"Kerzenmanifestation" als Ursprung nicht nur der "Samtenen Revolution"
Das kommunistische Regime in Prag fiel vergleichsweise spät, am 17. November 1989, also erst acht Tage nach Aufhebung aller Reisebeschränkungen für DDR-Bürger. In Bratislava hatte aber schon am 25. März 1988 eine friedliche Kundgebung stattgefunden, der heute als "Kerzenmanifestation" oder auch "Bratislavaer Karfreitag" gedacht wird. Trotz ihrer gewaltsamen Niederschlagung durch die Polizei wird die Protestaktion in der Slowakei gern als vorzeitiger Auftakt nicht nur der "Samtenen Revolution" in der Tschechoslowakei, sondern des europäischen "annus mirabilis" 1989 insgesamt gedeutet.
Durch das Einschreiten der Polizei und der Staatssicherheit wurde für alle Bürger der Charakter der Tschechoslowakei als Unrechtsstaat sichtbar. Verletzt wurden durch die staatliche Intervention bürgerliche Rechte und Freiheiten, vor allem die Versammlungsfreiheit, die durch die Verfassung von 1960 garantiert war. All das bedeutete auch einen Verstoß gegen die Schlussakte von Helsinki aus dem Jahre 1975.
Spaltung in zwei Staaten zeichnete sich früh ab
Zum 1. Januar 1993 erlangte die Slowakei nach der Abspaltung von Tschechien erstmals die volle staatliche Souveränität. In beiden Ländern wird gerade im Vergleich mit dem früheren Jugoslawien bis heute gern betont, dass im 20. Jahrhundert kaum ein Staat so friedlich zerfallen sei, wie die frühere Tschechoslowakei.
Das Vorhandensein zweier Staaten, die aus der einstigen Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik (ČSSR, 1945 bis 1990), der späteren Tschechischen und Slowakischen Föderativen Republik (ČSFR, 1990 bis 1992) hervorgegangen waren, war den Deutschen bald bewusst, selbst wenn manche die Slowakei mit dem nicht viel älteren Slowenien verwechselten. Über die Hintergründe für das Auseinanderdriften von Tschechen und Slowaken wissen sie dagegen bis heute oft nur wenig.
Hier sei darauf verwiesen, dass schon der Prager Frühling eine Föderalisierung der ČSSR zur Folge hatte, die am 28. Oktober 1968, dem 50. Jahrestag der tschechoslowakischen Unabhängigkeit, verkündet wurde. Fortan gab es zwei Teilrepubliken, die Tschechische Sozialistische Republik und die Slowakische Sozialistische Republik. Nach dem Fall des sozialistischen Regimes in Prag im Spätherbst 1989 zeichnete sich ab, dass die ČSSR keinen Bestand mehr haben würde.
Im sogenannten "Gedankenstrich-Krieg" eskalierte die Diskussion über die Namensgebung für die postsozialistische Tschechoslowakei, die von Ende 1989 bis zur Abspaltung der Slowakei von Tschechien anhielt. Die Auseinandersetzung betraf die offizielle Landesbezeichnung wie auch deren Kurzform. Der erste nichtkommunistische Staatspräsident Václav Havel plädierte dafür, das Wort sozialistisch zu streichen, während slowakische Vertreter die Zweistaatlichkeit durch einen Bindestrich deutlich machen, das Land also nicht als Tschechoslowakei, sondern als Tschecho-Slowakei bezeichnet sehen wollten. Mit der zunehmenden Konkurrenz zwischen dem tschechischen Ministerpräsidenten Václav Klaus und seinem slowakischen Amtskollegen Vladimír Mečiar
Unbelastetes Verhältnis zu Deutschland
Das Verhältnis des neuen Staates Slowakei zu Deutschland war, anders als das zwischen Tschechien und Deutschland, historisch relativ unbelastet. Zu einem vergleichsweise entspannten Verhältnis trug sicher auch der Umstand bei, dass Deutsche und Slowaken nach der Spaltung der Tschechoslowakei nicht mehr Nachbarn waren. So de-emotionalisierten sich Konflikte und Konfliktpotenziale mit der nunmehr gegebenen geografischen Distanz. Zudem strebten die Slowaken nach dem Gang in die Souveränität nach einer strikten Abkehr von allem, was an die gemeinsame Zeit mit den Tschechen erinnerte, und tendierten damit gerade auch bei der Bewertung der gemeinsamen (tschechoslowakischen) Geschichte zu eigenständigen Interpretationen,
Beide Seiten zeigten weitgehende Einigkeit in der Beurteilung der zwischen 1939 bis 1945 bestehenden Ersten Slowakischen Republik, die vom Deutschen Reich abhängig war.
Die bilaterale Annäherung wurde allerdings dadurch erschwert, dass die Slowakei in den ersten Jahren ihrer staatlichen Unabhängigkeit international immer mehr in Misskredit geriet und gerade von westlichen Staaten zunehmend isoliert wurde. Der bis 1998 regierende Premier Vladimír Mečiar wird insbesondere wegen des Regierungsstils während seiner dritten Amtsperiode (ab 1994), in deren Zeit unter anderem die Mečiar zugerechnete, in ihren Einzelheiten nie vollständig aufgekärte Entführung des Sohns des damaligen Präsidenten Michal Kováč (1995) fiel, bis heute als Autokrat wahrgenommen. Sein Name wird nach wie vor als erster ins Feld geführt, wenn es in öffentlichen Debatten um tatsächliche oder auch nur vermutete Gefährdungen der slowakischen Demokratie geht.
"Land ohne Geschichte"
Erst seinem Nachfolger Mikuláš Dzurinda gelang es, dem Land zu internationalem Ansehen zu verhelfen und es insbesondere an die Europäische Union heranzuführen, der die Slowakei gemeinsam mit neun weiteren Staaten am 1. Mai 2004 beitrat. Der Wirtschaftsliberale stand in erster Linie für durchgreifende Reformen, mit denen das Land im ersten Jahrzehnt nach der Jahrtausendwende für ausländische Investoren attraktiv wurde. Bei der Transformation der noch jungen Slowakei zur international anerkannten Demokratie zog er gern deutsche Experten zu Rate, darunter Frank Spengler, den früheren Leiter des Verbindungsbüros Slowakische Republik der Konrad-Adenauer-Stiftung.
Dzurinda pflegte während seiner achtjährigen Amtszeit von 1998 bis 2006 gern das Image eines Regierungschefs, der die Verantwortung für ein "Land ohne Geschichte" trägt. Die Slowakei hatte nach dieser Lesart überhaupt erst mit dem Tag der Abspaltung von Tschechien, also am 1. Januar 1993, zu existieren begonnen, und war zudem erst nach dem Abgang Mečiars im Jahre 1998 zur Demokratie erwacht. Ungeachtet des Vorhandenseins eines slowakischen Teilstaats innerhalb der früheren Tschechoslowakei, könne den Slowaken damit keinerlei Verantwortung für mögliche Fehlentwicklungen in der früheren ČSSR angelastet werden. Außerdem wurde so vermittelt, dass es sich bei der Ersten Slowakischen Republik unter Jozef Tiso von 1939 bis 1945 um keinen souveränen Staat gehandelt habe. Die Slowaken erschienen nach dieser Deutung als Volk, das erst vor kurzem langjährige Fremdherrschaft (durch die Tschechen) bzw. selbst auferlegte Fesseln (unter Mečiar) abgeschüttelt und nunmehr die historisch einmalige Gelegenheit zu einem unbelasteten und damit auch originellen Neuanfang hatte. Ein Volk ohne Geschichte müsse - anders etwa als die durch die Gräueltaten der Nationalsozialisten bis heute belasteten Deutschen - niemandem Abbitte leisten, und könne zudem Experimente wagen, ohne als aggressiv oder gar expansiv zu gelten.
Zum einen grenzte sich Dzurinda damit konsequent vom glühenden Nationalisten Vladimír Mečiar ab, ohne sich von der slowakischen Eigenständigkeit loszusagen. Zum anderen hätte er die von ihm durchgesetzten, von der Bevölkerung oft als brutal empfundenen Reformen, öffentlich kaum besser rechtfertigen können. Der Regierung eines Landes ohne Geschichte bleibt für eine erfolgreiche Zukunft schließlich nur zweierlei: Sie muss von anderen lernen oder einen sehr eigenen Weg gehen.
So ließ sich die slowakische Regierung unter Dzurinda beispielsweise in Chile für eine Pensionsreform inspirieren. International Furore machte sie mit einer innerhalb von nur acht Wochen durchgezogenen Steuerreform, mit der ab 1. Januar 2004 ein einheitlicher Steuersatz von 19 Prozent galt und zahlreiche Steuern, darunter Grund- und Erbschaftsteuer, entfielen. Haupteinnahmequellen des Fiskus sind seither die Lohn-, Einkommen-, Körperschaft- und Mehrwertsteuer. Die Steuerreform war in der Slowakei zunächst sehr umstritten, weil sich mit der Erhöhung des Mehrwertsteuersatzes auf 19 Prozent viele Güter verteuerten und vermögende Bürger angeblich durch die Senkung des Einkommensteuersatzes auf 19 Prozent in ungerechtfertigter Weise privilegiert wurden. Tatsächlich brauchen bis heute wegen relativ großzügig bemessener Freibeträge rund 25 Prozent der Erwerbstätigen in der Slowakei de facto weder Lohn- noch Einkommensteuer zu zahlen.
Inzwischen wird die Steuerreform unter Mikloš allgemein als wegbereitend für die Öffnung des Landes angesehen. Sie löste einen massiven Anstieg an Auslandsinvestitionen aus und führte zu einem Wirtschaftsboom. Die Steuerreform gilt als Beleg dafür, dass die Slowaken sich erst mit dem Gang in die Eigenständigkeit voll entfalten und damit auch erfolgreiche Experimente wagen konnten, was ihnen in staatlicher Koexistenz mit den Tschechen und erst recht als Nation innerhalb Groß-Ungarns angeblich stets verwehrt geblieben war.
Untermauert wird diese Sicht gern und gerade mit Blick nach Ostdeutschland, für das mit dem Tag der Wiedervereinigung weitgehend das Regelwerk der früheren Bundesrepublik galt. Damit seien die Ostdeutschen, so die slowakische Deutung, gerade nicht zu einem Neuanfang ganz eigener Prägung, zumindest nicht aus eigener Kraft, herausgefordert worden. Entsprechend wenig innovativ sei die Neuordnung Ostdeutschlands vonstattengegangen. Dessen Einwohner hätten zwar viel lernen müssen, dies allerdings in Form der Anpassung an von der Bundesrepublik übernommene Vorschriften. Zum einen habe es damit fast keinen Spielraum für eine originär kreative Entwicklung gegeben, wie sie etwa aus dem Konzept des "Landes ohne Geschichte" für die Slowakei resultierte. Zum anderen seien die Ostdeutschen gegenüber den Westdeutschen gewissermaßen zur Rolle des Hinterherhinkenden verdammt, was sich vor allem in einem deutlichen Gefälle zwischen Westen und Osten bemerkbar mache.
Auf die Unterschiede zwischen West- und Ostdeutschland wurde und wird vorzugsweise in öffentlichen Debatten über die Notwendigkeit eines Ausbaus der Infrastruktur Richtung Ostslowakei verwiesen. Diese gilt insbesondere gegenüber der weiterhin boomenden Hauptstadtregion ganz im Westen des Landes als Nachzügler. Schon seit mehr als einem Jahrzehnt wird darüber diskutiert, wie sich die Regionen aneinander angleichen können.
Die Ostslowakei geriet vor allem um die Jahrtausendwende dadurch ins Hintertreffen, dass sich Automobilhersteller und ihre Zulieferer, die bis heute mehr als ein Drittel der slowakischen Wertschöpfung generieren, ausschließlich im Westen ansiedelten. Im Übrigen gibt es in der Region regelmäßig verheerende Überschwemmungen. Der daraus resultierende Entwicklungsrückstand lässt sich, so die allgemeine Lesart, nur allmählich, vor allem mit wachsender Branchenvielfalt, aufholen. Damit ist einmal mehr vor allem Kreativität statt Übernahme von Erfolgsrezepten gefragt. Der Osten des Landes soll gerade nicht blind auf das setzen, was sich im Westen bewährt hat, und vielmehr eigene Wege gehen. Das bedeutet in erster Linie nicht, dass in der Ostslowakei modernere Betriebe als in der Westslowakei angesiedelt werden, weil die Ostslowaken damit den Westslowaken gewissermaßen "hinterherhinken" würden, wenn auch auf vergleichbar hohem technologischen Niveau. Vielmehr bedeutet es, dass die Ostslowakei idealerweise Impulsgeber für aufstrebende Wirtschafszweige wird. Deshalb wurde beispielsweise das slowakische Silicon Valley, damit verbunden neue Technologien, gerade nicht in Bratislava, sondern eben in Košice, der größten Stadt in der Ostslowakei, angesiedelt.
Schwierige Identitätsfindung
Vladimír Mečiar gilt bis heute als die treibende Kraft beim Gang in die Eigenständigkeit. Seine drei Amtszeiten waren, was die volle staatliche Souveränität angeht, vor allem von einer ständigen Bezugnahme auf den Nachbarn Tschechien geprägt, neben dem es sich zumindest als gleichwertig zu behaupten gelte. Vergleiche mit Tschechien, insbesondere was das Wirtschaftswachstum anging, waren das ständige Thema in allen Medien.
Unter Mikuláš Dzurinda wurde die Behauptung als eigener Staat nachrangig. Mit der zunehmenden Annäherung an den Rest des Kontinents schien es vielmehr ratsamer, wann immer möglich auf den historischen Beitrag der Slowaken zum Aufbau des vereinten Europas hinzuweisen. Oft war auch die Rede davon, dass die Slowaken dank der zentralen geografischen Lage ihres Staates wie keine andere Nation den europäischen Wertekanon verinnerlicht und sogar maßgeblich mitgestaltet hätten.
Dzurindas Nachfolger Robert Fico, der seit 2012 wieder an der Macht ist, schlug in einer international heftig kritisierten Koalition mit Vladimír Mečiar und dem damaligen Vorsitzenden der Slowakischen Nationalpartei Ján Slota vergleichsweise aggressive nationale Töne an. Hier rächte sich gewissermaßen der Verzicht auf eine geschichtliche Unterfütterung der slowakischen Entwicklung, wie ihn Dzurinda propagiert hatte. In Ficos erster Amtszeit wurde beispielsweise ein Sprachgesetz verabschiedet, mit dem der Gebrauch der (einzigen) Amtssprache Slowakisch in der Öffentlichkeit weiter forciert werden sollte. Nunmehr sind etwa Sehenswürdigkeiten in den überwiegend ungarisch-sprachigen Landesteilen, die zuvor allein mit ungarischen Erläuterungen versehen waren, zwingend auch mit Tafeln in slowakischer Sprache zu versehen. Auch darf beispielsweise "Popcorn" nur noch als "Pukance" angeboten werden oder sind gymnasiale Klassenstufen nur noch slowakisch und nicht mehr lateinisch zu bezeichnen, andernfalls kann eine Geldbuße verhängt werden.
Karpatendeutsche als Mittler
Insgesamt tun sich die Slowaken eher schwer damit, identitätsstiftende Elemente aus ihrer Geschichte zu entwickeln. Das hat nicht zuletzt damit zu tun, dass es in der Slowakei mehr als ein Dutzend anerkannter Minderheiten gibt. Die beiden größten sind die ungarisch-sprachige, zu der sich etwa ein Zehntel der Bevölkerung bekennt und die nur unwesentlich kleinere Minderheit der Roma. Insgesamt gehört etwa ein Viertel der etwa 5,5 Millionen slowakischen Staatsbürger einer Minderheit an. Das Verhältnis zur slowakischen Mehrheitsbevölkerung ist in den meisten Fällen unproblematisch. Wiederkehrende Friktionen gibt es allerdings mit den beiden größten Minderheiten.
Zum einen pochen selbst gemäßigte Vertreter der ungarisch-sprachigen Minderheit, zumeist unterstützt aus Budapest, energisch auf eine ausgesprochen starke Rechtsposition der eigenen Minorität. In den slowakischen Medien wird regelmäßig das bedrohliche Szenario einer Autonomie, wenn nicht gar einer Sezession der Südslowakei gen Budapest heraufbeschworen. Zum anderen gilt nur ein Drittel der Roma als gesellschaftlich integriert in dem Sinne, dass ein Angehöriger der Minderheit regelmäßig eine Bildungseinrichtung besucht, ohne Unterbrechung einer Arbeit nachgeht oder sesshaft ist. Zum Anteil der "gesellschaftlich integrierten" Roma ist allerdings anzumerken, dass es sich nur um eine gängige Mutmaßung handelt. Bis heute hat keine Regierung einen ernsthaften Versuch unternommen, einer zunehmenden Verelendung der Roma entgegenzusteuern. So liegen nicht einmal verlässliche Daten zur tatsächlichen Lebenssituation der Roma in der Slowakei vor.
Als vorbildlich wird der Umgang aller slowakischen Regierungen mit den Angehörigen der karpatendeutschen Minderheit eingestuft, der nach den Ergebnissen der jüngsten Volkszählung im Jahre 2011 heute allerdings nur noch etwa 6.000 Menschen vorwiegend höheren Alters angehören. Damit sind an sich gewollte Vorhaben wie eine vom slowakischen Staat getragene deutsche Schule von vornherein zum Scheitern verurteilt.
An dieser Minderheit wird sichtbar, wie eng Deutsche und Slowaken kulturhistorisch miteinander verwoben sind. Seit Ende des 12. Jahrhunderts siedelten Deutsche auf dem Gebiet der heutigen Slowakei um das nach den Mongoleneinfällen verwüstete Land zu rekultivieren. Daraus entwickelte sich ein jahrhundertelanges friedliches Miteinander von Deutschen und Slowaken. Der Einfluss der Deutschen ebbte erst während des 19. Jahrhunderts im Zuge der Magyarisierungsbestrebungen in Groß-Ungarn ab. Zum Bruch zwischen beiden Kulturen kam es im Zweiten Weltkrieg und mit den nachfolgenden Vertreibungen der deutschsprachigen Bevölkerung. Seit der Jahrtausendwende wird der Einfluss der Karpatendeutschen auf die Geschichte der Slowaken in den Blick genommen; das ist umso bemerkenswerter, als dass erst wenige Bücher zur slowakischen Geschichte überhaupt erschienen sind.
Bis Mitte des vergangenen Jahrzehnts galt die Slowakei als eines der wenigen Länder in Europa, wenn nicht gar in der Welt, wo Deutsch intensiver gelernt wurde als Englisch. Erst um das Jahr 2005 stieg die Zahl der Schüler, die Englisch als Prüfungsfach im Abitur wählten, sprunghaft an. Seither ist Englisch unangefochten die wichtigste Fremdsprache im Unterricht, Deutsch liegt aber immer noch an zweiter Stelle.
Im Jahre 1991 entschuldigten sich die Abgeordneten des Slowakischen Nationalrats ausdrücklich für die Vertreibung der Karpatendeutschen. Damit konnten Slowaken und Karpatendeutsche schon vor der Eigenständigkeit der Slowakei aufeinander zugehen. Die Erklärung von 1991 darf in ihrer Bedeutung keinesfalls unterschätzt werden. Ein wesentlicher Grund für die immer wieder aufflammenden Spannungen zwischen Bratislava und Budapest ist das Fehlen eines entsprechenden Parlamentsbeschlusses Richtung Ungarn.
In der Auseinandersetzung mit der Geschichte der Karpatendeutschen geht es für die Slowaken nicht nur um die Erforschung einer bestimmten Kultur, durch die ihr heutiges Territorium wesentlich geprägt wurde. Es geht vor allem um ein wesentliches Element des Slowakisch-Seins im heutigen Europa: ein durch die günstige zentrale Lage bedingtes multikulturelles Miteinander, das als "Spiegel im Kleinen" der für Europa ganz wesentlichen Vielfalt begriffen wird. Im Zuge der relativ unbefangen möglichen Annäherung an die Karpatendeutschen lassen sich ganz allgemein Parameter für die wechselseitige Beeinflussung von Kulturen, insbesondere für Toleranz, ausmachen. Dass dabei das Verhältnis zwischen einem der bedeutendsten Staaten in der Europäischen Union entspringenden Kultur und der Kultur eines relativ kleinen Mitgliedslandes im Mittelpunkt der Betrachtung steht, lässt sich auch für die Gegenwart fruchtbar machen, wo es ja nicht selten darum geht, wieviel Einfluss und Mitspracherecht den einzelnen Staaten im vereinigten Europa zustehen soll, was im Einzelfall auch mit historischen Entwicklungen begründet wird.
Gewandelte Sicht auf Deutschland
Nach zwei Jahrzehnten Eigenstaatlichkeit hat sich die Slowakei auf der internationalen Bühne etabliert. Damit hat sich auch der Blick der Slowaken auf das wiedervereinigte Deutschland gewandelt. Es wird heute weniger als Land gesehen, von dem sich politisch noch viel lernen lässt. Vielmehr rückt Deutschland mehr und mehr als Garant der eigenen wirtschaftlichen Erfolgsgeschichte in den Fokus, deren Fortschreibung vor allem von den Absatzmöglichkeiten der slowakischen Unternehmer abhängt. Das gilt vor allem seit Ausbruch der globalen Wirtschafts- und Finanzkrise im Herbst 2008, zumal Deutschland und die Slowakei nicht zuletzt wegen der Zugehörigkeit zur Eurozone ökonomisch besonders eng miteinander verwoben sind. In diesem Zusammenhang sei erwähnt, dass sich die euroskeptischen Parteien in der Slowakei und in Deutschland, die "Sloboda a Solidarita" (SaS, Freiheit und Solidarität) sowie die Alternative für Deutschland (AfD) in den vergangenen beiden Jahren ideologisch wechselseitig stark befruchtet haben. So sehen die Spitzen sowohl der SaS als auch der AfD ihre Parteien als Anlaufpunkt einer von Skandalen unbescholtenen und volkswirtschaftlich ausgerichteten Elite, die insbesondere im Zusammenhang mit der Eurokrise Fragen stellt, auf die traditionelle Parteien Antworten zu verweigern scheinen. Die Kritik an der gemeinsamen europäischen Währung ist durch die Sorge um den – sei es nach dem Zweiten Weltkrieg, sei es nach brachialen Reformen – unter großen Entbehrungen erarbeiteten nationalen Wohlstand motiviert. SaS wie AfD plädieren für mehr direkte Demokratie auf europäischer wie nationaler Ebene, außerdem für massive Investitionen in Bildung und Forschung. Beiden Parteien wird wegen der Konzentration auf die Kritik am Euro Themenarmut, außerdem Populismus vorgeworfen; wegen der Betonung nationaler Interessen werden SaS wie AfD dafür kritisiert, zunehmend nach rechts abzudriften.
Deutschland ist wichtigster Handelspartner der Slowakei. Allein in der Deutsch-Slowakischen Industrie- und Handelskammer mit Sitz in Bratislava sind knapp 400 Unternehmen organisiert. Viele davon zählen zu den bedeutendsten der Slowakei, allen voran Volkswagen Slovakia, bis vor wenigen Jahre das größte produzierende Unternehmen im Lande. Die Wertschöpfung der slowakischen Wirtschaft stützt sich zu einem guten Drittel auf die Automobilbranche und hängt auch sonst zum großen Teil vom Wohlergehen der Branchen ab, die eng mit der deutschen Industrie verflochten sind. Dazu zählen vor allem der Maschinenbau und die Elektroindustrie. Damit sind in den vergangenen Jahren, im Zuge der Krise, Meldungen aus diesen Wirtschaftszweigen in den slowakischen Medien ganz nach oben gerückt, wenn es um Deutschland geht.
Fazit
Der Blick der Slowaken auf das wiedervereinigte Deutschland hat sich in mehr als zwei Jahrzehnten stark gewandelt. Das scheinbar natürliche Zusammenwachsen der Deutschen in West und Ost wurde zunächst als Gegenbewegung zur aus offizieller slowakischer Sicht unvermeidlichen eigenen Abspaltung von Tschechien verstanden, das Gefälle zwischen Ost- und Westdeutschland als wichtiges Indiz für die Notwendigkeit eines eigenen Weges gedeutet. Für die Anfangsjahre der Slowakei kann also von einer identitätsstiftenden Wirkung der Wiedervereinigung für das noch junge Land gesprochen werden.
Inzwischen scheint die Wiedervereinigung nachrangiges Thema, wenn sich der Blick nach Westen richtet. Deutschland ist vielmehr bedeutsam als Faktor, der vor allem die wirtschaftliche Stabilität in Europa und damit auch die Fortschreibung der slowakischen ökonomischen Erfolgsgeschichte seit der Jahrtausendwende garantiert. Identitätsstiftende Momente in der Auseinandersetzung mit Deutschland beziehen die Slowaken heute vor allem aus dem Umgang mit den Traditionen und dem kulturellen Erbe der Karpatendeutschen. Daraus lassen sich wegen der jahrhundertelangen engen Verwobenheit viele Erkenntnisse über den eigenen Ursprung und historisch überlieferte Strukturen gewinnen, weiterführend auch Überlegungen zur Vielfalt im vereinigten Europa von heute anstellen. Die Annäherung an die Karpatendeutschen geschieht deutlich unbefangener als etwa die Auseinandersetzung mit slowakisch-ungarischer Vergangenheit, die nur allzu häufig durch starke Emotionen und beiderseitige Ressentiments geprägt ist.
Zitierweise: Karin Rogalska, Das wiedervereinigte Deutschland aus Sicht der Slowaken, Deutschland als Impulsgeber für die eigene Identitätsfindung, in: Deutschland Archiv, 31.03.2014, Link: http://www.bpb.de/181573