Vor kurzem veröffentlichte die bulgarische Tageszeitung Trud (Arbeit) die Ergebnisse einer internationalen Untersuchung über das Konsumverhalten von Familien.
Deutsche und Bulgaren mit langer gemeinsamer Geschichte
Natürlich sind die gegenseitigen Wahrnehmungsmuster zwischen Deutschen und Bulgaren komplexer als solche Klischees. Sie haben sich über die Zeitläufte entlang historischer Berührungspunkte zwischen beiden Völkern herausgebildet. Will man sich die Genese gegenseitiger Stereotypen vergegenwärtigen, braucht man gewiss nicht bis zum Beginn des 9. Jahrhunderts zurückgehen, als das Frankenreich Karls des Großen und Khan Krums Erstes Bulgarisches Reich an der Theiss aneinander grenzten. Damals nannten die Bulgaren die Deutschen "Nemzite" (bulg.: die Stummen), weil sie das Bulgarische nicht sprechen konnten. Noch heute ist "Nemski" der bulgarische Begriff für die deutsche Sprache.
Ein näherliegender geschichtlicher Ausgangspunkt für eine Rekonstruktion des heutigen Images der Deutschen in Bulgarien ist das Jahr 1878. Unmittelbar nach ihrer Befreiung von fast fünfhundertjähriger osmanischer Fremdherrschaft wählten sich die Bulgaren den hessischen Prinzen Alexander von Battenberg zum Regenten. Dessen Regierungszeit dauerte nur sieben Jahre, doch schloss sich die fast sechs Jahrzehnte überspannende Herrschaft der Zaren Ferdinand und Boris III. aus dem deutschen Adelsgeschlecht Sachsen-Coburg-Gotha daran an.
Als Boris III. am 28. August 1943, wenige Tage nach seiner Rückkehr von einem Staatsbesuch bei Hitler, einer bis heute nicht zweifelsfrei diagnostizierten Erkrankung erlag, wurde sein sechsjähriger Sohn Simeon II. Kinderzar. 1946 zwangen die Kommunisten ihn außer Landes zu gehen, 2001 aber wählten die Bulgaren den nach jahrzehntelangem Exil heimgekehrten Simeon Sakskoburggotski mit überwältigender Mehrheit zu ihrem Ministerpräsidenten. Die lange Tradition deutschstämmiger Herrscher musste das Bild der Bulgaren von "den Deutschen" nachhaltig prägen. Eine besonders prägnante Charakterisierung stammt aus der Feder des bulgarischen Dichters Kyrill Christov: "Dieser praktische Deutsche, dieser rauhe Administrator und Soldat, dieser fröhliche Biertrinker kommt keine drei Tage ohne Kultur aus", schrieb er kurz vor dem Ersten Weltkrieg.
Die Bündnispartnerschaft mit den Deutschen in zwei verlorenen Weltkriegen war für die Bulgaren verhängnisvoll und führte gar zur "nationalen Katastrophe", denn statt der erhofften territorialen Zugewinne hatten sie beträchtliche Gebietsverluste zu erleiden. Vor diesem Hintergrund muss es Deutsche überraschen und befremden, dass sich Bulgaren im persönlichen Gespräch oft recht positiv auf die "gemeinsame Kriegskameradschaft" beziehen. Wie der Historiker Oliver Stein in einer profunden Studie für die Zeitschrift für Balkanologie ausgeführt hat, waren es gerade die politischen und militärischen Koalitionen zwischen Bulgaren und Deutschen, die ihre Vorstellungen über den jeweils anderen formten.
Ungleiche Partner
Angesichts der engen historischen Verbindung Bulgariens und Deutschlands seit dem Ende des 19. Jahrhunderts mag es als Ironie der Politikgeschichte erscheinen, dass nur einen Tag nach dem Fall der Berliner Mauer Bulgariens kommunistischer Staats- und Parteichef Todor Schivkov von seinen Parteigenossen des ZK der Bulgarischen Kommunistischen Partei (BKP) in einer Art Handstreich entmachtet wurde. Damit begannen für Deutschland und Bulgarien die post-sozialistischen Epochen praktisch zeitgleich, doch die Transformationsphasen beider Länder verliefen höchst unterschiedlich und führten zu entgegengesetzten Resultaten. Wurde Deutschland durch die Vereinigung von Bundesrepublik und DDR zur stärksten Wirtschaftsmacht in Europa, so gilt Bulgarien fünf Jahre nach seinem Beitritt zur Europäischen Union 2007 als das "ärmste Land der EU".
Deutschland und Russland nennt Mitko Vassilev, Geschäftsführer der Deutsch-Bulgarischen Industrie- und Handelskammer (DBIHK) in Sofia, als die beiden Länder, denen sich die Bulgaren am engsten verbunden fühlen. "Russland ist ein slawisches Land mit einer slawischen Sprache und Kultur, historisch wird es auch als zweifacher Befreier Bulgariens geachtet, zunächst vom sogenannten türkischen Joch, später vom Faschismus. Mit Deutschland verbindet uns ebenfalls eine gemeinsame Geschichte mit einer Reihe deutscher Herrscher und zwei velorenen Weltkriegen. In der Gegenwart spielt Deutschland für uns eine wichtige Rolle als führender Handelspartner", sagt er und beziffert das Außenhandelsvolumen beider Staaten auf knapp 5 Mrd. Euro.
In seinem Arbeitsalltag hat er ständig mit Deutschen und Bulgaren zu tun, die im Kontakt mit dem jeweils anderen Land den wirtschaftlichen Erfolg suchen. Diese Erfahrung brachte ihn auf die Idee, Deutsche und Bulgaren nicht nur nach ihrer Einstellung zum Erfolg, sondern auch zum jeweils anderen Land zu befragen. Sein auf Deutsch und Bulgarisch erschienenes Buch "Auf dem Weg zum Erfolg – Persönlichkeiten aus Bulgarien und Deutschland" enthält Gespräche mit 33 Bulgaren und ebenso vielen Deutschen.
Mittler zwischen Deutschland und Bulgarien
"Jeder strebt nach dem, was er nicht hat", ist Vassilevs Erfahrung als Mittler zwischen Deutschen und Bulgaren. Die Bulgaren sieht er als "große Individualisten und begeisterungsfähige Improvisatoren." Sie erledigten gerne alles in der letzten Minute, schätzten an den Deutschen aber deren langfristige Planung und Disziplin. Das "Made in Germany" sei für die Bulgaren ein Synonym für Qualität. "Andererseits empfinden sie die Deutschen zuweilen als penibel, kalt und einseitig und werfen ihnen Scheuklappen und mangelnde Flexibilität vor", nennt Vassilev die Kehrseite. Bewunderten viele Bulgaren Deutschland für seine Ordnung und seinen Reichtum, so fühlten sich viele deutsche Geschäftsleute in Bulgarien wohl, weil dort eben nicht alles so reich und geordnet sei. "Sie kommen aus der gut verschnürten Maschine Deutschland und empfinden die Atmosphäre in Bulgarien als freier", erklärt der Kammerchef.
Mitko Vassilevs eigenes Leben ist eng mit Deutschland verbunden. Auf dem deutschsprachigen Gymnasium in der südostbulgarischen Stadt Haskovo wurde er in Geografie und Geschichte auf Deutsch unterrichtet, später absolvierte er in Ost-Berlin sein Studium der Volkswirtschaft. Damit ist er ein Kulturträger zwischen den beiden Völkern, wie es sie seit Beginn des 20. Jahrhundert häufig gegeben hat. Schon damals studierten viele Bulgaren im deutschsprachigen Ausland, brachten anschließend ihre Erfahrung der deutschen Kultur mit nach Hause. Sie trugen zum allgemeinen Deutschlandbild in Bulgarien bei und bereicherten die bulgarische Sprache mit deutschen Fachtermini vor allem aus den Bereichen Handwerk und Technik.
Wie aber steht Bulgarien zur Rolle des heutigen Deutschlands in Europa? "Politisch gilt Deutschland bei uns als Lokomotive der europäischen Integration", sagt Mitko Vassilev, "wirtschaftlich als ein starker Motor, der mit angezogener Handbremse fährt, weil er die Krisenländer vor allem aus dem europäischen Süden im Schlepptau hat". Obwohl Bulgarien wirtschaftlich schwach ist, verschafft es Vassilev Genugtuung, dass es gegenwärtig nicht zu den "Sorgenkindern" Europas zählt. Ein vergleichsweise geringes Haushaltsdefizit und die niedrige Staatsverschuldung machen es gar zu einer Art Hort makroökonomischer Stabilität. "In Bulgarien ist deshalb die in Griechenland, Spanien oder Italien häufig zu vernehmende Kritik, Deutschland spalte aus Eigennutz Europa und lasse mit dem von ihm vertretenen Sparkurs die südeuropäischen Völker verarmen, wenig verbreitet", sagt Mitkov Vassilev.
Ob sich Bulgariens Sicht auf Deutschland durch die Wiedervereinigung verändert habe? "Ja und Nein", antwortet er, "die Bundesrepublik war vor dem Mauerfall Bulgariens Handelspartner Nummer 1 im kapitalistischen Ausland, die DDR Handelspartner Nummer 2 im sozialistischen Wirtschaftsgebiet. Reisen in die BRD waren uns Bulgaren verwehrt, so haben wir mehr persönliche Kontakte zu DDR-Bürgern gehabt. Mit der Wiedervereinigung wurden die beiden so unterschiedlichen Deutschland-Modelle in einen Topf geworfen, dabei hat die BRD-Variante sehr schnell Auftrieb und Dominanz erlangt. Sowohl Ostdeutsche als auch Bulgaren haben sich nach der Wende sofort und fast ausschließlich auf das westliche Gesellschaftsmodell orientiert und dabei viel von dem vergessen, was sie früher als Partner verband. Das ist schade", bedauert Vassilev.
Bulgarien erlebt Phase politischer Instabilität
Demonstration vor dem bulgarischen Parlament in Sofia. (© Frank Stier)
Demonstration vor dem bulgarischen Parlament in Sofia. (© Frank Stier)
Seit Beginn des Jahres 2013 erlebt Bulgarien eine Protestwelle wie zuletzt in den 1990er Jahren. Zunächst zwangen Massendemonstrationen gegen angeblich überhöhte Stromrechnungen im Februar das rechtsgerichtete Kabinett von Ministerpräsident Boiko Borissov zum Rücktritt. Nachdem vorgezogene Neuwahlen im Mai ein politisches Patt in der Bulgarischen Nationalversammlung ergaben, bildeten die Bulgarische Sozialistische Partei (BSP) und die türkisch orientierte Bewegung für Rechte und Freiheiten (DPS) eine Minderheitenregierung, die von der Duldung der nationalistischen Partei Ataka abhängig und damit deren radikaler Willkür ausgeliefert ist. Nach nur zwei Wochen im Amt traf das Kabinett von Ministerpräsident Plamen Orescharski eine Personalentscheidung mit für sie verheerenden politischen Folgen. Die Wahl des umstrittenen Medienmagnaten Deljan Peevski zum Chef von Bulgariens Staatlicher Agentur für Nationale Sicherheit (DANS) löste Mitte Juni Massenproteste gegen die Regierung aus, die bis heute andauern. Peevski gilt als gewissenloser Karrierist, dessen Medien unverhüllten Kampagnenjournalismus praktizieren.
Mitte Juli äußerten sich die Botschafter Frankreichs und Deutschlands in einem gemeinsamen Offenen Brief besorgt über "oligarchische Verhältnisse" in Bulgarien. Ihre als Solidaritätserklärung zu den regierungskritischen Protesten verstandene Stellungnahme mussten Regierungsvertreter als unbotmäßige Einmischung in die inneren Verhältnisse Bulgariens empfinden. Die Protestierenden aber richteten ihre Demonstrationszüge aus Dankbarkeit zunächst zur französischen und dann zur deutschen Botschaft. Vor deren Toren errichteten sie eine symbolische Berliner Mauer, um sie unter großer medialer Aufmerksamkeit wieder einzureißen. In den vergangenen Jahren hat sich Deutschlands Botschafter Matthias Höpfner immer wieder in für einen Diplomaten ungewohnter Deutlichkeit zu Missständen vor allem in der bulgarischen Medienlandschaft geäußert. Verdeckte Eigentumsverhältnisse an Medien, Verletzung journalistischer Standards zugunsten unverhüllter Klientelpolitik und Attacken auf Leib und Eigentum kritischer Journalisten haben dazu geführt, dass Bulgarien in den vergangenen sieben Jahren beim Medienfreiheits-Ranking von Reporter ohne Grenzen von Rang 36 auf 87 abgerutscht ist und damit das Schlusslicht aller EU-Länder bildet.
Ivailo Ditschev, Professor für Kulturanthropologie an der Universität Kliment Ohridski in Sofia und einer der in Westeuropa bekanntesten bulgarischen Intellektuellen, teilt die Kritik an der klaren Positionsbeziehung der ausländischen Gesandten nicht. Er schätzt sie als überfällige Unterstützung der westlichen Demokratien für Bulgariens entwicklungsbedürftige Zivilgesellschaft. "Anders als die DDR hatte Bulgarien kein Westdeutschland, das ihm nach dem Fall des Kommunismus unter die Arme hätte greifen und die Verhältnisse in Ordnung bringen können", sagt Ditschev. Er hält es für keinen Zufall, dass Bulgariens kommunistischer Diktator Todor Schivkov unmittelbar nach dem Fall der Mauer stürzte. "Die Mauer war ein Symbol und nach ihrem Sturz konnte Schivkov dem Reformdruck Gorbatschovs nicht mehr standhalten und musste gehen. Nachdem aber die jahrzehntelange zentrale politische Kontrolle weggefallen war, brach sich alles seine Bahn, zehn Jahre Chaos und Anarchie folgten. Das Jugo-Embargo infolge des Balkankriegs brachte Bandenwesen und Schwarzhandel hervor und kriminalisierte die Wirtschaft. In dieser krisenhaften Zeit hat Bulgarien von Westeuropa und Deutschland wenig Unterstützung erhalten", merkt er kritisch an.
Bulgarien erwartet von Deutschland Orientierung
Anders als etwa in Frankreich gab es in Bulgarien keine Vorbehalte gegen die Wiedervereinigung, erinnert sich Professor Ditschev: "Die Bulgaren sehen in Deutschland eine Art Zentrum Europas und sind durchaus geneigt, sich ihm in gewisser Weise unterzuordnen, in der Hoffnung, dass es sie aus dem Dreck zieht", sagt Ditschev und zieht eine Parallele zur deutschen Nationalstaatsbildung im 19. Jahrhundert. Auch damals hätten lokale Führer Vorschläge zum Nützlichen gemacht und damit allgemeine Akzeptanz gefunden. "Für Europa könnte es dafür vielleicht schon zu spät sein, es droht einem Föderalismus zu verfallen, der die Entwicklung eines Zentrums realer Politik verhindert", fürchtet Ivailo Ditschev.
Die Rolle kleiner Länder in der EU sieht er positiv, habe Bulgarien heute doch Einfluss, wie es ihn weder im sozialistischen Block unter der Dominanz der Sowjetunion noch später gehabt hatte. "Wenn es darauf ankommt, können die kleinen Länder in der EU Entscheidungen auch blockieren", sagt Ditschev. Insgesamt brächten die Bulgaren den europäischen Institutionen größeres Vertrauen entgegen als ihren nationalen. "Gerade von Deutschland erwarten die Bulgaren, dass es Stabilität in Europa garantiert. Im globalen Kontext schätzen sie Deutschlands Nichteinmischungspolitik, etwa die Zurückhaltung gegenüber den Konfliktherden in Nahost, zum Beispiel Irak und Libyen." Andererseits gebe es aber auch Stimmen, die fragen, ob sich Deutschland nicht ein bisschen zu sehr aus allem heraushalte.
Unterschiedliche Nationalcharaktere
"Viele der Bulgaren, die nach 1990 nach Deutschland emigrierten, kommentierten heimgekehrt das Land etwas enttäuscht und kritisch", erzählt Ditschev. Deutschland sei eben ein nordisches Land und Südländer empfänden die Menschen dort zuweilen als kalt und reserviert. Deshalb zögen viele bulgarische Emigranten die spanische Lebensart vor. Durch die Wiedervereinigung sieht Ditschev Bulgariens Blick auf Deutschland nicht wesentlich geändert, seien die gängigen Stereotypen doch deutlich älter. "Die Wiedervereinigung ist eine historische Episode, die lediglich zu einer Revision dessen geführt hat, was ebenfalls durch Deutschland ausgelöst wurde", sagt Ditschev und meint damit die beiden Weltkriege und die folgende Blockteilung der Welt.
Zitierweise: Frank Stier, Bulgarien blickt erwartungsvoll nach Deutschland, in: Deutschland Archiv, 9.1.2014, http://www.bpb.de/176139