Nach einem Bericht der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
Maßgebend waren Anleitungstexte aus den Jahren 1977 und 1983, die "Orientierungen des Obersten Gerichts, des Generalstaatsanwalts, des Bundesvorstandes des FDGB und des Staatssekretariats für Arbeit und Löhne zur einheitlichen Behandlung arbeitsrechtlicher Probleme, die sich bei Versuchen von Bürgern der DDR, die Übersiedlung nach nichtsozialistischen Staaten und Westberlin zu erreichen beziehungsweise bei Antragstellung auf Wohnsitzveränderung nach nichtsozialistischen Staaten und Westberlin ergeben können."
Rechtswidrigkeit der Orientierungen des Obersten Gerichts
Diese Handhabung war eindeutig rechtswidrig. Denn nachdem die DDR dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte 1974 beigetreten war, hieß es 1976 ausdrücklich im Gesetzblatt der DDR: "Es steht jedem frei, jedes Land, auch sein eigenes, zu verlassen."
Vorwurf der Rechtsbeugung
In dem erwähnten Verfahren des Berliner Landgerichts wurden dem Vizepräsidenten des Obersten Gerichts der DDR Dr. Werner S. und dem Vorsitzenden des Senats für Arbeitsrecht beim Obersten Gericht der DDR Walter R. Anstiftung zur Rechtsbeugung in 18 Fällen vorgeworfen. Ihnen wurde die Beteiligung an der Erarbeitung und Durchsetzung dieser sogenannten Orientierungsrichtlinien für die Arbeitsgerichtsbarkeit zur Last gelegt, die dann zur Grundlage für die gerichtlichen Entscheidungen in Kündigungsschutzverfahren auf Kreis- und Bezirksebene wurden. Das Landgericht Berlin konnte 18 Fälle aus Berlin feststellen, in denen die mit den Kündigungsschutzklagen befassten Stadtbezirksgerichte unter Befolgung dieser Orientierungen Klagen ausreisewilliger DDR Bürger bewusst zu Unrecht und unter Verstoß gegen die Zivilprozessordnung der DDR als offensichtlich unbegründet abgewiesen haben. Soweit die Betroffenen Beschwerde eingelegt hatten, hat das Stadtgericht Berlin diese Beschwerden ebenfalls zu Unrecht und unter Verstoß gegen die Zivilprozessordnung der DDR als offensichtlich unbegründet verworfen.
Die Praxis lief fast immer nach dem gleichen Muster ab: Nachdem die Betriebe der Ausreisewilligen auf verschiedene Weise, meist durch die mit den Anträgen befassten Behörden, von den Ausreiseanträgen oder den Anträgen auf Familienzusammenführung erfahren hatten, wurden die Angestellten zur Rede gestellt, und wenn sie den Antrag nicht zurücknahmen, fristlos gekündigt. In den Kündigungsschreiben wurde der wahre Grund nicht genannt. Die zur Entscheidung über die Kündigungsschreiben berufenen Richter aber kannten den tatsächlichen Grund aus den ihnen vorliegenden Personal-, Kader- oder Konfliktkommissionsakten. Sie wiesen die Klagen in erster und zweiter Instanz entsprechend den ihnen vorgegebenen Orientierungen ab, ohne den Ausreiseantrag als wahren Kündigungsgrund zu nennen.
Dokumentierte Einzelfälle
So wurde der seit 1969 bei dem Volkseigenen Außenhandelsbetrieb als Objektleiter beschäftigte Diplomökonom Bernd W. wegen seines Ausreiseantrages 1978 mit der Begründung gekündigt, er sei für die "vereinbarte Arbeitsaufgabe nicht geeignet". Nachdem die Konfliktkommission noch belegte, dass die Kündigung wegen Nichteignung erfolgte, weil W. ein rechtswidriges Ersuchen zum Verlassen der DDR gestellt hat, lehnten Arbeitsgericht
Nicht anders erging es dem wissenschaftlichen Mitarbeiter im Rechenzentrum der Deutschen Staatsbibliothek Helge P., der 1981 während eines Urlaubs einen Ausreiseantrag gestellt hatte. Nachdem er der Aufforderung, den Ausreiseantrag zurückzunehmen, nicht nachgekommen war, wurde ihm gekündigt, weil "das gleichzeitige Vorhandensein hoher politischer und moralischer Qualitäten" nicht mehr gegeben sei. Das Stadtbezirksgericht Berlin Mitte wies seine anschließende Klage als unbegründet ab.
Die Mitarbeiterin für Wohnraumlenkung beim Rat des Stadtbezirks Berlin-Mitte, Ingrid S., wurde fristlos entlassen, weil ihr geschiedener Mann einen Ausreiseantrag gestellt hatte. Für eine Tätigkeit im Staatsapparat sei sie daher ungeeignet. Das Stadtbezirksgericht Berlin-Mitte und das Stadtgericht Berlin wiesen die Klage mit der Begründung ab, Mitarbeiter eines Staatsbetriebes hätten sich innerhalb und außerhalb des Dienstes nach den Grundsätzen der sozialistischen Moral zu Verhalten.
Die gleiche Erfahrung machte das beim Staatlichen Komitee für Rundfunk beim Ministerrat beschäftigtes Ehepaar Albrecht und Heide S. Er war Regisseur und sie Regieassistentin. Als sie 1984 in einem Personalgespräch bestätigen mussten, einen Ausreiseantrag gestellt zu haben, wurde gegen sie ein Disziplinarverfahren eröffnet, das mit der fristlosen Entlassung endete. Ohne den wahren Grund zu nennen, bestätigten das Stadtbezirksgericht Berlin-Köpenick und das Stadtgericht Berlin die Entlassung mit der Begründung einer schwerwiegenden Arbeitspflichtverletzung.
Das gleiche Schicksal erlitt der als Bratschist im Rundfunkorchester Leipzig angestellte Hans-Ulrich Z. wegen seines Ausreiseantrages.
Der leitende Angestellte O. im Büro für Urheberrechte der DDR, Arbeitsbereich Verlage hatte im November 1985 einen Antrag auf Genehmigung der Eheschließung mit einer Bürgerin aus Berlin (West) mit dem Ziel einer ständigen Wohnsitzes in Berlin (West) auf der Grundlage der Familienzusammenführungsverordnung der DDR gestellt. Auf Betreiben des Rates des Stadtbezirks Berlin-Pankow musste er zugleich die Entlassung aus der Staatsbürgerschaft beantragen. Unmittelbar nach Kenntnis davon wurde er wegen Nichteignung gekündigt. Mit der gleichen Begründung verweigerten ihm die Gerichte den Rechtsschutz. Der Ausreiseantrag wurde als Kündigungsgrund nicht genannt.
Nicht anders erging es auch dem Gruppentänzer mit Soloverpflichtung beim Friedrichstadtpalast D. Obwohl die zuständigen Gerichte aus der Personalakte den Ausreiseantrag als wahren Kündigungsgrund kannten, wiesen sie die Klage wegen schwerwiegenden Verstoßes "gegen die sozialistische Arbeitsdisziplin" und "gegen staatsbürgerliche Pflichten" ab.
Freispruch aus Rechtsgründen – die einengende Rechtsprechung des BGH zur Rechtsbeugung
Das Berliner Kammergericht hat die Angeklagten am 10. März 1999
Nach der Rechtsprechung des BGH zur Rechtsbeugung durch die DDR-Justiz sind nur menschenrechtswidrige Willkürakte als Rechtsbeugung strafbar.
Wissend, dass kein arbeitsrechtlicher Kündigungsgrund vorlag – er wurde nach außen hin den Orientierungsrichtlinien entsprechend geheim gehalten – haben sich die beteiligten DDR-Richter dazu hergegeben, die einzelnen Klägerinnen und Kläger durch die von ihnen getroffenen richterlichen Entscheidungen wegen der missliebigen Ausreiseanträge mit Mitteln der Justiz politisch zu disziplinieren. Man möchte also meinen, sie hätten Rechtsbeugung begangen, denn was soll es wohl anderes sein? Der BGH hat jedoch auch für diesen Komplex eine für die betroffenen Opfer wenig nachvollziehbare Rechtsprechung fortgesetzt und diese trotz aller Kritik immer wieder aufrechterhalten.
Unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des BGH wäre der Vorwurf der Rechtsbeugung in den Arbeitsrechtsfällen nur dann gegeben, wenn die Rechtswidrigkeit einer Entscheidung offensichtlich war und insbesondere die Rechte anderer, hauptsächlich ihre Menschenrechte, derart schwerwiegend verletzt worden sind, dass sich die Entscheidung als Willkürakt darstellt. Auf Arbeitsgerichtsverfahren übertragen bleibt danach eine Fallgruppe übrig, in denen durch die Art und Weise der Durchführung von Verfahren schwere Menschenrechtsverletzungen begangen worden sind. Dazu hat das Berliner Kammergericht 1998 ausgeführt:
"Ein solcher Vorwurf könnte hier an die Geheimhaltung des Kündigungsgrundes im gesamten Verfahren anknüpfen. Jedoch diente die Geheimhaltung nicht dazu, die Betroffenen über den wahren Ent¬lassungsgrund im Unklaren zu lassen und gerade dadurch ihre Verfahrensrechte zu verkürzen. Den Betroffenen war in betrieblichen Gesprächen vor und nach der Kündigung, auf die in den gerichtlichen Verfahren Bezug genom¬men wurde, der Ausreiseantrag als maßgeblicher Grund für die Beendigung des Arbeitsverhältnisses genannt worden. Auch bilde¬te dieser Grund den Gegenstand der richterlichen Überprüfung der Kündigung im arbeitsgerichtlichen Verfahren. Die Geheimhaltung beruhte allein auf der Besorgnis, dass Verfahrensdokumente mit dem wahren Entlassungsgrund veröffentlicht werden würden und daraus der DDR politischer Schaden erwachsen könnte. Auch der Umstand, dass sowohl die Klageabweisungen als auch die Entscheidungen über die dagegen gerichteten Beschwerden ohne mündliche Verhandlung im Beschlusswege ergingen, vermag noch nicht den Vorwurf einer schweren Menschenrechtsverletzung durch willkürliche Verfahrensgestaltung zu begründen. Die Zivilpro¬zessordnung der DDR sah diese Ent-scheidungsmöglichkeiten im Fall offensichtlicher Unbegründet¬heit vor; da die Orientierungen des Obersten Gerichts der DDR in Fällen der Kündigung wegen eines Ausreiseantrags eine fest¬stehende Rechtsprechungspraxis begründeten, war von einer Durchführung der mündlichen Verhandlung ein Einfluss auf das Verfahrensergebnis nicht zu erwarten gewe¬sen. Somit wurde die Rechtsposition der Betroffenen im Verfah-ren nicht so nachhaltig beeinträchtigt, dass eine schwere Menschenrechtsverletzung darin erblickt werden könnte."
Es blieb die Frage offen, ob die von den Richtern unter Anleitung des Obersten Gerichts entstandene Praxis, Kündigungen wegen eines Ausreiseantrages gerichtlich zu bestätigen, als offensichtlich und unerträglich willkürlich anzusehen ist. Auch das hat das Kammergericht in Ausschöpfung der Rechtsprechung des BGH wie folgt verneint:
"Die Bewertung als willkürlich hängt demzufolge vom Ausmaß einer Überdehnung des angewendeten Rechts und von der Schwere der Rechtsfolgen ab. Bei einer Übertragung auf den Bereich arbeitsrechtlicher Rechtsanwendung ist zu be¬rücksichtigen, dass hier die Wortlautgrenze nicht gleichermaßen bedeutsam ist wie im Strafrecht, dessen Anwendungsbereich allein vom Gesetz bestimmt wird. Ferner ist zu bedenken, dass die rechtlichen und tatsächlichen Folgen weniger einschneidend sind als im Strafrecht. Zwar kann eine Kündigung zu existentieller Not führen. Im Unterschied zu einer Freiheitsstrafe bleibt aber ein Leben in Freiheit möglich. Auch stigmatisiert eine Kündigung den Betroffenen nicht mit gleicher Schärfe wie eine Bestrafung. Aus diesen Unterschieden folgt, dass der Bereich rechtsbeugerischer Willkür noch enger abzustecken ist als in Fällen straf¬rechtlicher Rechtsanwendung. Von vornherein kommen nur Fälle krasser Willkür in Betracht. Die Unangemessenheit oder auch die Sachwidrigkeit einer Anwendung der gesetzlichen Kündigungsgrün¬de erfüllen diese Anforderung noch nicht. Selbst die Funktiona¬lisierung der Kündigungsgründe für politische Zwecke erreicht diesen hohen Grad an Willkür nicht, wenn jedenfalls noch ein Zusammenhang mit einem vermeidbaren Verhalten des Arbeitnehmers besteht. Die extreme Willkür, die hier den Vorwurf der Rechts¬beugung zu begründen vermag, zeichnet sich dadurch aus, dass der Richter Rechtsvorschriften gleichsam mit Füßen tritt und zu Er¬gebnissen gelangt, die jeglichem Rechtsdenken hohnsprechen."
Die Kammer des Landgerichts Berlin hat sich in dem oben angegebenen Verfahren schwergetan, sich dieser Rechtsauffassung anzuschließen. Die Kammer sah aber angesichts der vom BGH entwickelten Rechtsprechung, der dazu entwickelten Rechtsprechung des Kammergerichts und angesichts der Praxis anderer Kammern des Landgerichts keine begründete Aussicht, diese Rechtsprechung aufzubrechen.
Es hätte den Grundsätzen eines fairen Verfahrens geradezu widersprochen, wenn die Kammer in Dokumentation der eigenen Unabhängigkeit ihre Rechtsauffassung durchgesetzt hätte, wissend, dass sie in einer Revision vor dem Bundesgerichtshof keinen Bestand haben würde. Die Kammer ist daher aus Gründen der Rechtssicherheit der vom Bundesgerichtshof und dem Kammergericht vertretenen Rechtsprechung gefolgt. Für die betroffenen Richter in den hier zur Beurteilung anstehenden Fällen entfiel der Vorwurf der Rechtsbeugung. Damit konnten sich der angeklagte Vizepräsident des Obersten Gerichtes DDR und der Vorsitzende des Senats für Arbeitssachen durch die ihnen vorgeworfene Beteiligung an den Orientierungsrichtlinien des Obersten Gericht nicht der Anstiftung zur Rechtsbeugung schuldig gemacht haben. Wo keine Haupttat, da auch kein Anstifter.
Fazit
Nach den damaligen Zahlen der Staatsanwaltschaft II beim Landgericht Berlin sind rund 40.000 Ermittlungsverfahren wegen Rechtsbeugung eingeleitet worden. Nur 280 Verfahren sind zur Anklage gebracht worden. Davon haben viele Verfahren mit einem Freispruch geendet, wie das oben beschriebene. Eine andere Untersuchung
Zitierweise: Hansgeorg Bräutigam, Die arbeitsrechtlichen Konsequenzen in der DDR bei Stellung eines Ausreiseantrages, Zur Rolle der DDR-Justiz und der Justiz der Bundesrepublik Deutschland, in: Deutschland Archiv, 21.2.2014, http://www.bpb.de/179376