüro zu schauen. Zur Selbstblockade gehörten auch die Funktionäre in der zweiten und dritten Reihe. Die, die wollten, sich aber nicht trauten. Und die, die konnten, aber nicht wollten. Die Geschichte der Friedlichen Revolution ist auch eine Geschichte verpasster Reformchancen im Herrschaftsapparat und eines gescheiterten Generationswechsels.
Die Greise an der Spitze von Partei und Staat
Greise DDR-Führungsriege bei der Liebknecht-Luxemburg-Demonstration am 15. Januar 1989; vordere Reihe v.l.n.r.: Willi Stoph, Egon Krenz, Joachim Herrmann, Erich Honecker, Erich Mielke (© Bundesarchiv, Bild 183-1989-0115-011, Foto: Rainer Mittelstädt)
Greise DDR-Führungsriege bei der Liebknecht-Luxemburg-Demonstration am 15. Januar 1989; vordere Reihe v.l.n.r.: Willi Stoph, Egon Krenz, Joachim Herrmann, Erich Honecker, Erich Mielke (© Bundesarchiv, Bild 183-1989-0115-011, Foto: Rainer Mittelstädt)
Natürlich waren da auch die Greise der obersten Riege. Der Altersdurchschnitt im obersten Entscheidungsgremium, dem Politbüro der SED, lag vor dem erzwungenen Rücktritt Honeckers bei 67,3 Jahren.
Alle stammten aus dem Arbeitermilieu der Vorkriegszeit. Die Politik, nicht Bildung und berufliche Karrieren im engeren Sinne, hatten sie an die Hebel der Macht gebracht. Sie waren abgehärtet durch die Erfahrungen im Nationalsozialismus und Stalinismus. Ihre Ausbildung hatten sie größtenteils an Parteieinrichtungen in Deutschland und der Sowjetunion erworben. Diese Gruppe verkörperte die erste Aufbaugeneration der DDR, die die Macht mit Hilfe der sowjetischen Besatzungsmächte ergriffen und festgehalten hatte und nun nicht wieder abgeben wollte. Vielleicht war es gerade ihr Wissen darum, dass ihre Volksdemokratie eine Mogelpackung war, das sie hinderte, rechtzeitig loszulassen und Jüngeren den Weg freizumachen. Die Angst vor dem Volksaufstand vom 17. Juni 1953 war noch 1989 präsent.
Derartiges Spitzenpersonal saß wie ein Pfropfen auf Institutionen, die zudem durch systemnahes Personal aus den unterschiedlichen Kohorten der DDR-Generationen geprägt waren. Menschen, relativ angepasst, die in bescheidenem und verhältnismäßig sicherem Wohlstand aufgewachsen waren und die Vorteile des DDR-Bildungssystems genossen hatten. Viele, die in Positionen auf der mittleren Leitungsebene gelangten, hatten eine politisch geprägte, aber dennoch fachlich anspruchsvolle Universitätsausbildung hinter sich. Fachleute mit SED-Parteibuch mussten sich jedoch auch im 40. Jahr der DDR der Letztentscheidung von Arbeiterfunktionären beugen.
Vergleicht man Aufsätze des Altkaders Klaus Sorgenicht mit Aufsätzen von Rechtsprofessoren der Universitäten oder von Richtern des Obersten Gerichtes in den juristischen Fachzeitschriften ‚Neue Justiz‘ oder ‚Staat und Recht’ wird dieses Phänomen deutlich. Sorgenicht (Jg. 1923) war lange Jahre als Abteilungsleiter im ZK für Rechtsfragen zuständig. Sein juristisches Wissen hatte er an der Moskauer Parteihochschule der KPdSU und in einem Fernstudium an der Deutschen Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft in Potsdam erworben. Bei allen gravierenden Mängeln, die das DDR-Rechtssystem aufwies, wirken die Aufsätze der Fachjuristen filigran gegenüber den ideologisch grobschlächtigen Ausführungen des Apparatschiks Sorgenicht zur Klassenfrage in der DDR-Fachzeitschrift ‚Neue Justiz‘. Noch in den 1970er Jahren zog er gegen "revisionistische Lehren", das war das Vokabular der 1950er Jahre, zu Felde, die "der Konterrevolution in den sozialistischen Ländern die Tore […] öffnen."
Die Zweite Garde
In der politischen Herrschaftsriege "darunter" sah es nicht besser aus. Die Ersten Sekretäre der 15 SED-Bezirksleitungen waren alle im Vorkriegsdeutschland geboren, der älteste 1919 (Hans Albrecht, Suhl). Die meisten waren 60 Jahre oder älter, fünf waren 1989 im Rentenalter, die Jüngsten 1930 geboren (Christa Zellmer, Frankfurt; Günter Jahn, Potsdam; Siegfried Lorenz, Karl-Marx-Stadt). Der Altersdurchschnitt lag bei 62,6 Jahren.
Die teilweise selbst schon überalterten Personen waren die ‚geborenen‘ Nachrücker für das Politbüro oder andere Spitzenfunktionen im SED-Staat. Dass ein Funktionär wie Hans Albrecht 21 Jahre auf seinem Posten in Suhl gesessen hatte, mochte jüngeren Funktionären aus der Reihe der Kreissekretäre der SED wenig Hoffnung auf baldige Beförderung und entscheidende Personalveränderungen machen. Die obere Nomenklatura war auf lange Zeiträume und Kontinuität eingerichtet, nicht auf Krisen, Dynamik und Reformen. Das nach den Rhythmen der Parteitage, also in 5-Jahresplänen, getaktete Nomenklatursystem
Nachdem Egon Krenz am 18. Oktober 1989 Erich Honecker als SED-Generalsekretär beerbte, wurde er am 24. Oktober von der Volkskammer auch zum Vorsitzenden des Staatsrates gewählt. Doch schon am 3. Dezember trat er gemeinsam mit dem gesamten Politbüro zurück (© Bundesarchiv, Bild 183-1989-1024-027, Rainer Mittelstädt)
Nachdem Egon Krenz am 18. Oktober 1989 Erich Honecker als SED-Generalsekretär beerbte, wurde er am 24. Oktober von der Volkskammer auch zum Vorsitzenden des Staatsrates gewählt. Doch schon am 3. Dezember trat er gemeinsam mit dem gesamten Politbüro zurück (© Bundesarchiv, Bild 183-1989-1024-027, Rainer Mittelstädt)
Die SED-"Hoffnungsträger" der zweiten Reihe - die Krenz’ und Modrows - waren selbst so lange im System mitgelaufen, dass ihnen die Mehrheit der DDR-Bevölkerung kaum wirkliche Neuerungen zutraute. Egon Krenz litt sichtlich unter dem "Prinz-Charles-Syndrom". Er hatte als Kronprinz so lange ausgeharrt, dass er eigentlich schon nicht mehr für die Thronfolge infrage kam. Der oberste Herrschaftsapparat im SED-Zentralkomitee war dermaßen auf Kontinuität, Kontrolle und die Person Honecker zugeschnitten, dass programmatische Erneuerungen dort gar nicht wachsen konnten. Der mit dem Perspektiv- und Nachfolgekaderstatus verbundene Anpassungsdruck erzeugte Hasenfüßigkeit. Von Krenz wird übereinstimmend berichtet, dass er von den ZK-Mitarbeitern aus seiner alten FDJ-Riege geradezu zum Handeln getrieben werden musste.
Je mehr sich die Krise im Spätsommer und Frühherbst 1989 zuspitzte, desto mehr musste die erste vollständig in der DDR sozialisierte Generation unter den Spitzenfunktionären befürchten, dass die beiden Generationen vor ihnen alles "in den Sand setzen" und damit auch ihre persönliche politische Zukunft gefährden würden. Aber auch sie befanden sich in dem geschilderten Dilemma: Einerseits durften (und wollten) sie nicht zu früh starten, sonst hätten die Alten ihre Karriere noch jäh beendet. Andererseits durften sie nicht zu lange warten, wenn sie nicht alles aufs Spiel setzen wollten. Aus dieser Gemengelage zwischen den Generationen an der Spitze entstand letztlich dieses Hin und Her, das in entscheidenden Augenblicken wechselweise zu Überreaktionen und Lähmung führte. Allerdings hatten die unterschiedlichen Gruppierungen das gemeinsame Ziel, die Revolution letztlich einzudämmen. Nur die Mittel waren verschieden.
Betonköpfe
Bei der Fälschung der Kommunalwahlen im Mai 1989 war die alte Welt der SED noch in Ordnung. Kein namhafter Funktionär begehrte wirklich gegen die Fälschung der Kommunalwahlen auf. Ein Kreissekretär wie Heinz Vietze (Jg. 1947) in Potsdam schüchterte kritische Nachfrager nach Erinnerung ehemaliger Genossen sogar ein.
Am Republikfeiertag, dem 7. Oktober 1989, schlug die Potsdamer Kreispolizei im politischen Verantwortungsbereich des ersten Kreissekretärs Vietze noch wahllos auf Demonstranten ein und ließ Dutzende festnehmen. Vietze argumentierte noch 1999, die Polizei habe nur das Volksfest zum Republikfeiertag schützen wollen.
Palastrevolten
Vietze war ein Exponent der dritten und vierten Reihe der SED, die durch Schachzüge oder Basisrevolten im November die alten Ersten Bezirkssekretäre ersetzten. Der Altersdurchschnitt fiel von etwa 66 auf 47 Jahre, was den Generationswechsel verdeutlicht.
Eine intellektuell wendigere Variante von Heinz Vietze war Roland Wötzel (Jg. 1938). Der Jurist und ehemalige SED-Bezirkssekretär für Wissenschaft und Erziehung in Leipzig wurde als einer der "Leipziger Sechs" bekannt. Zusammen mit dem Gewandhauschef Kurt Masur warfen sie ihren Namen für ein friedliches Ende der Montagsdemonstration am 9. Oktober in die Waagschale. Wötzel rückte dann im November zum Ersten Sekretär der SED auf und saß schließlich auch im Arbeitsausschuss der SED.
Dieser Arbeitsausschuss aus der Zeit der SED nach Egon Krenz verkörpert wie kein anderes Gremium die Funktionärsgeneration im Wartestand. 60 Prozent waren in den 1940er Jahren oder danach geboren, also politisch bewusst erst in der DDR aufgewachsen. Ältere verdankten ihre Zugehörigkeit zu diesem Gremium meist einem Karriereknick im alten System, was sie als Erneuerer zu prädestinieren schien.
Heinz Vietze in seinem Büro im Brandenburger Landtag, 2007 (© dpa)
Heinz Vietze in seinem Büro im Brandenburger Landtag, 2007 (© dpa)
Diese Frondeure wollten noch ihren Staat retten, trugen aber durch ihre Palastrevolten zur Dynamisierung der Revolution und zum Untergang der DDR bei. Sie mussten zwar Machtverluste im Vergleich zu den Positionen hinnehmen, die ihnen beim Weiterbestehen der DDR gewinkt hätten. Es gelang ihnen aber, die SED vor dem Untergang zu retten, was im Dezember 1989 keine Selbstverständlichkeit war.
Eher mangelnde Vorstellungskraft als Unfähigkeit
Angesichts des Kollaps‘ der DDR wird in der Regel die Unfähigkeit der SED-Führung zur Reform betont.
Für die Einsicht, dass man in der Wirtschaft nicht wie bislang weitermachen konnte, benötigte man kein Volkswirtschaftsstudium: Der Blick in relevante Industriebetriebe zeigte, wie verschlissen die Anlagen waren.
Reformvorschläge innerhalb der SED verhallen ungehört
In Vorbereitung des XII. Parteitages der SED hatten Wirtschaftswissenschaftler interne Diskussionen begonnen, die freilich vom zentralen Parteiapparat gedeckelt wurden. Doch ohne derartige Vorüberlegungen wäre es kaum denkbar gewesen, dass ab Anfang November Wirtschaftswissenschaftler in DDR-Zeitungen Position bezogen und Tabuthemen wie die Gleichbehandlung von Eigentumsformen, den Abbau von Planung und Bilanzierung, die Selbstständigkeit der Betriebe, Gewerbefreiheit, Preisreform, Kooperation mit westlichen Firmen bis hin zum joint venture anschnitten. In der Summe liefen ihre Reformvorschläge auf eine deutliche Stärkung marktwirtschaftlicher Elemente hinaus.
Auch manche Kombinats- und VEB-Direktoren hatten schon vorher vorsichtig jüngere Mitarbeiter und Genossen in ihren Betrieben ermuntert, sich Gedanken über einen Umbau zu machen. Zu ihnen gehörte auch Richard Schimko. Der Forschungsdirektor im Berliner Werk für Fernsehelektronik (WF) hatte zugleich als SED-Volkskammerkandidat einen gewissen Parteistatus inne.
In verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen lassen sich Reformvorschläge durch Fachleute nachweisen. Teilweise wurden sie sogar von Funktionären der mittleren oder regionalen Ebene unterstützt, aber letztlich nie realisiert. In den Unterlagen zu den Deponien für den "West-Müll" im Bezirk Potsdam finden sich zum Beispiel Pläne zur Sanierung der sogenannten Westmülldeponie. Es sollte verhindert werden, dass Giftmüll aus Westberlin das Grundwasser im Havelland verseuchte. Dieser Sanierungsplan wurde erst nach der deutschen Einheit von der Brandenburgischen Landesregierung realisiert. Beteiligt waren DDR-Fachleute, die schon vor 1989 vor der Wasserverschmutzung gewarnt hatten. Vor 1989 waren die Pläne daran gescheitert, dass die Deviseneinnahmen aus den Westmülldeponien nicht für den Umweltschutz reinvestiert, sondern an den defizitären zentralen Staatshaushalt abgeführt werden mussten.
Unzufriedenes MfS
Selbst in Bereichen der inneren Repression herrschte Unzufriedenheit mit Honeckers Politik. Einerseits setzte das MfS zur Abschreckung der Ausreisebereitschaft auf Kriminalisierung und Haft. Andererseits durchkreuzte Honecker diese Strategie immer wieder, indem er aus Gründen des internationalen Prestiges und der ökonomischen Abhängigkeit vom Westen Strafverfahren und Haftstrafen kassierte, milderte oder durch Freikauf und Entlassungen in den Westen faktisch eine Amnestie gewährte. Der Chef der Untersuchungshauptabteilung des MfS, der für die Vorbereitung der politischen Prozesse zuständig war, beklagte schon 1987, dass Gefängnisstrafen durch den Freikauf "ihrer abschreckende Wirkung gegenüber hartnäckigen Übersiedlungssuchenden weitergehend" beraubt worden waren.
Letzter Versuch: Sozialistischer Rechtsstaat
Hinter den Kulissen herrschte unter Juristen ohnehin ein Streit zwischen denen, die das 1988 eingeführte Schlagwort vom "sozialistischen Rechtsstaat" nur als ein Etikett ansahen und jenen, denen es um eine Verbesserung der Menschenrechtssituation und ein Mehr an Rechtsstaat ging. Manche dieser Diskussionen führten in direkter Linie zum 6. Strafrechtsänderungsgesetz von 1990, das die freigewählte Volkskammer kurz vor der deutschen Einheit verabschiedete.
Das wird deutlich an Positionen des Diskussionszirkels für einen modernen Sozialismus an der Humboldt-Universität. Eine Exponentin, die Juristin Rosemarie Will, plädierte zwar für eine größere Offenheit und Normentreue bei juristischen Entscheidungen, sie verwehrte sich aber gegen einen Pluralismus, der nicht an die Verfassungsziele des Sozialismus gebunden gewesen wäre. Konsequent plädierte sie im Oktober 1989 für eine Legalisierung der Sammlungsbewegung Neues Forum. Parteien, wie die neu gegründete sozialdemokratische SDP, sollten jedoch auf "Verfassungsfeindlichkeit" überprüft werden: "Der Staat darf und muss die Tätigkeit unterbinden, wenn Verfassungsfeindlichkeit vorliegt", argumentierte sie.
Fazit: Selbstblockade
Es ist fraglich, ob und wann die im Staats- und Parteiapparat diskutierten Reformen überhaupt eine Chance auf Realisierung gehabt hätten. Der Machtblock der Altvorderen aus der Aufbaugeneration stand davor. Als einen sich aufstauenden, aber in seiner politischen Entfaltung gleichwohl nachhaltig blockierten Unmut beschreibt ein SED-Insider die Situation vor dem Herbst 1989.
Die Rolle dieser "Nicht-Dogmatiker" in der SED sollte weder quantitativ noch inhaltlich überschätzt werden. Sicher gab es so etwas wie eine "Basisbewegung" innerhalb der SED und auch eine "Basisrevolte".
Gründungskongress des Neuen Forum im Januar 1990, auf dem sich die Bürgerbewegung zur Partei formierte (© Bundesarchiv, Bild 183-1990-0228-306, Foto: Hartmut Reiche)
Gründungskongress des Neuen Forum im Januar 1990, auf dem sich die Bürgerbewegung zur Partei formierte (© Bundesarchiv, Bild 183-1990-0228-306, Foto: Hartmut Reiche)
Es ist unbestritten das Verdienst der Ausreise- und Bürgerrechtsbewegung und "der Leipziger", überhaupt die ersten Breschen in die SED-Festung geschlagen zu haben. Die ersten Aufrufe des Neuen Forums, insbesondere der "Problemaufriss" und der "Aufruf an die SED-Mitglieder" erwecken allerdings den Eindruck, dass sich die Reformeliten außerhalb der Partei hier an die modernisierungsbereiten Eliten in der Partei und weniger an die breite Masse wandten.
Anders als in anderen klassischen Revolutionen brach keine Region, keine offizielle Institution (abgesehen vor der Kirche) wirklich rechtzeitig aus dem System Honecker aus. Das Einlenken der Modrows, Berghofers und Wötzels in Dresden und Leipzig bleibt verdienstvoll, weil es das Risiko einer Eskalation der Gewaltspirale entscheidend minderte. Als Angebot der SED für die breite Bevölkerung kam es ebenso zu spät wie die Krenzschen Aktions- und Erneuerungsprogramme. Das System Honecker in der kleinen DDR war so hermetisch, dass alle Verantwortungsträger bis zum Schluss mitmachten, obwohl viele wussten, dass es so nicht weitergehen konnte. So funktionierte das System irgendwie weiter, während es gleichzeitig mangels wirklicher Überzeugtheit unterspült wurde. So kollabierte es vergleichsweise schnell, als durch den aufgestauten Bürgerunmut von einem Tag auf den anderen neue Spielregeln galten.
Zitierweise: Christian Booß, Missglückter Generationswechsel und Reformstau als Voraussetzungen der Friedlichen Revolution, in: Deutschland Archiv, 11.8.2014, Link: http://www.bpb.de/189455