Die Perzeption der deutschen Wiedervereinigung in Lateinamerika
Erste Erkenntnisse einer Untersuchung der Presseberichterstattung 1989 und 1990 in Chile, Nicaragua und Paraguay
Christina Horsten
/ 20 Minuten zu lesen
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Nicht nur in Bundesrepublik und DDR kam es Ende der 1980er Jahre zu bahnbrechenden Veränderungen, auch in Lateinamerika wurden Strukturen aufgebrochen und mehr oder weniger demokratische Systeme eingeführt. Dabei ging der Blick stets über den Atlantik, wie eine Analyse der Printberichterstattung in Chile, Nicaragua und Paraguay zeigt.
1. Einleitung
"Chile, das kann ich nicht glauben. So weit entfernt interessieren sich die Menschen dafür, was hier passiert?" So zitiert ein Redakteur der chilenischen Tageszeitung El Mercurio den damals 19-jährigen DDR-Bürger Uwe Papendick. Die beiden haben sich kurz zuvor zufällig in Ost-Berlin auf der Straße kennengelernt und der Redakteur begleitet Papendick daraufhin bei seiner ersten Überquerung der innerdeutschen Grenze nach West-Berlin. Papendicks Verwunderung über das Interesse aus Chile scheint verständlich, liegen doch zwischen beiden Ländern rund 12.000 Kilometer Luftlinie.
Aber nicht nur in Bundesrepublik und DDR standen Ende der 1980er Jahre die Zeichen auf Veränderung, auch im tausende Kilometer entfernten Lateinamerika rumorte es gewaltig – und die Parallelen sind unverkennbar. In Chile, Nicaragua und Paraguay, alle drei ebenfalls Bühnen des Ost-West-Konflikts, wurden im Zuge von einschneidenden politischen Umbrüchen diktatorische Systeme und hegemoniale Ein-Parteien-Systeme abgeschafft und mehr oder weniger demokratische eingeführt. Die Jahre 1989 und 1990 waren sowohl für Europa als auch Lateinamerika ereignisreich und bedeutsam, geprägt durch Aufbruch und Veränderung.
Bei all dem ging – so zeigen die ersten Erkenntnisse aus der Auswertung der Printberichterstattung dieser Länder über den Fall der Mauer und die deutsche Wiedervereinigung ein Vierteljahrhundert später – der Blick aus Lateinamerika stets über den Atlantik: Anhand von Artikeln, Fotos und Karikaturen wird im Folgenden gezeigt, wie die Ereignisse 1989 und 1990 in Chile, Nicaragua und Paraguay wahrgenommen wurden.
Auf eine kurze historische Einordnung folgt zunächst eine statistische Auswertung der Quellen, die in Archiven in Santiago de Chile, Managua, Asunción und Berlin manuell aus den entsprechenden Jahrgängen der ausgewählten Zeitungen und Zeitschriften herausgefiltert wurden. Die anschließende Analyse der zuvor noch nie in diesem Zusammenhang ausgewerteten Quellen legt besonderes Augenmerk auf die zentralen Begriffe und Bezeichnungen, auf das Bild von Bundesrepublik und DDR sowie ihrer wichtigsten Akteure, auf die Bewertung der Wiedervereinigung und den Subtext für das jeweilige lateinamerikanische Land.
Der Artikel, ein Beitrag zur Forschung über die internationale Dimension der Wiedervereinigung und zur transnationalen Perzeptionsforschung, legt in den untersuchten Ländern ein außerordentlich großes Maß an Auseinandersetzung mit den Vorgängen in Deutschland dar. Darauf aufbauend geht dieser Text der Frage nach, wie die Wahrnehmung aussah und durch was sie beeinflusst gewesen sein könnte. Sahen die Journalisten und Kommentatoren in den drei lateinamerikanischen Ländern Parallelen zu den politischen Veränderungen in ihren Ländern – und, wenn ja, welche genau? Hatte die friedliche Revolution Vorbildcharakter? Inwiefern veränderte die Wiedervereinigung das Bild Deutschlands und der Deutschen?
2. Historisch-politische Einordnung der untersuchten Länder und ihrer Beziehungen zu DDR und Bundesrepublik
Die politischen Entwicklungen in den untersuchten Ländern Chile, Paraguay und Nicaragua weisen im Beobachtungszeitraum nicht zu übersehende Parallelen untereinander und mit DDR und Bundesrepublik auf. Zudem hielten alle, auch aufgrund teils außerordentlich prägender deutscher Einwanderergruppen, trotz der weiten Entfernung meist enge Beziehungen zu beiden deutschen Staaten.
Chile stand 1989 bereits seit mehr als 15 Jahren unter der diktatorischen Herrschaft von General Augusto Pinochet, der am 11. September 1973 durch einen Militärputsch an die Macht gekommen war. Nachdem eine Volksabstimmung über eine erneute Kandidatur 1988 zu seinen Ungunsten ausgegangen war, gab es im Dezember 1989 demokratische Wahlen, die der Christdemokrat Patricio Aylwin gewann. Unter anderem aufgrund einer deutschen Auswanderergruppe von schätzungsweise bis zu 40.000 Menschen, guten Handelsbeziehungen und während des Kaiserreichs auch Militärhilfe waren die Beziehungen zwischen Deutschland und Chile sehr eng. Die Chilenen werden mitunter sogar als "Preußen Südamerikas" bezeichnet. Die Pinochet-Diktatur belastete jedoch die diplomatischen Beziehungen zur Bundesrepublik. Die offiziellen Verbindungen zur DDR wurden ganz beendet.
Auch in Nicaragua veränderte zu dieser Zeit eine Wahl das Land auf einschneidende Art und Weise. Die linksgerichteten Sandinisten, seit 1979 an der Macht, wurden im Februar 1990 abgewählt und durch das antisandinistische Walhbündnis Unión Nacional Opositoria (UNO) mit Violeta Chamorro an der Spitze ersetzt. Ein "revolutionäres System", das neben Demokatriebestrebungen auch "autoritäre Züge" aufwies, ging in ein "demokratisches System" über, dessen demokratische Institutionen allerdings weiterhin geschwächt waren. Die offiziellen Beziehungen zwischen Bundesrepublik und Nicaragua, wo Größe und Einfluss der deutschen Einwanderergruppe als nahezu unbedeutend angesehen werden können, waren zur Zeit der sandinistischen Herrschaft abgekühlt, während die zwischen DDR und Nicaragua sich intensivierten.
In Paraguay beendeten 1989 ein Militärputsch und anschließende Wahlen die seit 1954 bestehende Diktatur des deutschstämmigen Generals Alfredo Stroessner. Der Initiator des Putsches, General Andrés Rodriguez – ein einstiger Verbündeter Stroessners, der die Seiten gewechselt hatte – ging als Sieger aus den Wahlen hervor. "Defekte in der paraguayischen Demokratie" sollten trotzdem noch jahrelang bestehen bleiben. Die offiziellen Beziehungen zwischen Paraguay, wo schätzungsweise rund 20.000 deutsche Einwanderer und ihre Nachkommen eine aktive und prägende deutsche Minderheit bilden, und DDR beziehungsweise Bundesrepublik waren während der Diktatur angespannt und normalisierten sich ab 1989.
3. Analyse der Berichterstattung nach Themen-Clustern
"Nichts versetzt einen so leicht in die Atmosphäre einer Zeit als ihre Zeitungen", schrieb einst Wilhelm Mommsen. Aber die Zeitung sei auch eine "schwer zu benutzende Quelle, die eine gewisse methodische Sicherheit verlangt". Neben den technischen Schwierigkeiten bei der Beschaffung muss die quellenkritische Auswertung stets vor dem Hintergrund geschehen, dass Zeitungen ein "Instrument gezielter Meinungsgestaltung" sind. Mit Anleihen aus der kommunikationswissenschaftlichen und einem Schwerpunkt auf der geschichtswissenschaftlichen Analyse, kann die Auswertung von Zeitungen und Zeitschriften im Sinne der Perzeptionsforschung dabei helfen, das "verbreitete Bild des anderen" herauszufiltern, das dann "Aufschluß über das Selbstverständnis beziehungsweise über die nationale Identität einer Gesellschaft und ihrer Akteure" geben kann. In diesem Fall handelt es sich bei dem Auswertungsgegenstand um insgesamt 18 Zeitungen und Zeitschriften aus Chile, Nicaragua und Paraguay.
Abbildung I: Übersicht der ausgewerteten Zeitungen und ihrer wichtigsten Eigenschaften im Untersuchungszeitraum
Erscheinen
Sprache
Politische Ausrichtung
Auflage (ca.)
Chile
El Mercurio
Täglich
Spanisch
Konservativ
100.000
La Época
Täglich
Spanisch
Mitte-links
20.000
Punto Final
14-tägig
Spanisch
Links
8.000
Condor
Wöchentlich
Deutsch
Konservativ
6.000
Hoy
Wöchentlich
Spanisch
Mitte-links
30.000
Qué Pasa
Wöchentlich
Spanisch
Konservativ
10.000
Nicaragua
La Prensa
Mo-Sa
Spanisch
Konservativ
70.000
Barricada
Täglich
Spanisch
Sandinistisch
15.000
El Nuevo Diario
Täglich
Spanisch
Gemäßigt-Sandinistisch
20.000
Panorama International
Wöchentlich
Spanisch
Mitte
k.A.
La Trinchera
Wöchentlich
Spanisch
Sandinistisch
k.A.
Paraguay
ABC Color
Täglich
Spanisch
Liberal
52.000
Ultima Hora
Mo-Sa
Spanisch
Liberal
35.000
El Diario Noticias
Täglich
Spanisch
Konservativ
40.000
El Pueblo
Wöchentlich
Spanisch
Links
k.A.
Neues für Alle
14-tägig
Deutsch
Konservativ
k.A.
Für eine erste quantitative Analyse wurden insgesamt 3.532 relevante Berichterstattungseinheiten herausgefiltert. Die Zusammenstellung zeigt, wie die Menge der Berichterstattung in allen drei untersuchten Ländern nach einem kurzen Hoch im Juni 1989 (inhaltlich erklärbar durch den Besuch des sowjetischen Staatschefs Michail Gorbatschow in der Bundesrepublik) ab August 1989 zunächst kontinuierlich ansteigt und dann beim Fall der Berliner Mauer im November 1989 Spitzenwerte erreicht. 1990 ist die Tendenz stets sinkend, mit Zwischenhochs im Juli und im Oktober (inhaltlich erklärbar durch die Währungsunion und die offizielle Wiedervereinigung), bevor dann der im August 1990 ausgebrochene Zweite Golfkrieg das Thema immer stärker von den Seiten drängt.
Abbildung II: Statistische Auswertung der Berichterstattung aller untersuchten Zeitungen zu den Ereignissen in BRD und DDR 1989 und 1990
Statistische Auswertung der Berichterstattung aller untersuchten Zeitungen zu den Ereignissen in BRD und DDR 1989 und 1990
Aus den Berichterstattungseinheiten wurden anschließend die insgesamt 416 Kommentare (251 aus Chile, 87 aus Paraguay und 78 aus Nicaragua) herausgefiltert. Kommentare stellen eine "sachbezogene Meinungsstilform" dar, die als einzige einen wirklichen Einblick in die meinungsbildende Berichterstattung bieten kann. Diese wurden anschließend nach Themenclustern analysiert.
3.1 Zentrale Begriffe
Auf Spanisch heißt die Bundesrepublik Deutschland offiziell República Federal de Alemania (RFA), und hieß die DDR República Democrática Alemana (RDA). Diese offiziellen spanischen Bezeichnungen, die auch exakt den wörtlichen Übersetzungen der deutschen Bezeichnungen entsprechen, wurden in den ausgewerteten Zeitungen und Zeitschriften am häufigsten verwendet. Die anderen verwendeten Bezeichnungen offenbaren oft schon einen ersten Einblick in Wertungen. So wurde die DDR von der paraguayischen Zeitung El Diario Noticias als die "sogenannte Demokratische Republik" bezeichnet, vom chilenischen El Mercurio ironisch als "Erzdemokratische Deutsche Republik" und von der nicaraguanischen La Prensa schlicht als "kommunistisches Deutschland". Bei allen dreien handelt es sich um tendenziell konservative Zeitungen. Die Bundesrepublik wiederum feierte die La Prensa als das "freie Deutschland" und "das wirklich demokratische", während die linksgerichtete chilenische Zeitschrift Punto Final sie abwertend als das "kapitalistische Deutschland" bezeichnete. War von Bundesrepublik und DDR die Rede, wurde häufig von "zwei Deutschlands", "Nachbarn", "Brüdern" oder sogar "Zwillingsbrüdern" geschrieben - ein Zeichen, dass die beiden deutschen Staaten in Chile, Paraguay und Nicaragua zwar als zwei verschiedene Länder wahrgenommen wurden, ihre historischen Verbindungen aber auch 40 Jahre nach der Teilung noch deutlich im Bewusstsein waren. Insgesamt gingen die Kommentatoren in den drei lateinamerikanischen Ländern deutlich unverkrampfter an die Benennung der beiden deutschen Staaten heran als diese selbst. Von den in Bundesrepublik und DDR zwischen 1945 und 1990 vorherrschenden terminologischen "Bezeichnungsnöten" war keine Spur.
Über die Benennung der Ereignisse 1989 und 1990 in der DDR herrschte in den drei lateinamerikanischen Ländern allerdings ähnliche Uneinigkeit wie bis heute in der Bundesrepublik. Angefangen von "Krise", "Konflikt", "schwierige Situation" über "Anfang einer neuen Ära" bis hin zu "Umsturz", "Revolution" und auch "Annexion" der DDR durch die Bundesrepublik war alles zu finden. Auf eine einheitliche Interpretation der Ereignisse konnte man sich in einem so frühen Stadium und aus dieser weiten Entfernung allem Anschein nach in den drei Ländern jeweils noch nicht einigen.
3.2 Bild von DDR und Bundesrepublik
Die von DDR und Bundesrepublik gezeichneten Bilder unterschieden sich in den untersuchten Medien je nach politischer Einstellung: Je weiter links, desto DDR-freundlicher, je konservativer, desto BRD-freundlicher und umgekehrt. Einzig die Berliner Mauer wurde so gut wie einhellig verurteilt und als "Mauer der Schmach", "Symbol der Intoleranz" oder gar "Schande der Welt" bezeichnet. Nur einige sehr linksgerichtete Blätter verteidigten sie. So bewertete die chilenische Zeitschrift Punto Final den Bau als "logische Konsequenz aus der Haltung der westlichen Länder" und als "Schutzmaßnahme des Fortschritts und der Konsolidierung der sozialistischen Länder". Die nicaraguanisch-sandinistische Zeitung El Nuevo Diario sah die Mauer im Nachhinein als "notwendig" und "legitimes Kind des Kalten Krieges".
Die DDR wurde von den gemäßigten bis konservativen Medien scharf kritisiert. "Im Osten ist alles alt, veraltet oder funktioniert nicht", schrieb beispielsweise die paraguayische ABC Color. Das System der DDR basiere auf der "Erniedrigung des menschlichen Seins" urteilte die Konkurrenz El Diario Noticias. Der chilenische El Mercurio betonte die "immense[n] ökologische[n] Disaster" und der ebenfalls chilenische Condor beschrieb die DDR als "ausgeklügelte militärische und ideologische Gewaltherrschaft" in "schönfärberische(r) … und verlogene(r) … Verpackung als ‚Deutsche Demokratische Republik‘". Linksgerichtete Medien betonten dagegen den "Internationalismus der SED" und die "seit Jahrzehnten" ungekannte Arbeitslosigkeit". Einzig im Vergleich mit den anderen Ländern des Ostblocks kam die DDR überall gut weg. Lebensstandard und Wirtschaftsproduktion seien "höher ist als in irgendeinem der anderen kommunistischen Länder rundherum", wurde so oder ähnlich geurteilt.
Die Bundesrepublik hingegen wurde von konservativen Medien im Vergleich zur DDR geradezu in schwärmerischen Tönen beschrieben:
"Die Einwohner der BRD leben besser, florieren, ihr Arbeitstag ist kürzer, ihr Pro-Kopf-Einkommen gehört zu den höchsten der Welt, sie haben mehr Freizeit, erfreuen sich an einer größeren Stabilität ihres Arbeitsplatzes und an einem ausgezeichneten Gesundheitssystem. Und während sie in ihren tollen Mercedes Benz, BMW …, in ihren Audis oder Volkswagen über die … ‚Autobahn fliegen’, müssen die Ostdeutschen mehr als zehn Jahre warten, um einen aus der Mode gekommenen Trabant kaufen zu können." Fazit der konservativen chilenischen Zeitung El Mercurio: "Es erscheint offensichtlich, dass der Bürger von Dresden sich danach sehnt, in Bonn zu leben." Völlig entgegengesetzt verglich und resümierte das nicaraguanisch-sandinistische El Nuevo Diario: "Die DDR ist auch kein Paradies, aber viel weniger die kapitalistische Hölle."
3.3 Bild der Akteure
Wie die DDR so wurden auch ihre Politiker – im Untersuchungszeitraum vor allem Staatsoberhaupt Erich Honecker und sein Nachfolger Egon Krenz – von den gemäßigten bis konservativen Medien sehr kritisch gesehen. Einzig die sandinistische Zeitung El Nuevo Diario bezeichnete Honecker als "große[n] Freund Nicaraguas" und Krenz als "beliebt". Die anderen hatten insbesondere für Honecker kein gutes Wort übrig: Er sei "dickköpfig", "absolut unnachgiebig", "stur", "streng", mit "scharfen Gesichtszügen" und regiere mit "eiserner Hand" und einer "bestimmten Arroganz", gleich einem "stalinistischen Bürokraten". Im Nachhinein sei er "fast nur noch eine schlechte Erinnerung", urteilte die liberale paraguayische ABC Color im Dezember 1989. Der "Kronprinz" Krenz wurde zwar als "moderat" eingeschätzt und ihm wurde - historisch nicht ganz korrekt - die Entscheidung zugeschrieben, die Mauer einzureißen, aber er wurde dennoch auch von vorne herein nur als "Übergangsführer" angesehen.
Immer mehr zum Held vor allem der konservativen und gemäßigten Printmedien der drei Länder wurde dagegen über den untersuchten Zeitraum hinweg der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl. Während er 1989 in den Veröffentlichungen noch eine untergeordnete Rolle spielte, attestierte ihm der chilenische El Mercurio im Dezember 1990 gar einen "Zauberstab" und stellte ihn in einer Karikatur als Friedensengel dar. Die Medien urteilten zwar, er sei "mürrisch", "wie ein Bulldozer", führe die CDU "mit eiserner Hand", habe einen "Mangel an Feinheit", "kein großes Wissen oder globale Ideen", seine Reden seien "matt und konfus" und er insgesamt "ein wenig charismatischer Held". Trotzdem habe er – "immer unterschätzt" – es mit einem "selten gesehenen politischen Instinkt", "eisernem Willen", "Disziplin", "Determination", "Geschick", "Standhaftigkeit und Opportunitätssinn" zum "Patriarch der Wiedervereinigung" und zur "Lokomotive, die die Idee der Wiedervereinigung gezogen hat" geschafft. Allerdings ging er manchen Medien zu weit, als er noch vor der offiziellen Wiedervereinigung ohne "das geringste Magendrücken" durch den Osten reiste, "wie Petrus durch sein Haus".
3.4 Bewertung der Wiedervereinigung/Ausblick
Die deutsche Wiedervereinigung wurde in allen untersuchten Medien zunächst einmal einhellig positiv bewertet – so zum Beispiel als "tröstend", "belebend", "stärkend", "atemberaubend", "denkwürdig" und "jetzt schon (...) eines der wichtigsten Ereignisse des Jahres 1990 und fast mit aller Sicherheit von dieser zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts." Oder wie die konservative nicaraguanische La Prensa zusammenfasste: "Das ganze Deutschland ist jetzt frei. Stoßen wir gemeinsam auf diesen deutschen Triumph an."
Aber es gab auch kritische und sorgenvolle Stimmen. Viele Zeitungen warnten einerseits vor den internen Schwierigkeiten einer Vereinigung wie Arbeitslosigkeit und Wohnungsknappheit, erinnerten andererseits an den Ersten und Zweiten Weltkrieg, an Nationalismus, Imperialismus und Militarismus. Viele warnten auch davor, welche politischen und wirtschaftlichen Ausmaße ein vereintes Deutschland annehmen könnte. Und während einige sicher waren, dass das deutsche Volk "dauerhafte Lektionen" gelernt habe, zeigten sich andere vom Gegenteil überzeugt: "Im Grunde genommen sind die Deutschen Nationalisten." Je weiter links die Zeitung oder Zeitschrift stand, desto größer waren die Wehmut über den Verlust der DDR und die Sorgen über die Bedeutung eines vereinten Deutschlands. "Die (…) Gefahren der Ära der Perestroika fangen gerade erst an, sich zu zeigen", schrieb die gemäßigt-sandinistische nicaraguanische El Nuevo Diario und druckte am Tag nach der offiziellen Wiedervereinigung 1990 als einziges Foto aus Deutschland eines, dass eine der sehr wenigen Gewaltszenen am Rande der Feiern in Berlin zeigt. Darauf zu sehen ist ein Polizist, der mit einem Knüppel auf einen am Boden liegenden Demonstranten einschlägt. Von den vielen fröhlichen und friedlichen Feiern am selben Tag, beispielsweise vor dem Berliner Reichstag, zeigte El Nuevo Diario keine Bilder. Die linke chilenische Punto Final warnte vor "Kopfschmerzen", die die Realität mit sich bringen werde, und titelte "Vereint im Kapitalismus: Ärmstes Deutschland".
4. Subtext und Bedeutung für Chile, Nicaragua und Paraguay
Überraschend häufig zogen die ausgewerteten Zeitungen und Zeitschriften aus den Ereignissen in DDR und Bundesrepublik in expliziter oder impliziter Form Rückschlüsse auf ihre eigene Situation. Der Fall der Mauer und die deutsche Wiedervereinigung wurden als "ermutigend" und die Kraft des deutschen Volks unter anderem als "beneidenswert" bezeichnet. Die Deutschen wurden als "organisiert", "diszipliniert" und "pünktlich" beschrieben. Im Detail gab es in den drei Ländern jedoch bemerkenswerte Unterschiede.
In Paraguay sahen sowohl liberale als auch konservative Printmedien das eigene Land in einem sehr schlechten Zustand und die Ereignisse in Deutschland und ganz Osteuropa als großes Vorbild. Paraguay habe sich unter Stroessner in einem "politischen Ghetto‘" befunden und "genau wie das deutsche Volk die Unterdrückung am eigenen Leib kennengelernt". "Auch wir Paraguayer wollen unsere Revolution vertiefen", schrieb die liberale Ultima Hora. Das Jahr 1989 habe die "besten politischen und historischen Lektionen beschert", meinte die ebenfalls liberale ABC Color. "Paraguay war unter den geschätzten Studenten und kann auf einem ehrenvollen Abschluss (…) hoffen."
In Chile hingegen sahen die Medien ihr Land politisch schon viel weiter als in Paraguay – in puncto Demokratisierung sei man, der Mitte-links ausgerichteten La Época nach "in der Vorhut der Nationen dieses Kontinents". Aber von den Ereignissen in Deutschland sollte trotzdem noch gelernt werden. "Indem wir bewegt der deutschen Union gratulieren, machen wir Lateinamerikaner uns den Vorsatz, diese große Lektion zu lernen", schrieb beispielsweise Felix Garay Figueroa in eben jener Zeitung. Dabei wird immer wieder betont, dass die Parallelitäten der Ereignisse kein Zufall sein können. "Wir Chilenen besitzen die 'Werte' der westeuropäischen Zivilisation", schrieb La Época und der konservative El Mercurio betonte:
"Damit es nicht unauffällig vorbeizieht, für diejenigen, die die Chronik in der Zukunft machen: In dem selben Jahr, in dem die Berliner Mauer gefallen ist …, in diesem selben Jahr eroberten auch die Chilenen die Demokratie zurück." In Nicaragua dagegen wurden die Ereignisse vor allem von der konservativen Presse im Wahlkampf instrumentalisiert. Die dem antisandinistischen Wahlbündnis UNO treue La Prensa fordert das nicaraguanische Volk immer wieder auf, es DDR und Sowjetunion gleichzutun:
"Unterstützen wir den Wandel, seien wir Teil der Perestroika! (…) Nicaragua muss (…) gegen die FSLN stimmen und für die UNO, die die Perestroika repräsentiert. Nicaragua darf nicht dem Prozess hinterherhinken: wir müssen auf den Zug der Geschichte aufspringen." Deutschland sei eine "Lektion gewaltsamer Moral für den Nicaraguaner: Jetzt ist die Stunde, die erlösenden Utopien in den Müll zu schmeißen".
Wörter wie Perestroika oder (Berliner) Mauer wurden dabei – und das war in allen drei Ländern zu beobachten – zu geflügelten Begriffen, die plötzlich mit neuen, internen Bedeutungen gefüllt wurden: Paraguay müsse seine "Mauern der Intoleranz, Ignoranz und Vetternwirtschaft" hinter sich lassen, forderte beispielsweise das konservative Blatt El Diario Noticias und die ebenfalls konservative nicaraguanische La Prensa rief dazu auf, die "Berliner Mauer" niederzureißen, die Präsident Ortega mit seiner "beleidigenden und gewaltsamen Redekunst immer weiter hochhält" und sprach auch von einer "Mauer von Managua". In allen drei Ländern bestand zudem ein Gefühl der Sorge um die Zukunft. Die Veränderungen in Europa könnten, so fürchteten viele Kommentatoren, den Fokus der Welt noch weiter von Lateinamerika nehmen.
5. Fazit
1989 und 1990 waren für alle vier untersuchten Länder ereignisreiche und bedeutende Jahre. In Chile, Nicaragua und Paraguay wurde während der starken politischen Veränderungen im eigenen Land stets auch intensiv über den Atlantik hin zum sich wiedervereinenden Deutschland geblickt. Trotz der weiten Entfernung und des rasanten Tempos der Ereignisse bildeten sich die meisten Kommentatoren eine ausgeprägte und größtenteils positive Meinung von den Deutschen und den Vorgängen in Deutschland. Lediglich unter den stark linksorientierte Medien gab es Tendenzen, die Berliner Mauer zu verteidigen und Bedauern über das Verschwinden der DDR zu äußern. Rund ein Vierteljahrhundert später wäre nun interessant zu untersuchen, ob diese Meinungen von Dauer blieben.
In allen untersuchten Länder verglichen die Kommentatoren die Situation in ihren Ländern mit der in Bundesrepublik und DDR und offenbarten dabei nicht nur ihre Meinung zu den Ereignissen dort, sondern auch Erkenntnisse über ihr eigenes Selbstverständnis in einer Phase des Umbruchs. Die Ereignisse wurden in den drei Ländern ganz auf die eigene Situation angepasst interpretiert: Ob als Hilfe im Wahlkampf in Nicaragua, als Orientierungspunkt beim weiteren politischen Übergang in Chile oder, in Paraguay, als Vorbild für die eigene Zukunft.
Zitierweise: Christina Horsten, Die Perzeption der deutschen Wiedervereinigung in Lateinamerika. Erste Erkenntnisse einer Untersuchung der Presseberichterstattung 1989 und 1990 in Chile, Nicaragua und Paraguay, in: Deutschland Archiv, 14.03.2014, Link: http://www.bpb.de/180639
Christina Horsten
Geb. 1983; 2002-2008 Studium der Neueren und Neuesten Geschichte, Politikwissenschaften und BWL in Berlin, München und Santiago de Chile; seit 2012 Korrespondentin der Deutschen Presse-Agentur in New York; aktuell schreibt Horsten an ihrer Promotion zum Thema "Die Perzeption der deutschen Wiedervereinigung in Lateinamerika" bei Prof. Dr. Stefan Rinke an der Freien Universität Berlin
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