Wenn wir nach fast 25 Jahren über die Wahrnehmung der Deutschen Einheit sprechen, müssen wir feststellen, dass es sich dabei generell, insbesondere aber aus der polnischen Sicht, um eine Erfolgsgeschichte handelt. Der Weg dahin war aber keinesfalls einfach und schon gar nicht eindeutig.
Wiedervereinigung als ein ethisches Recht
Bereits zu Zeiten der Solidarność hat man auch in der polnischen Regierung des früheren Systems eine mögliche Wiedervereinigung Deutschlands eher als Bedrohung denn als Chance gesehen. Aber dank des Versöhnungsaufwands, der von den jeweiligen katholischen und evangelischen Kirchen betrieben wurde, hat sich langsam die Wahrnehmung zumindest bei der demokratischen Opposition in Polen verändert. Einen bedeutenden Beitrag dazu leistete der 1965 verfasste Hirtenbrief der polnischen Bischöfe an ihre deutschen Amtsbrüder, in dem gegenseitige geschichtliche Taten vergeben und um Vergebung gebeten wurde. Auch auf Laienebene gab es wichtige Schritte, z.B. im Rahmen des Klubs der katholischen Intelligenz, einer Intellektuellenbewegung die in vielen Städten Polens bereits seit Mitte der 1950er Jahre reform- und dialogorientiert in und mit der polnischen Kirche diskutierte.
Sehr viel ist in diesem Bereich auch dem Kreis um die Monatszeitschrift Więź und die Wochenzeitschrift Tygodnik Powszechny zu verdanken, darunter vor allem solchen Größen wie Władysław Bartoszewski,
In den hitzigen Debatten hat man also mit Verweis auf das eigene Leid in der Vergangenheit zugunsten der deutschen Wiedervereinigung argumentiert. Die Debatten wurden nach 1982 bis 1985 in kleinen Kreisen der Untergrund-Solidarność gehalten, darunter zwischen Professoren der schlesischen Universität – stark von Professor Walerian Pańko, einem Juristen und späteren Sejm-Abgeordneten, beeinflusst, oder im Rahmen der Untergrund-Legislatur von Solidarność in Kraków, angetrieben von Professor Stefan Grzybowski. Aus verständlichen Gründen wurden diese Sitzungen nie protokolliert.
Die Teilungen Polens, gewaltsame und von außen aufgezwungene, verursachten tief empfundenes Leid und zerschlugen Familien, die durch Grenzen getrennt wurden. Das polnische Volk war zerrissen, und seine Wahrnehmung dadurch beträchtlich geprägt. Aus geschichtlicher Perspektive betrachtet, half diese Erfahrung jedoch einigen, das Recht des deutschen Volkes auf Wiedervereinigung besser zu verstehen.
Propaganda und Vorurteilen zum Trotz
Die Solidarność war eine sehr heterogene Bewegung. Es war also schon ein kleines Wunder, dass während ihrer gesamten Mobilisierungszeit in den Jahren 1980 bis 1981 keine antideutschen Ressentiments instrumentalisiert wurden. Und das trotz aller Bemühungen und Propagandaakte seitens der Kommunistischen Partei, die die "deutsche Karte" bewusst ausspielte. Es muss in diesem Zusammenhang erwähnt werden, dass ein deutsch-polnischer Konflikt in dem Jahrzehnt 1980 bis 1990 von der Partei immer wieder konstruiert wurde. Streiks und Streikankündigungen von der Solidarność wurden offiziell so dargestellt, als würden sie zur Schwächung der Staatswirtschaft und infolgedessen zu Vorteilen für die "Imperialisten" führen, darunter die Bundesrepublik Deutschland. Wie kaum etwas anderes zeigt diese quasi-Immunisierung der Solidarność ihren demokratischen Charakter und ihre Orientierung hin zu Menschenrechten. Selbstverständlich waren der Solidarność auch die geopolitischen Rahmenbedingungen bewusst, die nicht zur Stärkung der Beziehungen zwischen beiden Völkern geeignet waren. Wesentlich dabei war die aufgeschobene endgültige Anerkennung der Westgrenze Polens. Erst der bilaterale Grenzvertrag von 1990 konnte die Skepsis vieler Polen, ungeachtet ihrer politischen Orientierung, ausräumen – von nun an war klar, dass auch Deutschland das Nachkriegspolen in seinen Grenzen anerkennen würde.
Selbstverständlich war antideutsche Parteipropaganda, welche über Jahrzehnte die Bundesrepublik als Hauptbedrohung darstellte, nach der Einführung des Kriegsrechts 1981 einfacher. In Westdeutschland reagierten die Bürgerinnen und Bürger gegen diesen verbrecherischen Akt selbst: Eine Welle von privaten Hilfspaketen folgte. Diese Hilfsmaßnahmen forderten das in der polnischen Gesellschaft immer noch vorkommende stereotype Bild eines feindlichen Deutschlands heraus. Sie weckten in den polnischen Bürgern eine neue Sympathie für die Helfer und trugen dazu bei, das Bild der deutschen Freunde zu verwurzeln, sodass die offiziell propagierte Feindschaft aus dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr als alleinige Deutung stehen blieb. Die Vorwürfe gegen Deutschland wurden nun skeptischer betrachtet und Widerstand gegen sie zu leisten, war für den "Durchschnittsbürger" emotional leichter. Dabei muss bedacht werden, dass in der Propagandasprache der Partei ein Unterschied zwischen den "guten und friedlichen" DDR-Deutschen und den "faschistischen und aggressiven" Westdeutschen gepflegt wurde. Die Pakethilfe war also die beste Medizin gegen diese Vorurteile. Ich glaube übrigens, dass der psychologischen Bedeutung der Pakethilfe zu wenig Aufmerksamkeit beigemessen wird, und genau deswegen haben wir, als ich noch in der Stiftung für Deutsch-Polnische Zusammenarbeit tätig war, gerade diese Zeit im Film "Pakete der Solidarität" thematisiert.
Eine andere, ebenfalls in Vergessenheit geratene Geschichte dieser stürmischen Tage ist die breite gesellschaftliche Hilfe, die DDR-Bürgern während ihrer Flucht über Warschau von vielen Polinnen und Polen geleistet wurde. Dabei war es ein wichtiger und symbolischer Beitrag der Bevölkerung Warschaus, den Ostdeutschen auf ihrem Weg in den Westen zu helfen. Man konnte ein besonderes Wohlwollen und Verständnis vieler Polen gegenüber den Deutschen beobachten. Polen, die an der Grenze wohnten, haben zum Beispiel die Fliehenden in ihre Häuser eingeladen. Eine Frau, die bei der bundesdeutschen Botschaft in Warschau wohnte, hat den Ankömmlingen – privat, nicht als Angestellte der Botschaft – Apfelpuffer angeboten. Auch diese Ereignisse wurden von der Stiftung Deutsch-Polnische Zusammenarbeit dokumentiert und sind im Film "Tschüss DDR. Über Warschau in die Freiheit" zu sehen. Paradoxerweise ist erst dieser Dokumentarfilm von 2009, der anfangs von der polnischen Botschaft in Berlin und in vielen ostdeutschen Städten gezeigt wurde, für betroffene deutsche Familien zum Ansporn für eine emotionale Wiedervereinigung und häufig für eine neue Identitätsfindung geworden. Es war ein seltenes Beispiel in der Geschichte unserer Länder, welches zeigte, dass ein relativ kleiner Stiftungsakt zu einem neuen Selbstbewusstsein beitragen kann. Das allein wäre Grund genug, die Stiftung zu erhalten.
Nach dem Mauerfall
Bundeskanzler Helmut Kohl und der erste frei gewählte Ministerpräsident Polens in der Nachkriegszeit, Tadeusz Mazowiecki, nehmen am 12. November 1989 an einem deutsch-polnischen Gottesdienst vor Schloss Kreisau teil. (© Bundesregierung, B 145 Bild-00016726, Foto: Arne Schambeck)
Bundeskanzler Helmut Kohl und der erste frei gewählte Ministerpräsident Polens in der Nachkriegszeit, Tadeusz Mazowiecki, nehmen am 12. November 1989 an einem deutsch-polnischen Gottesdienst vor Schloss Kreisau teil. (© Bundesregierung, B 145 Bild-00016726, Foto: Arne Schambeck)
Trotz des Aufarbeitungsdiskurses innerhalb der Solidarność kam die Wiedervereinigung Deutschlands für viele eher unerwartet. Dass die Berliner Mauer ausgerechnet während einer Polenreise von Bundeskanzler Helmut Kohl fiel, kann als Symbol der Dichte der Verflechtung unserer beiden Länder gedeutet werden.
Die Wiedervereinigung wurde also plötzlich Realität. Die Vorurteile wurden auf beiden Seiten geschwächt: Auf polnischer Seite dank der Pakethilfe, und auf deutscher Seite dank dem positiven Image der Solidarność. Das bedeutete natürlich nicht, dass der gesamte Prozess der polnischen Systemveränderungen in Deutschland verstanden wurde. Ein Beispiel dafür war die spezifische Rolle der katholischen Kirche in Polen, welche meiner Meinung nach erst dank der Tätigkeit von Johannes Paul II. teilweise begriffen wurde. Auch die Vertiefung der antipolnischen Vorurteile vor allem in Ostdeutschland war ein Späterfolg der DDR-Propaganda. Sie hat dazu beigetragen, dass das ehemals preußische Bild eines betenden, streikenden und nur Chopin-hörenden Polens, sich verwurzeln und gar Ableger im Westen entwickeln konnte. Möglicherweise hat auch das relative Freiheitsgefühl der demokratischen Opposition in Polen im Vergleich mit den Kollegen aus der DDR (immerhin wurde Polen als die "lustigste Baracke" unter den sozialistischen Satellitenstaaten bezeichnet) dazu beigetragen, dass die Polen auch nach 1989 mit Skepsis betrachtet wurden.
Die Wiedervereinigung bedeutete aber auch, dass es nun an der Zeit war, die Energie, die aus dem Versöhnungsprozess innerhalb der Solidarność zwischen 1980 und 1981 kam, auf die Probe zu stellen und zu fragen, ob sie stark genug war, um die polnische Akzeptanz für die Wiedervereinigung zu tragen. Eingangs habe ich festgestellt, dass die deutsche Einheit in der Wahrnehmung vieler Polen eine Erfolgsgeschichte war, ich bin überzeugt, dass sich dieses Urteil durchsetzen wird: In der polnischen Gesellschaft steigen von Jahr zu Jahr die Sympathiewerte für die Deutschen. Alte Gespenster wurden also zurückgedrängt. Sie sind allerdings nicht besiegt. Jede auch nur kurzfristige Verschlechterung unserer Beziehungen führt dazu, dass manche Medien auf beiden Seiten der Oder mit Leichtigkeit Vorurteile auffrischen, um so ihre Auflage zu steigern.
In diesem Zusammenhang ist es wohl die größte Veränderung in Deutschland, dass der Begriff "polnische Wirtschaft" nicht mehr dominierend negativ und abwertend assoziiert wird, sondern für Qualität und Anerkennung steht. Der bedeutende Beitrag der wirtschaftlichen Zusammenarbeit zur Versöhnung ist ebenfalls eine Tatsache: Die Öffnung des deutschen Marktes für polnische Produkte und die polnische Bereitschaft zu einer engen wirtschaftlichen Zusammenarbeit waren dafür ausschlaggebend.
Ende der Geschichte?
Der polnische Außenminister Wladyslaw Bartoszewski hält am 28. April 1995 in einer Feierstunde anlässlich der Beendigung des Zweiten Weltkriegs im Deutschen Bundestag eine Rede. Bartoszewski gehört zu den Überlebenden des Konzentrationslagers Auschwitz. (© Bundesregierung, B 145 Bild-00019288, Foto: Arne Schambeck)
Der polnische Außenminister Wladyslaw Bartoszewski hält am 28. April 1995 in einer Feierstunde anlässlich der Beendigung des Zweiten Weltkriegs im Deutschen Bundestag eine Rede. Bartoszewski gehört zu den Überlebenden des Konzentrationslagers Auschwitz. (© Bundesregierung, B 145 Bild-00019288, Foto: Arne Schambeck)
Sind mit der Wiedervereinigung also alle Konflikte in den deutsch-polnischen Beziehungen verschwunden? Im Frühjahr 2013 hat die Ausstrahlung des ZDF-Fernseh-Dreiteilers "Unsere Mütter, unsere Väter" in Polen für große Aufregung gesorgt. Als ungerecht und falsch wurde vor allem die Darstellung der polnischen Untergrundarmee (Armia Krajowa) empfunden. Der Produzent des Filmes, Nico Hofmann, hat sich entschuldigt und eingeräumt, dass man auch ausländische Berater hätte einbinden sollen.
Die Qualität der deutsch-polnischen Beziehungen ähnelt einem englischen Rasen: Je besser er gepflegt wird, und das bedeutet regelmäßiges und ordentliches Gießen und Mähen, desto größere Chancen hat man auf eine "sonnige Zukunft". Für unsere Völker besteht also die Aufgabe darin, einander gegenseitig zu akzeptieren, miteinander Handel zu treiben und verantwortungsvoll mit den Vorteilen unserer euroatlantischen Partnerschafft umzugehen. Der Beitrag Deutschlands zum polnischen NATO-und EU-Beitritt wird nicht vergessen werden, er gilt in den Köpfen der Polen als entscheidender Beitrag zur hohen "Rasenqualität". Diesen Beitrag leisten auch unermüdlich drei herausragende Stiftungen, nämlich die Stiftung Polnisch-Deutsche Aussöhnung, die Stiftung Deutsch-Polnische Zusammenarbeit und das Jugendwerk. Sie sind wie Pfeiler, die uns in Krisenzeiten helfen, Schwierigkeiten zu überbrücken und die langfristige Perspektive im Blick zu behalten. Dieses institutionelle Kapital sollte eine Grundlage sein, um unsere Beziehungen auszubauen, denn bilateral sind wir bestimmt nicht am "Ende der Geschichte" angelangt. Das belegen auch die deutsch-französischen Beziehungen, die zwar partnerschaftlich bereits auf einer anderen Stufe sind, aber hin und wieder große Herausforderungen mit sich bringen. Auch Berlin und Warschau müssen bald 25 Jahre nach dem Neubeginn den positiven Erwartungen ihrer Bewohner gerecht werden.
Zitierweise: Irena Lipowicz, Die Qualität der deutsch-polnischen Beziehungen ist wie ein englischer Rasen – sie bedarf der ständigen Pflege, in: Deutschland Archiv Online, 14.02.2014, Link: http://www.bpb.de/178908