Ein aufschlussreiches Zeugnis der innerparteilichen Auseinandersetzung der SPD über die deutsche Frage stammt aus den Tagen nach dem Mauerfall. Zwei intellektuelle Schwergewichte der Partei, Peter Glotz und Klaus von Dohnanyi, diskutierten in einem Briefwechsel politische Konsequenzen aus dem weltbewegenden Ereignis. Die beide Politiker verbindende Freundschaft hatte eine wechselhafte Vorgeschichte: Ende der 1960er Jahre lernten sie sich in der bayerischen SPD kennen und konkurrierten zeitweise um die Kandidatur in einem Münchener Wahlkreis. 1981 brachte Glotz - nunmehr SPD-Bundesgeschäftsführer - den gebürtigen Hanseaten von Dohnanyi als neuen Bürgermeister Hamburgs ins Gespräch, nachdem dort eine Regierungskrise ausgebrohen war. Auf Initiative von Glotz gab von Dohnanyi sein Amt als Staatsminister im Auswärtigen Amt auf und wechselte ins Hamburger Rathaus. Innerhalb der SPD waren sich von Dohnanyi und Glotz in den meisten inhaltlichen Fragen nahe. Bei der politischen Bewertung des Mauerfalls kamen sie im November 1989 jedoch zu gänzlich unterschiedlichen Ergebnissen.
Klaus von Dohnanyi: "Konflikt zwischen Kopf und Bauch"
Stein des Anstoßes war ein Artikel von Klaus von Dohnanyi, der am 16. November 1989, eine Woche nach dem Mauerfall, im Magazin Stern erschien.
Dabei sage die Stimme der Vernunft, so von Dohnanyi, dass eine Vereinigung beider deutscher Staaten die erreichte Stabilität in Europa gefährde und eine Lücke in den Warschauer Pakt reiße: Wer dies fordere, so die Vertreter der Vernunft, riskiere die "gesamte Demokratisierung im Osten und sogar den Entspannungsprozess in der Welt". Den Skeptikern in den eigenen Reihen baute von Dohnanyi damit eine goldene Brücke, er unterstellte ihnen ehrenhafte Motive für ihre Bedenken. Doch die SPD müsse sich entscheiden: Die Sozialdemokraten hätten zwar beschlossen, dass es auf die Entscheidung der DDR-Bevölkerung ankomme und sie deren Selbststimmung respektieren werde. Allerdings:
"Ob wir [Sozialdemokraten] die Einheit in einem Staat selber wollen, aber dennoch jede frei getroffene Entscheidung der DDR-Bürger hierzu respektieren würden, wird bewusst nicht gesagt. Das klammern wir aus. Haben wir hierzu keine eigene Meinung?"
Die deutsche Teilung: "Ein widernatürlicher Zustand"
Seine eigene Befürwortung der deutschen Einheit begründete er mit einem Verweis auf die Geschichte: Käme es nicht zu einer Fusion von DDR und Bundesrepublik, wäre Deutschland das einzige europäische Land "ohne historisch gewordene Hauptstadt und ohne staatliches Zusammenleben aller Stämme, die in der Neuzeit politisch eng zusammengewachsen waren". Die Reichsgründung von 1871 sei eben nicht nur "eine Episode in einer langen und bis dahin befriedigenden Geschichte deutscher Vielstaaterei", sondern vielmehr "die Erfüllung langersehnter staatlicher Einheit" gewesen. Ein geteiltes Deutschland und erst recht ein geteiltes Berlin würden in einem offenen Europa "unnatürlich" bleiben. Widerstand gegen eine mögliche Wiedervereinigung durch Selbstbestimmung würde nur "ein chauvinistisches Wiedervereinigungsfeuer entfachen". Den Skeptikern in seiner Partei warf er vor, das Thema einer staatlichen Vereinigung in der Dunkelkammer verstecken zu wollen. Die "Position der angeblichen politischen Vernunft" handele selbst gefährlich, da sie unhistorisch sei und mit Geschichte taktieren würde.
Von Dohnanyi sah die Wiedervereinigung als zwangsläufige Folge des Umbruchs in der DDR. Für ihn war die Teilung nicht mehr haltbar, sondern ein "widernatürlicher" Zustand, der nach dem Mauerfall groteske Auswüchse annehmen würde: "Wollen wir die Zuwanderung aus Schwerin und Halle verbieten oder quotieren, aber aus Sevilla und Neapel im Rahmen der EG unbegrenzt erlauben?"
Für Dohnanyi lag es auf der Hand, dass die Sozialdemokratie, die Selbstbestimmung für die DDR-Bürger forderte, auch die Einheit in Kauf nehmen müsse, denn:
"Wer die Chance bekommt, über Widernatürliches zu bestimmen, wird das Natürliche wiederherstellen." An seine Partei appellierte von Dohnanyi, ihre Position in drei Punkten zu formulieren:
Erstens solle sich die SPD für ein staatlich vereinigtes Deutschland engagieren. Sie müsse sich klar zugunsten dieses "Fernziels" aussprechen, da sie für die weitere Entwicklung ansonsten keine Vorbereitung treffen könne. Damit traf von Dohnanyi den empfindlichen Punkt, der die SPD entzweite.
Die beiden anderen Forderungen sind dagegen eher als rhetorische Konzession an die sozialdemokratischen Skeptiker zu sehen:
Zweitens müsse ein wiedervereinigtes Deutschland auf Gebietsansprüche gegen andere Staaten, einschließlich Polen, verzichten. Dies war ohnehin klarer Konsens unter Sozialdemokraten und nicht mehr als eine Bestätigung ihrer Ostpolitik und bisherigen Programmatik.
Auch von Dohnanyis dritte Forderung dürfte selbst bei kritischen Genossen auf Wohlwollen gestoßen sein: Er hob hervor, dass die Wiedervereinigung nur im europäischen Kontext vollzogen werden könne: Voraussetzung müsse ein geeintes, demokratisches Europa sein, das keinem Pakt angehöre und für seine Sicherheit selbst verantwortlich sei. Diese Vision teilte von Dohnanyi mit den Gegnern der Wiedervereinigung in der SPD. Allerdings wollten diese der deutschen Frage eben auch eine ausschließlich europäische Lösung verordnen – ohne staatlichen Zusammenschluss und nach der Devise: In einem zusammenwachsenden Europa, in dem der Nationalstaat an Bedeutung verliere, erübrige sich die nationale Vereinigung der beiden Staaten. Mit der Aussicht auf eine europäische Einbindung des wiedervereinigten Deutschlands kam von Dohnanyi seinen Gegnern gleichwohl - zumindest rhetorisch – entgegen.
Peter Glotz: "Schrecklich preußisches, schrecklich idealistisches, schrecklich machiavellistisches Dokument"
Sein wohl aufmerksamster Leser, Peter Glotz, der bis 1987 Bundesgeschäftsführer unter Willy Brandt war, durchschaute dieses rhetorische Manöver. Er konnte von Dohnanyis Politikentwurf zur deutschen Frage freilich wenig abgewinnen. Mit Verve schrieb er dem Parteifreund noch am Vortag der Veröffentlichung des Essays in einem persönlichen Brief offen seine Meinung:
"Ich habe zwanzig Jahre fast alle Äußerungen und Texte von Dir mit großer Zustimmung begleitet. Wir waren fast immer auf einer Linie (…). Diesmal schreibe ich Dir, weil ich dir geradezu schreiend widersprechen möchte".
Peter Glotz bei einer Rede auf einem SPD-Parteitag, 1995. (© Bundesregierung, B 145 Bild-00049407, Foto: Engelbert Reineke)
Peter Glotz bei einer Rede auf einem SPD-Parteitag, 1995. (© Bundesregierung, B 145 Bild-00049407, Foto: Engelbert Reineke)
Mit den historischen Argumenten von Dohnanyis ging Glotz hart ins Gericht. Er warf ihm ein unzulängliches und allzu preußisch geprägtes Geschichtsbild vor: "Ich wundere mich, dass du deine Gegner 'unhistorisch' nennst und deinerseits so unhistorisch urteilst. Wie kann ein Mann wie du historisch argumentieren und dabei nur bis 1871 zurückdenken?" Die Rolle der Reichsgründung sah Glotz grundsätzlich anders als sein hanseatischer Parteifreund. Für ihn ist von Dohnanyis Darstellung, sie habe die historisch gewachsenen Stämme der Neuzeit zusammengebracht und die Sehnsucht nach Einheit erfüllt, ein blinder Euphemismus. Glotz hielt das "Bismarck-Reich" dagegen für ein Modell der Ausgrenzung. Es habe die Nationalismen in Europa geradezu hervorgetrieben. Bei der Begründung dieser Einschätzung kam er auch auf die eigene biografische Prägung als Kind einer sudetendeutschen Flüchtlingsfamilie zu sprechen:
"Als Böhme frage ich mich immer wieder, wie es gelegentlich kommt, dass viele hochintelligente Zeitgenossen, darunter auch Genossen, es zwar unter keinen Umständen ertragen wollen, dass die 'Stämme' der Sachsen und Bayern getrennt sind, dass Ihnen aber wir Deutsch-Böhmen, die Tiroler, die Wiener, die Oberschlesier, die Danziger und wer sonst noch ziemlich schnuppe zu sein scheinen." Glotz betonte zwar auch den Konsens, jedoch ging dieser über die weithin unterstützte Forderung von Dohnanyis nach einer endgültigen Anerkennung der Westgrenze Polens und dem - von beiden gleichermaßen - postulierten Fernziel einer paktfreien "Vielvölkerföderation der Europäer" nicht hinaus. Besonders störte sich Glotz daran, dass Dohnanyi in seinem Essay mit den Begriffen "natürlich" und "widernatürlich" arbeitete, etwa bei der Frage nach dem Zugehörigkeitsgefühl der "deutschen Stämme". Glotz warf von Dohnanyi einen naiven, unreflektierten Gebrauch solcher Zuschreibungen vor und bezeichnete dessen Gedanken als "Romantizismus". Ihm widerstrebte es, sich an nationalen Stimmungen und ihren Konjunkturen zu orientieren. Seine Haltung begründete Glotz mit einer historischen Parallele:
"Die erdrückende Mehrheit der Deutsch-Österreicher fand es sogar 1938 'natürlich', an das von Hitler geführte Reich angeschlossen zu werden, […] einschließlich des Genossen [Karl] Renner.
Ironisch fügte Glotz hinzu, im Bismarck-Reich sei es "ungeheuer 'natürlich' zugegangen": Die von Klaus von Dohnanyi ins Feld geführte "große Mehrheit der Deutschen" sei in der Tat für die deutsche Einheit. "Aber was ist das für ein Argument?", fragte Glotz. Schließlich habe es auch eine Mehrheit für Wilhelm II. und "in den Jahren 1934-39 auch für Adolf Hitler" gegeben. Von Dohnanyi, so Glotz' Vorwurf, biete die "klassische Perspektive der kleindeutschen Historie, selbstverständlich minus deren Antisemitismus".
Glotz lehnte eine Wiedervereinigung zwar strikt ab, hielt sie aber auch nicht für völlig ausgeschlossen:
"Falls die Bürger der DDR wirklich den 'Anschluss' wollen, die Sowjets ihnen einen solchen Anschluss erlauben und die Westmächte ihn auch noch uns erlauben – dann wird diesen Anschluss kein Mensch aufhalten. Dann könnten wir Sozialdemokraten lange reden; wir können schließlich nicht unsererseits eine Mauer aufbauen". Bemerkenswert ist hier, dass Glotz diesem - später eingetretenen - Szenario keine große Wahrscheinlichkeit zumaß. Er zweifle daran, dass "die Supermächte so töricht sein werden, eine solche Konstellation zuzulassen".
Sorge vor neuem Nationalismus: "Schönhuber regiert schon mit"
Die Wiedervereinigungsdebatte sah Glotz mit Misstrauen, vor allem sorgten ihn die innenpolitischen Folgen. Dohnanyi unterstellte er Machiavellismus: "Weil du den 'natürlichen' Nationalismus, der in Deutschland wieder hochkommt, schon einkalkulierst". Mit der dann folgenden Aussage spitzte Glotz den Dissens noch weiter zu: "Schönhuber regiert schon mit; wir haben vor ihm so viel Angst, dass wir bereits das Falsche tun, um ihn zu verhindern". Nach den Wahlerfolgen von Franz Schönhubers Republikanern sah Glotz offenbar die Gefahr, dass auch die etablierten Parteien stärker auf nationalistische Abschottungspolitik setzen könnten, um die Demagogen von Rechtsaußen auszubremsen. So erklärte sich Glotz auch das - von ihm als opportunistisch empfundene - Verhalten von vielen seiner Genossen:
"Die Wendigkeit einiger unserer Genossen ist erstaunlich und erschrecklich zugleich. Der Begriff der 'Wendehälse' von Christa Wolf trifft nicht nur auf Leute von der SED zu, sondern auch auf Leute von uns, wenn auch in anderem Sinn." Glotz schloss seinen Brief an Dohnanyi mit versöhnlichen Worten, jedoch nicht ohne noch einmal seine Ablehnung der denkbaren Wiedervereinigung zu betonen:
"Ich hätte ihn [den Brief] Dir nicht geschrieben, wenn ich mich Dir nicht in tausend Fragen nahe wüsste. Aber du sollst wissen: Am Tag der 'Wiedervereinigung' verkrümle ich mich nach Wien, Triest oder Cortona."
Dohnanyi: "Europäisch, realistisch, politisch"
Dohnanyi antwortete Glotz am 24. November 1989 in einem handschriftlich verfassten Brief.
Für von Dohnanyi war vor allem die "künstliche Teilung" Berlins ein unerträglicher Zustand, der die "Teilung in ihrer Absurdität besonders deutlich" zeige:
"In Berlin am Potsdamer Platz auf Jahre (Jahrzehnte?) eine Zollgrenze, das alles stimmt nicht. Und was nicht stimmt, das hält auch nicht." Für von Dohnanyi stand nach dem Fall der Berliner Mauer fest: Eine Alternative zur Vereinigung beider deutscher Staaten gab es nicht. Geschichte, so von Dohnanyi, könne nicht am Reißbrett gemacht werden. Mit einer Metapher mahnte er zur Einsicht in die realpolitische Notwendigkeit:
"Eine Politik, die die Teilung Berlin-Ost/West BRD/DDR wie ein System russischer Puppen in sich verschachtelt bewahren will, weil sie die Risiken der Veränderung (die ich ja sehe!) fürchtet, die handelt eben gefährlich, weil die Schachtel nicht halten kann, weil das Reißbrett nicht die Welt ist." Abschließend wies von Dohnanyi die Kritik von Glotz an seinem Beitrag im Stern pointiert zurück:
"Wenn Du sagst: 'preußisch, idealistisch, machiavellistisch', dann antworte ich: europäisch, realistisch, politisch."
Die SPD nur in der Nebenrolle
Nur wenige Tage nach dem Mauerfall entstanden, ist dieser Briefwechsel als ein Vorbote des Zerwürfnisses der deutschen Sozialdemokratie zu sehen. Der Dissens sollte den gesamten Diskurs über die deutsche Frage in den Jahren 1989/1990 bis zur Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 mitbestimmen. Zugleich ist die Korrespondenz ein Zeugnis der intellektuellen Schärfe, mit der dieser Streit unter zwei Sozialdemokraten geführt wurde, die in ihrem Bild von Deutschland unterschiedlich geprägt waren:
Der 1928 geborene von Dohnanyi musste als Jugendlicher die Hinrichtung seines Vaters erleben, der im Widerstand gegen das NS-Regime aktiv war. Die Teilung Deutschlands war für Dohnanyi eine zu überwindende Abnormität, eine Erblast des von Hitler begonnen Krieges, die es zu beheben - und nicht zu konservieren - galt. Besonders in der Teilung der Stadt Berlin sah von Dohnanyi einen nicht mehr haltbaren Zustand. Seiner realpolitischen Analyse zufolge war die Wiedervereinigung nun das Gebot der Stunde. Mit dieser Haltung konnte er sich an der Seite des SPD-Ehrenvorsitzenden Willy Brandt wissen, der die Schritte zur Wiedervereinigung unterstützte.
Peter Glotz, Jahrgang 1939, war hingegen ein Kind der Bundesrepublik, sozialisiert im westlichen Nachkriegsdeutschland und hineingewachsen in die europäische Integration. Die Wiedervereinigung von DDR und Bundesrepublik lehnte er als Anachronismus und Rückfall in das Zeitalter des Nationalismus ab. Glotz sah von Dohnanyi in der Gefahr, mit seinem Bekenntnis zu Bismarcks Reichsgründung und der Betonung der nationalen Einheit Deutschlands an eine unheilvolle preußische Tradition anzuknüpfen. Die Wahlsiege der Republikaner waren für Glotz ein Symptom des Wiedererstarkens - längst überwunden geglaubter - nationalistischer Stimmungen, vor denen viele Genossen nun einen Kotau zu machen schienen. Seine Bedenken überdauerten den Tag der Wiedervereinigung, seine Skepsis gegenüber der neuen Ausrichtung des nunmehr vereinten Deutschlands setzte sich fort: Als am 20. Juni 1991 im Bundestag über den künftigen Regierungssitz abgestimmt wurde, sprach sich Glotz gegen Berlin aus, weil er für diesen Fall einen neuen "Zentralisierungsschub" und eine Abkehr vom proeuropäischen Kurs Deutschlands erwartete. Hier zeigte sich erneut Glotz' tiefes Misstrauen gegen die Symbole Preußens. Seinen Favoriten Bonn pries er dagegen als Symbol eines unprätentiösen Neuanfangs nach 1945.
Der SPD gelang es in den Monaten nach dem Mauerfall nicht, ihre Reihen zu schließen. Die Uneinigkeit in der Partei verlief über alle Generations- und Flügelgrenzen hinweg. Die Regierung von Helmut Kohl konnte indes Tatsachen schaffen: Auf Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion folgte – mit Rückhalt der Alliierten – kaum ein Jahr nach dem Mauerfall die Wiedervereinigung. Statt die Entwicklung zur Einheit mitzugestalten, spielten die zaudernden Sozialdemokraten 1989/1990 nur eine Nebenrolle.
Zitierweise: Robert Liniek, Die Spaltung der SPD am Ende der deutschen Teilung, in: Deutschland Archiv Online, 09.12.2013, http://www.bpb.de/174237