Unter den vielen Gedenktagen und Erinnerungsfeiern des geschichtspolitisch prall gefüllten Jahres 2014 sticht mit Blick auf die deutsche Geschichte das 25-jährige Jubiläum der Friedlichen Revolution als erster erfolgreicher Revolution auf deutschem Boden besonders hervor. In den Mittelpunkt des vorliegenden Beitrags soll eine Analyse der Behörde des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen (BStU)
Die BStU als "Kind" der Friedlichen Revolution
Rund 30 dem Neuen Forum, der Vereinigten Linken und der Umweltbibliothek angehörende Personen sowie unabhängige Bürger besetzten im September 1990 das Haus 3 der Zentrale des früheren Ministeriums für Staatssicherheit in der Normannenstraße. (© Bundesarchiv, Bild 183-1990-0904-020, Foto: Hanns-Peter Lochmann)
Rund 30 dem Neuen Forum, der Vereinigten Linken und der Umweltbibliothek angehörende Personen sowie unabhängige Bürger besetzten im September 1990 das Haus 3 der Zentrale des früheren Ministeriums für Staatssicherheit in der Normannenstraße. (© Bundesarchiv, Bild 183-1990-0904-020, Foto: Hanns-Peter Lochmann)
Es stellt keine geschichtspolitische Legendenbildung und Mythenstilisierung dar, wenn die BStU immer wieder als "wichtigstes – von der Bürgerbewegung erstrittenes – Erbstück der Revolution"
Die Besetzung der Stasi-Zentrale in der Berliner Normannenstraße und der damit einhergehende Hungerstreik eines kleinen versprengten Häufchens von Bürgerrechtlern um Bärbel Bohley und Jens Reich vom September 1990
Es war eine ebenso mächtige wie merkwürdige Interessenkoalition von SED/PDS-Funktionären, Vertretern der früheren Blockparteien und Meinungsführern der alten Bundesrepublik, die sich aus verschiedenen Gründen für eine Schließung beziehungsweise Vernichtung der Akten aussprach,
Die erfolgreiche Symbiose zwischen Recht und Revolution
Bärbel Bohley (4. v.l.) und Ingrid Köppe (5.v.l.) während der Abgabe einer Erklärung vor der Presse. Die Besetzer der ehemaligen Stasi-Zentrale in der Normannenstraße hatten alle Parteien und Fraktionen der Volkskammer und des Bundestages in einem offenen Brief aufgefordert, "die Interessen der Aktenopfer zu vertreten, anstatt vorschnelle Entscheidungen zu treffen". (© Bundesarchiv, Bild 183-1990-0905-029, Foto: Thomas Uhlemann)
Bärbel Bohley (4. v.l.) und Ingrid Köppe (5.v.l.) während der Abgabe einer Erklärung vor der Presse. Die Besetzer der ehemaligen Stasi-Zentrale in der Normannenstraße hatten alle Parteien und Fraktionen der Volkskammer und des Bundestages in einem offenen Brief aufgefordert, "die Interessen der Aktenopfer zu vertreten, anstatt vorschnelle Entscheidungen zu treffen". (© Bundesarchiv, Bild 183-1990-0905-029, Foto: Thomas Uhlemann)
Die Besonderheit dieses Vorgangs macht erst ein Blick in die europäische Geistes-, Rechts- und Revolutionsgeschichte eines halben Jahrtausends deutlich: 500 Jahre europäischer Revolutionsgeschichte zeigen, dass Recht und Revolution unterschiedlichen Handlungslogiken folgen. Während das Recht von seiner Natur her auf die Erhaltung von politischer Ordnung orientiert ist, will die Revolution die Machtverhältnisse mit allen Mitteln verändern.
Für viele Bürgerrechtler verlief dieser Prozess nicht ohne Friktionen. Pointiert brachte Bärbel Bohley diese Enttäuschung einmal auf den Punkt: "Wir wollten Gerechtigkeit und bekamen den Rechtsstaat."
"Der Rechtsstaat soll nun nachholen, was die Revolution versäumt hat. Die reine Gerechtigkeit, den Knabentraum von Revolutionären, kann er nicht auf diese Erde herabholen. Er verspricht es noch nicht einmal. Seine Verheißung ist viel bescheidener, dafür aber realisierbar: Freiheit, Gleichheit und Sicherheit durch rechtliche Form."
Die BStU nahm und nimmt in der ausgleichenden Gewichtung von Revolution und Recht eine zentrale Stellung ein. Konrad Schuller hat das Bild von der Behörde als einem "institutionalisierten Paradox" geprägt: "Akteur der permanenten Revolution auf der einen Seite, Organ des Rechtsstaats auf der anderen".
Diese Zusammenhänge angemessen zu würdigen, heißt nicht, den schwierigen Aushandlungsprozess der rechtlichen Grundlagen zur Einsicht in die Stasi-Akten übersehen zu müssen. Es prallten bei den Verhandlungen um die gesetzlichen Regelungen des Zugangs zu den MfS-Unterlagen zwei gänzlich verschiedene Erfahrungswelten aufeinander. Die Ostdeutschen hatten gerade erst eine friedliche Revolution zu Stande gebracht und dabei hautnah erlebt, zu was Menschen fähig sein können. Hinzu kam der verständliche Zorn angesichts der Enthüllungen über die Machenschaften der Stasi, die das Land wie eine Krake im Griff gehabt zu haben schien, sowie das berechtigte Anliegen auf Wiedergutmachung und Informationsmöglichkeiten für die Opfer. Auf der anderen Seite stand der etwas behäbig gewordene Bonner Regierungs- und Parlamentsapparat, der sich behaglich im besseren Teil der Zweistaatlichkeit eingerichtet und nicht ernsthaft mit der Möglichkeit einer Wiedervereinigung gerechnet hatte. Während man in Bonn schon ein jahrzehntelanges Vertrauen in rechtsstaatliche Standards und deren Einhaltung durch die Verwaltungsinstanzen eingeübt hatte, so waren die Bürgerrechtler von ihrer Lebenserfahrung her verständlicherweise misstrauisch gegenüber staatlichen Behörden. Beide Seiten mussten einen mitunter harten Reifungsprozess durchlaufen: Die einen mussten lernen, wie langsam und schwergängig die rechtsstaatlichen Mühlen häufig mahlen; die anderen mussten erkennen, dass sie die Möglichkeiten einer souveränen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit lange unterschätzt hatten.
Die Einrichtung der BStU erforderte von allen Beteiligten eine gehörige Portion Mut, da es – auch im internationalen Vergleich – keinerlei Referenzobjekt und somit keine Vergleichsmöglichkeit gab. Während mit dem Beitritt der neuen Länder zum Geltungsbereich des Grundgesetzes viele bewährte Mechanismen und Instrumente des Rechts übertragen wurden, handelte es sich beim Umgang mit MfS-Unterlagen um eine vergangenheitspolitische Innovation, die sich als Präzedenzfall erst bewähren musste. Es ist daher nicht übertrieben, von einer "Revolution […] für die Rechtstradition"
Ein erfolgreicher Exportartikel
Oft wird im öffentlichen Diskurs über die BStU darauf hingewiesen, dass andere Länder die Bundesrepublik um diese Behörde beneiden und sie nachahmen.
In Polen wurden die Akten der Geheimpolizei nicht an die staatlichen Archive abgegeben, sondern blieben in einem Sonderarchiv des Innenministeriums unter Verschluss.
Führt man sich die spezifische Situation in Deutschland im Vergleich mit den anderen genannten Staaten vor Augen, so lässt sich feststellen, "dass die Stellung der deutschen BStU innerhalb der institutionalisierten Kommunismusaufarbeitung […] äußerst günstig ist."
Deutschland profitierte von einer Sondersituation im Vergleich mit der Vergangenheitspolitik seiner östlichen Nachbarn. Anders als in den Staaten Osteuropas konnte es in der Bundesrepublik keine Nachfolgeorganisation geben, in der große Teile der Sicherheitspolizeien weiterexistierten. Die höhere Transparenz im Umgang mit den Akten der Diktatur hat ganz wesentlich damit zu tun, dass die früheren Diktatureliten an keiner zentralen Machtposition im wiedervereinigten Deutschland überdauern konnten. Allgemein herrschte in Ost- und Mitteleuropa eine nicht zu verleugnende Tendenz vor, die sich aus der Vergangenheit ergebenden Aufarbeitungsprobleme an "Moskau" als einer Art Zentralsündenbockinstanz abzuschieben. In der Bundesrepublik konnte man durch den Anschluss an die erprobte Demokratie in Westdeutschland die Geschichtsaufarbeitung deutlich selbstbewusster angehen. Mit anderen Worten: Die vergangenheitspolitischen Rahmenbedingungen waren in Deutschland ungleich günstiger als in den anderen Warschauer-Pakt-Staaten.
Nur wegen diesen günstigen Voraussetzungen besitzt die BStU heute eine Art prototypischen Charakter für andere Länder. Seit Mitte der 1990er Jahre intensivierte die Behörde ihre Arbeit mit internationalen Partnern immer weiter. Es kommen in regelmäßigen Abständen Abgesandte aus Ländern nach Berlin, die sich im Umbruch befinden, um sich von der Arbeit der BStU ein Bild zu machen und sich beraten zu lassen. Nicht nur aus Osteuropa, auch aus anderen Ländern wie dem Irak, Argentinien oder Kambodscha reisen Delegationen mit diesem Anliegen in die bundesdeutsche Hauptstadt.
Gerade der erhebliche Zeitvorsprung in der Genese und die in den vergangenen Jahren gesammelten Erfahrungen machen die Behörde für die aus aller Welt anreisenden Delegationen besonders wertvoll. Bei den Forderungen nach einer Übertragung des "deutschen Modells" auf andere Länder darf allerdings nicht vergessen werden, dass es "den Königsweg, mit dem historischen Erbe von Diktaturen umzugehen, nicht gibt."
Die Zukunft der Behörde
Die BStU verfügt über ein ausgesprochen vielschichtiges und heterogenes Aufgabenprofil. Zu ihren Aufgaben zählen: (1) die auch nach zwei Dekaden noch nicht vollständig abgeschlossene, mitunter äußerst komplizierte Rekonstruktion des MfS-Aktenbestandes; (2) die solide archivalische Erschließung und inhaltliche Auswertung des Schriftguts; (3) die Bearbeitung von Anträgen auf Akteneinsicht, die von Forschern, Journalisten und interessierten Bürgern gestellt werden; (4) die Forschung zu Strukturmechanismen und Arbeitsweisen der Stasi in der ehemaligen DDR; (5) die Publikation der Forschungsergebnisse dieser Arbeiten; (6) das Informieren der Öffentlichkeit und das Angebot von Deutungen zu bestimmten Aspekten in einem geschichtspolitisch stark verminten Gelände; (7) die Kooperation mit externen Forschungsinstitutionen; (8) die politische Bildungsarbeit, die vornehmlich durch öffentliche Veranstaltungen und Kongresse wahrgenommen wird; (9) die Überprüfung von Mitarbeitern des Öffentlichen Dienstes auf ehemalige MfS-Tätigkeit; (10) die Zusammenarbeit mit Strafverfolgungsbehörden; (11) die Dienstleistungen für parlamentarische Untersuchungsausschüsse sowie (12) die Betreuung und Schulung ausländischer Delegationen bei der Vorbereitung von anderen Aufarbeitungsinstitutionen in verschiedenen Ländern, die sich in einem Transformationsprozess befinden. Aus dieser Auflistung, die sicher noch um den ein oder anderen Aspekt ergänzt werden könnte, geht hervor, dass es zu kurz greift, die BStU als rein vergangenheitspolitische Institution zu verstehen, die sich lediglich um die juristische Aufarbeitung von vergangenem Unrecht zu kümmern hätte. Neben der juristisch relevanten Tätigkeit, die sicher eine Kernaufgabe der Behörde darstellt, geht ihr Aufarbeitungsauftrag noch deutlich weiter.
Roland Jahn, Bundesbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR, während einer Rede bei einer Pressepräsentation des Stasi-Museums Normannenstraße 2012. (© Bundesregierung, Foto: Guido Bergmann)
Roland Jahn, Bundesbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR, während einer Rede bei einer Pressepräsentation des Stasi-Museums Normannenstraße 2012. (© Bundesregierung, Foto: Guido Bergmann)
So stellt sich abschließend die in den vergangenen Jahren intensiv diskutierte Frage nach der Zukunft der Behörde. Die Behördenleitung um Roland Jahn hat jüngst Pläne vorgestellt, die BStU nach dem Ende ihrer Archivtätigkeit zu einem sogenannten "Campus der Demokratie" umzufunktionieren.
Die aktuelle Große Koalition hat das Vorhaben der Vorgängerregierung inzwischen auf den Weg gebracht. Als letzten Tagesordnungspunkt vor der Sommerpause 2014 beschloss der Bundestag die Einsetzung der sogenannten "Expertenkommission zur Zukunft der BStU".
Eine orientierende Marke dürfte die bereits 2011 beschlossene Verlängerung des StUG bis zum Jahr 2019 sein, mit der der Verbleib der Behörde bis zum 30-jährigen Jubiläum der Friedlichen Revolution gesichert wurde.
Zitierweise: Manuel Becker, Die Behörde des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen. Ein spezifisches Instrument deutscher Vergangenheitspolitik, in: Deutschland Archiv, 14.7.2014, Link: http://www.bpb.de/188290