Seit dem Zusammenbruch des SED-Staates konzentrierte sich die Forschung sehr auf den ehemaligen Geheimdienst der DDR. Dadurch entstand der Eindruck, als sei allein das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) der Unterdrückungsapparat in der DDR gewesen. Zweifelsfrei war das MfS ein wichtiges Herrschaftsinstrument der SED ("Schild und Schwert"), aber es war nur ein Machtelement von vielen. Es ist notwendig, das gesamte System zu betrachten.
Der Schock über den Volksaufstand vom 17. Juni 1953, der nur mithilfe von russischen Panzern blutig niedergeschlagen werden konnte, motivierte die politische Führung der DDR dazu, den Repressionsapparat umzugestalten. Während in den 1950er und Anfang der 1960er Jahre noch offene Gewalt ausgeübt wurde, änderte sich das in den 1970er und 1980er Jahren wesentlich. Der Unterdrückungsapparat der SED setzte sich die "biedere Maske" des humanistischen sozialistischen Staates auf, doch gleichzeitig wurde eine völlig anderslautende Verfahrensweise streng geheim vorgegeben.
Schein und Sein zerfielen in zwei unterschiedliche Welten, wenn ein Vorgang politische Interessen des Staates berührte. Dann konnte sich kein Bürger mehr auf den Schutz der veröffentlichten Rechtsnormen verlassen und zugleich blieb verborgen, auf welcher Grundlage die willkürlichen Entscheidungen getroffen wurden.
Als ich das Buch von Ernst Fraenkel "Der Doppelstaat" nach dem Zusammenbruch der DDR lesen durfte, war ich von seinem Denkmodell des "Normenstaates" und des "Maßnahmestaates" begeistert, denn diese theoretische Herangehensweise kann meiner Meinung nach eine gute Grundlage für die Aufarbeitung des SED-Staates liefern.
1. Das theoretische Denkmodell von Ernst Fraenkel
Ernst Fraenkel entwickelte die Theorie vom Nebeneinander des die eigenen Gesetze achtenden "Normenstaates" und des die gleichen Gesetze missachtenden "Maßnahmestaates" und sah darin einen Schlüssel zum Verständnis der nationalsozialistischen Herrschaftsordnung. Sein Anliegen war es nicht, das Rechtssystem als Ganzes darzustellen, sondern das Nebeneinander des "Maßnahmestaates" und des "Normenstaates" zu erfassen. Die beiden Begriffe erklärte er wie folgt: "Unter 'Maßnahmestaat’ verstehe ich das Herrschaftssystem der unbeschränkten Willkür und Gewalt, das durch keinerlei rechtliche Garantien eingeschränkt ist; unter 'Normenstaat’ verstehe ich das Regierungssystem, das mit weitgehenden Herrschaftsbefugnissen zwecks Aufrechterhaltung der Rechtsordnung ausgestattet ist, wie sie in Gesetzen, Gerichtsentscheidungen und Verwaltungsakten der Exekutive zum Ausdruck gelangen."
Fraenkel ging davon aus, dass der politische Sektor des Dritten Reiches ein rechtliches Vakuum bildete. Er schloss nicht aus, dass es in diesem Sektor eine gewisse Ordnung und Kalkulierbarkeit des Verhaltens der Funktionäre gab, stellte aber gleichzeitig fest, dass es dort keine publizierten und damit allgemein verbindlichen Normen zum Verhalten der Behörden und sonstigen Exekutivorgane gab. Er schreibt: "Im politischen Sektor des Dritten Reiches gibt es weder ein objektives noch ein subjektives Recht, keine Rechtsgarantien, keine allgemein gültigen Verfahrensvorschriften und Zuständigkeitsbestimmungen - kurzum, kein auch die Betroffenen verpflichtendes und berechtigendes Verwaltungsrecht. In diesem politischen Sektor fehlen die Normen und herrschen die Maßnahmen. Daher der Ausdruck 'Maßnahmestaat'."
Eine sehr wichtige Frage war die, wann ein zu betrachtender Sachverhalt politisch wurde, und er führt dazu aus: "So gelangen wir zu dem Ergebnis: Politisch ist, was politische Instanzen für politisch erklären. Die Einstufung einer Handlung als politisch oder unpolitisch entscheidet darüber, ob sie nach Rechtsnormen oder nach Willkür der politischen Behörden beurteilt wird. Die rechtliche Lage im heutigen Deutschland ist dadurch gekennzeichnet, daß es keine Materie gibt, die sich dem Zugriff der politischen Instanzen zwecks politischer Erledigung ohne jegliche Rechtsgarantien zu entziehen vermöchte."
An unterschiedlichen Beispielen aus der Rechtsprechung zeigt er in seinem Werk auf, dass jede Handlung in die Bewertungskategorie "politisch" kommen konnte. So verlor z. B. ein Postschaffner, der Bibelforscher war, seine lebenslange berufliche Stellung deshalb, weil er nicht den Gruß "Heil Hitler", sondern nur "Heil" äußerte. Einem jüdischen Emigranten wurde die Ausstellung einer Geburtsurkunde verweigert, obwohl das Gesetz über die Beurkundung des Personenstandes eine solche Pflicht vorsah. Die Staatspolizei hatte die Ausstellung untersagt, und das Gericht stellte diese Anweisung über das gesetzte Recht. Es sei nicht Aufgabe der ordentlichen Gerichte zu prüfen, welche Verwaltungsmaßnahmen zur Erhaltung der Staatssicherheit erforderlich seien. Fraenkel kommt zum Fazit: "Wir glauben, daß diese Entscheidung 'unmöglich' war, weil (...) 3. Das Reichsgericht die Befugnis der Staatspolizei, 'aus Gründen der Staatssicherheit' einzugreifen, auf einem Gebiet anerkannte, das im eigentlichen Sinn des Wortes rechtstechnisch-unpolitisch ist. Daß allerdings unter den damaligen Verhältnissen die Versagung einer Geburtsurkunde für einen jüdischen Emigranten eine Frage von Leben und Tod werden konnte, weil ohne Geburtsurkunde kein Personalausweis zu erlangen war, macht sie in den Augen derjenigen zu einem 'politischen' Problem, für die sich ‚Politik' im Freund-Feind-Verhältnis erschöpft. Wenn es eine ‚staatsgefährliche' Geburtsurkunde gibt, dürfte der schlüssige Beweis erbracht sein, daß es keine Materie gibt, die sich dem Zugriff der Staatspolizei entzieht. Hieraus folgt, daß jede Betätigung im Dritten Reich als politisch angesprochen und behandelt werden kann."
2. Fraenkels Denkmodell und die Besonderheiten des SED-Staates
Die Entwicklung im SED-Staat vom offenen Terror der 1950er Jahre bis hin zu einem angeblich weltoffenen Sozialismus der 1970er und 1980er Jahre verschärfte den Spagat zwischen öffentlicher Ansage und tatsächlicher Verfahrensweise. Das war der beste Nährboden für das Gedeihen eines "Maßnahmestaates" wie Fraenkel ihn beschreibt. Der "Normenstaat" hatte die Aufgabe, die Bevölkerung ruhig zu stellen, ein geschöntes Bild vor der Weltöffentlichkeit zu schaffen und alle Vorgänge zu regeln, die außerhalb der politischen Brennpunkte angesiedelt waren. Ein Diebstahl wurde genauso bestraft wie heute, Schadensersatzansprüche ähnlich durchgesetzt und Verträge mittels Willensübereinstimmung zustande gebracht. Der "Normenstaat" war öffentlich, der Rechtsweg gegeben und die Entscheidungen begründet nachzulesen.
Die Frage aber, wann ein Sachverhalt politisch und damit dem "Normenstaat" entzogen wurde, konnten sich die DDR-Bürger nicht beantworten. Vor allem war nicht zu durchschauen, auf welcher Grundlage die Entscheidungen getroffen und wem in diesem Falle Kompetenzen eingeräumt wurden. Der "Maßnahmestaat" existierte streng geheim, er hatte allein die Aufgabe, die uneingeschränkte politische Macht zu sichern, er war nur wenigen Funktionären zugänglich ("Vertrauliche und Geheime Verschlußsachen" – VVS und GVS), es gab weder einen Rechtsweg noch eine unabhängige Kontrolle, und der Inhalt der Maßnahmen konnte sich sehr schnell ändern, je nach politischer Notwendigkeit und nach Sichtweise der Funktionäre.
Dieses Nebeneinander von "Normenstaat" und "Maßnahmestaat" führte zu einer großen Verunsicherung der Bevölkerung und nährte das Gefühl des absoluten Ausgeliefertseins – beste Grundlage für die Herausbildung des Untertanengeistes. Man ahnte, dass ein "Maßnahmestaat" im Hintergrund existierte, wurde auch mit den Folgen konfrontiert, aber man hatte keine Möglichkeit, diesen Apparat zu durchschauen.
Das heutige Problem ist die Unkenntnis über den komplexen Umfang der gewollten Maßnahmen. Die einstige strikte Geheimhaltung und die Vernichtung vieler Akten erschweren die Beweisführung. Sachverhalte werden häufig nur nach dem veröffentlichten "Normenstaat" betrachtet, was zur Folge hat, dass Opfern der Willkür die Rehabilitierung mangels Beleg versagt wird. Einige Beispiele aus den Akten sollen aufzeigen, dass es in der DDR einen "Maßnahmestaat" gab und wie er wirkte. Damit sollen Anregungen für weitergehende Forschungen gegeben werden.
2.1 Besuchsreisen aus dringenden familiären Gründen
Anfang der 1970er Jahre erschien der SED-Staat in einem völlig neuen Licht. Nach der Machtübernahme durch Erich Honecker gab es Verhandlungen mit der Bundesrepublik. Am 21. September 1972 wurde der Grundlagenvertrag abgeschlossen, und 1973 erfolgte die Aufnahme der beiden deutschen Staaten in die Vereinten Nationen. Der DDR-Bevölkerung wurden Reiseerleichterungen in Aussicht gestellt. Am 17. Oktober 1972 veröffentlichte der Minister des Innern der DDR, Friedrich Dickel, die Anordnung über Regelungen im Reiseverkehr aus dringenden familiären Gründen von Bürgern der DDR in die Bundesrepublik.
Allerdings handelte es sich um eine reine Kann-Bestimmung. Informationen darüber, in welchen Fällen diese Reisegenehmigungen erteilt und wann versagt wurden, blieb der Innenminister der Öffentlichkeit schuldig. Diese Vorgehensweise regelte er intern. Derselbe Innenminister hatte schon am 12. September 1972, noch vor der Veröffentlichung der Anordnung, die Dienstvorschrift Nr. 015/72 "über vertrauliche Regelungen im grenzüberschreitenden Personenverkehr" als "Vertrauliche Verschlußsache I 020 488" herausgegeben. Hier waren vorsorglich "Ausreisesperren" vorgesehen "für Bürger der DDR, bei denen der begründete Verdacht besteht, dass sie eine Reise über die Staatsgrenze der DDR zum ungesetzlichen Verlassen missbrauchen werden."
Jeder Antragsteller wurde vor der Reise intern sehr genau auf eine solche Absicht der "Republikflucht" überprüft. Großzügiger war man nur bei Invaliden und Rentnern, die dem Staat lediglich Kosten verursachten. Bei allen anderen Antragstellern gab es zwei Überprüfungsverfahren: Eines bei der Polizei selbst (koordiniert von den Abteilungen Pass- und Meldewesen) und eins bei der Staatssicherheit. Das Spitzelsystem der Deutschen Volkspolizei stützte sich auf den Abschnittsbevollmächtigten (ABV), dem Volkspolizisten im Wohngebiet, der "zuverlässige Auskunftspersonen" im Umfeld des Reisekandidaten, also z.B. Nachbarn oder Arbeitskollegen, befragte.
1976 musste der Innenminister mit diesem Überprüfungsverfahren sehr unzufrieden gewesen sein, möglicherweise gab es zu viele "Republikfluchten", denn er erließ am 24. September 1976 die Anweisung Nr. 0157/76 "über Ausreisen von Bürgern der DDR nach der BRD und Westberlin" als "Vertrauliche Verschlußsache I 020784". Diese Vorschrift offenbart das wahre Gesicht dieser angeblich humanitären Reisemöglichkeiten. Innenminister Dickel wies an, dass nur "politisch absolut zuverlässige" DDR-Bürger zur Beisetzung von Vater oder Mutter oder zur Silberhochzeit der Schwester fahren durften. Mit einer ausgesprochenen Gründlichkeit regelte er in der Anlage 1 "Kriterien für die Einschätzung der absoluten politischen Zuverlässigkeit des Antragstellers". Neben der "politischen und moralischen Grundeinstellung", wie die "eindeutige Parteinahme für die sozialistische Entwicklung in der DDR", wurden Kriterien zum "Gesellschaftlichen Leben" und zum "Beruflichen Leben" abgeprüft. Der heimliche Blick ging hin bis in die Privatsphäre:
"Moralisch einwandfreie Ehebeziehungen;
Sozialistische Erziehung der Kinder;
Persönlicher bzw. familiärer Umgang mit anderen Bürgern und Familien, der den Auffassungen über das sozialistische Zusammenleben entspricht;
Feste Bindung an in der DDR lebende Verwandte (Eltern, Kinder, Geschwister usw.);
Bindung an in der DDR befindliche Vermögens- und andere Werte."
Besuchsreisen in die Bundesrepublik setzten intern voraus, dass durch heimliche Befragungen eine "einwandfreie politische Grundhaltung, Zuverlässigkeit und Treue zur DDR" festgestellt wurde.
Diese interne Verfahrensweise konterkarierte den "Normenstaat", denn gemäß Artikel 30 der Verfassung vom 7. Oktober 1974 waren die Persönlichkeit und Freiheit jedes Bürgers "unantastbar". Einschränkungen waren nur in Zusammenhang mit strafbaren Handlungen oder Heilbehandlungen zulässig und sie mussten gesetzlich begründet sein. Auch der Gleichheitsgrundsatz vor dem Gesetz aus Artikel 20 Absatz 1 der Verfassung interessierte den Innenminister nicht, wenn er seine Maßnahmen zur Absicherung der SED-Alleinherrschaft über die DDR-Bürger einleitete.
2.2 Tätowierungen im Strafvollzug
Am 5. Mai 1977 trat ein neues Strafvollzugsgesetz in Kraft.
Im Gesetz war in Artikel 3 Absatz 2 zu lesen: "Die sozialistische Gesellschaft läßt sich auch im Strafvollzug konsequent von der Gerechtigkeit sowie der Achtung der Menschenwürde und der Persönlichkeit leiten." Das waren die geschönten Worte für die Öffentlichkeit. Noch vor der Verabschiedung des Gesetzes am 7. April 1977 gab derselbe Innenminister die sehr umfangreiche interne "Ordnung Nr. 107/77 über die Durchführung des Vollzuges der Strafen mit Freiheitsentzug" heraus.
"die staatliche Ordnung oder staatliche Organe, Einrichtungen bzw. gesellschaftliche Organisationen oder deren Tätigkeit bzw. Maßnahmen herabgewürdigt werden,
die staatliche oder öffentliche Ordnung beeinträchtigt, das sozialistische Zusammenleben gestört oder die staatliche oder gesellschaftliche Ordnung verächtlich gemacht wird,
die staatliche Tätigkeit beeinträchtigt wird, indem durch sie in einer die öffentliche Ordnung gefährdenden Weise eine Missachtung der Gesetze bekundet wird."
Was konkret unter der Störung des sozialistischen Zusammenlebens oder der Verächtlichmachung der gesellschaftlichen Ordnung zu verstehen war, blieb offen. Der Strafgefangene war dieser willkürlichen Begutachtung ohne Mitspracherecht ausgesetzt und mit der Straftat, die zum Freiheitsentzug geführt hatte, hatte diese Vorgehensweise nichts zu tun. Dem Strafgefangenen drohte die Einordnung seiner Tätowierung in die Klassifikationsstufe "Tätowierungen, an deren Entfernung staatliches Interesse besteht", die ausdrücklich in der internen Ordnung geregelt war. Eine Verweigerung der Entfernung hatte drastische Folgen. Unterschiedliche "Erziehungsmaßnahmen" waren möglich. Die Nötigung zur Entfernung der Tätowierung wird aber besonders unter Punkt 1.3.1 der Anlage 8 der Ordnung deutlich: "Strafgefangene, die zur vollständigen oder teilweisen Entfernung extremer Tätowierungen kein Einverständnis geben, sind von der Antragstellung zur Strafaussetzung auf Bewährung grundsätzlich auszuschließen."
Das war reine Willkür, denn diese Vorgehensweise war durch die Rechtsordnung nicht gedeckt. Die Aussetzung der Freiheitsstrafe war gemäß Artikel 45 des Strafgesetzbuches gegeben, wenn der Zweck der Freiheitsstrafe erreicht wurde. Zentraler Punkt der Betrachtungen war dabei die begangene Straftat und nicht die willkürliche Einordnung von Tätowierungen.
2.3 Eingabenrecht
In der DDR gab es keine Verwaltungsgerichtsbarkeit.
Eingaben mussten innerhalb von vier Wochen beantwortet werden. Solange das Anliegen als politisch unwichtig eingestuft wurde, wie z. B. Beschwerden zur Versorgung mit Obst, bei Wohnungsproblemen oder unfreundlichen Mitarbeitern des Staatsapparates, hielt man sich an die gesetzlichen Vorgaben, änderte zwar in der Regel nichts an den Missständen, aber die Bürger bekamen wenigstens eine Antwort. Sobald ein Sachverhalt aber politisch wurde, stand der Vorgang außerhalb des gesetzten Rechts, ohne dass diese Verfahrensweise öffentlich bekannt wurde.
Derselbe Willi Stoph, der das Eingabengesetz der Volkskammer unterschrieb, gab am 8. März 1977 die Verfügung Nr. 34/77 zur Unterbindung von Übersiedlungsanträgen in die Bundesrepublik als "Vertrauliche Verschlußsache B 2-I-044 128" heraus.
"Am 26.2.1986 habe ich eine Eingabe gemacht, wegen meiner Ausreise bzw. Eheschließung mit einem BRD-Bürger, der seit 4 ½ Jahren mein Verlobter ist. Ich finde es nicht in Ordnung, daß man bzw. Sie mir keine Antwort auf meine Eingabe geben. Ist das jetzt so üblich, daß die Bürger, die eine Eingabe machen, keine Antwort erhalten. Oder sind es keine 4 Wochen, wie sich die Frist der Bearbeitung beläuft. Ich möchte Sie doch bitten, mir eine Antwort auf meine Eingabe zu geben. Vor allem bitte ich Sie mir die Ausreise zu erteilen. Die schönsten Jahre sind mir und meinem Verlobten doch schon verloren gegangen. Warum sind Sie so grausam? Ich habe doch nichts verbrochen."
Das Unverständnis von Frau R. ist hier ganz offensichtlich. Sie kannte das Eingabengesetz, in dem stand, dass die Anliegen innerhalb von vier Wochen zu beantworten waren. Der geheime Hintergrund, solche Schreiben einfach zu ignorieren, blieb ihr verborgen.
Auch Peter-Michael K. war Betroffener. Er stellte am 16. Juli 1983 einen Antrag auf Übersiedlung in die Schweizerische Eidgenossenschaft und auf Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR. Auf mehrere Eingaben erhielt er keine Antwort. Am 21. Mai 1985 schrieb er eine neue Eingabe:
"Was hat eine derartige Behandlung durch die staatlichen Organe mit der Würde des Menschen und der Achtung der Menschenrechte zu tun? Da man es ebenfalls nicht für nötig erachtet auf meine Eingaben vom 23.01.1985 und 18.03.1985 an den Verfassungs- und Rechtsausschuß der Volkskammer der DDR zu reagieren, so wie es auch mit meinen Eingaben an den Vorsitzenden des Ministerrates der DDR, W. Stoph, geschieht, sind das weitere Beweise dafür, daß die Würde des Menschen und die Achtung der Menschenrechte für Sie anscheinend leere Worte sind. Seit dem 16.07.1983 mußte ich persönliche Beleidigungen, falsche Anschuldigungen, Repressalien gegen Familienangehörige, Strafandrohungen, ein Reiseverbot, Verletzung des Postgeheimnisses, u. a. durch staatliche Organe hinnehmen, die sich auch in Äußerungen wiedergeben wie:
ich hätte kein Recht, so einen Antrag stellen zu können
ich würde aus der DDR nicht vor dem 65. Lebensjahr raus kommen
ich könnte soviel Schreiben wie ich wolle, es würde sowieso niemand darauf reagieren, man sieht meinen Antrag als erledigt an
Strafandrohungen gegenüber eines befreundeten Bürgers der Schweizerischen Eidgenossenschaft
Unterstellung ich wäre von einem ausländischen Geheimdienst abgeworben worden
bisherige Aussagen werden abgestritten (scheinbar verlieren Personen, außer ihrer Fassung auch noch das Gedächtnis)
ich könnte mir meinetwegen mit meinen Eingaben den Arsch abwischen, sie können mich mal am Arsch lecken, Raus
Völkerrechtliche Erklärungen interessieren uns nicht
wenn Sie sich nicht an die gesetzl. Bestimmungen halten, ziehen wir Sie aus dem Verkehr"
Diesem Bürger wurde auf sehr drastische und vulgäre Art und Weise mitgeteilt, welche Bedeutung seine Eingaben hatten. An Recht und Gesetz fühlten sich die SED-Funktionäre immer dann nicht gebunden, wenn sie intern der Meinung waren, dass ihre politischen Interessen über die verbindliche Rechtsordnung zu stellen waren. Allerdings war diese Einstellung zu DDR-Zeiten nie öffentlich nachzulesen.
2.4 Udo Lindenbergs "Sonderzug nach Pankow"
Rockmusiker Udo Lindenberg überreicht Erich Honecker bei dessen Besuch 1987 in Wuppertal eine Gitarre. (© picture-alliance)
Rockmusiker Udo Lindenberg überreicht Erich Honecker bei dessen Besuch 1987 in Wuppertal eine Gitarre. (© picture-alliance)
Im Oktober 1983 gab es ein großes Medienspektakel. Udo Lindenberg durfte vor ausgesuchtem Publikum auf dem Festival "Für den Frieden der Welt" in der DDR auftreten. 1987 kam es dann gar zum persönlichen Treffen zwischen Lindenberg und Honecker mit dem Austausch von Schalmei und Lederjacke. Am 25. Juni 1987 veröffentlichte die Zeitschrift "Junge Welt" einen Brief von Honecker an Lindenberg, in dem zunächst die Lederjacke als ein "Symbol rockiger Musik für ein sinnvolles Leben der Jugend ohne Krieg und Kriegsgefahr, ohne Ausbildungsmisere und Arbeitslosigkeit, ohne Antikommunismus, Neofaschismus und Ausländerfeindlichkeit" dargestellt wurde, sodann folgte Eigenlob darüber, dass 110 professionelle Rockbands in der DDR existieren würden und danach wurde die Feststellung getroffen: "So erweist sich wieder einmal: Meldungen westlicher Medien über die DDR sind das eine und die Realitäten in unserem Land das andere."
"Bei Kultur- und Unterhaltungsveranstaltungen, insbesondere bei Diskotheken, wurde durch Schallplattenunterhalter u. a. Personen der Liedtext 'Entschuldigen Sie, ist das der Sonderzug nach Pankow' verbreitet. Es handelt sich dabei um einen von dem BRD-Rock-Sänger und Liedermacher Udo Lindenberg arrangierten und interpretierten, gegen die sozialistische Gesellschaftsordnung der DDR und ihre führenden Repräsentanten gerichteten Liedtext. Um einem weiteren öffentlichkeitswirksamen Verbreiten dieses Liedes und anderer Liedtexte feindlich-negativen Inhalts des Udo Lindenberg vorzubeugen, ist im Zusammenwirken mit den zuständigen staatlichen Organen und Einrichtungen Einfluß zu nehmen, damit sie konsequent ihrer Verantwortung bei der Durchsetzung der bestehenden rechtlichen Bestimmungen auf dem Gebiet der Unterhaltungskunst und zur Durchführung öffentlicher Veranstaltungen jederzeit gerecht werden. Die Maßnahmen müssen darauf gerichtet sein, das Abspielen dieser Liedtexte mit feindlich-negativem Inhalt zu verhindern bzw. zu unterbinden. Im Falle eines öffentlichen Abspielens von Liedtexten feindlich-negativen Inhalts des Udo Lindenberg durch Berufs-, Laien- oder nebenberuflich tätige Musiker, frei- oder nebenberuflich tätige Schallplattenunterhalter oder andere Personen sind, nach gründlicher Prüfung der Täterpersönlichkeit sowie der konkreten Umstände und Motive der Tat, folgende Möglichkeiten von Disziplinar,- Ordnungsstraf- und Strafmaßnahmen differenziert zur Anwendung zu bringen: (…)"
Die interne Wortwahl mit "Täterpersönlichkeit" und der Androhung von "Disziplinar-, Ordnungsstraf- und Strafmaßnahmen" war eine ganz andere als die öffentliche. Es gab keinerlei juristische Grundlage, das Abspielen des Liedes zu sanktionieren, weder im Strafrecht noch im Arbeitsrecht. Die Strafandrohung stand außerhalb der verbindlichen Rechtsordnung, und ein Beispiel soll belegen, welche drastischen Konsequenzen diese einstmals geheimen Vorgaben hatten.
Paul L. war ein gestandener Seemann, fuhr viele Jahre als I. Technischer Offizier auf der MS "Fritz Reuter" zur See. Am 5. April 1983 gab es in der Freizeit ein gemütliches Zusammensein in der Messe des Schiffes. Dabei wurde auch das Lied von Udo Lindeberg "Es fährt ein Sonderzug nach Pankow" abgespielt. Herr L. hatte es auf einer Musikkassette aufgenommen. Niemand fühlte sich in der Runde belästigt, die Stimmung war gut. Kurze Zeit nach dieser Begebenheit musste Paul L. sein Seefahrtsbuch abgeben. Die Genehmigung zum Überschreiten der Seegrenze wurde ihm mit sofortiger Wirkung ohne Angabe von Gründen entzogen. Erst nach dem Zusammenbruch des SED-Staates stellte sich heraus, dass dieses Berufsverbot allein durch das Abspielen des Liedes verursacht wurde, obwohl der I. Technische Offizier überhaupt keine Arbeitspflichtverletzung begangen hatte. In der einstigen internen Begründung ist zu lesen:
"Der Genosse L. erlernte von 1968-1971 in unserem Betrieb den Beruf eines Vollmatrosen mit Abitur, Spezialisierung Maschinenbetriebstechnik. Von 1971-1975 besuchte er die IHS
Nur vier Tage nach diesem Antrag wurde das Seefahrtsbuch entzogen und Paul L. konnte seinen Beruf nicht mehr ausüben. Gegen diese Entscheidung gab es kein Rechtsmittel. Der Entzug des Seefahrtsbuches musste nicht begründet werden. Solche internen willkürlichen Entscheidungen waren der Öffentlichkeit entzogen und unterlagen keiner gerichtlichen Nachprüfung.
2.5 Todesnachrichten
Die Nachricht über den Tod von nahen Angehörigen ist eine zutiefst traurige und völlig unpolitische Angelegenheit und doch bekam dieser Vorgang in der DDR eine ganz andere Bedeutung, wenn solche Sterbefälle Verwandte in Ost und West betrafen. Die Mitteilung über eine Beisetzung in der Bundesrepublik war ein Reisegrund für DDR-Bürger. Allerdings sollte, wie bereits aufgezeigt, nicht jeder ausreisen, und so wurden die Todesnachrichten nur übermittelt, wenn die geheime staatliche Kontrolle das genehmigte.
"Ersuchen von Polizeidienststellen oder anderen behördlichen Einrichtungen der BRD und Berlin (West) auf Benachrichtigung von Angehörigen in der BRD oder in Berlin (West) verstorbener Bürger sind wie folgt zu behandeln (…): a) Die Ersuchen sind entgegenzunehmen; der Rat des Kreises, Stellvertreter des Vorsitzenden für Inneres, hat unmittelbar nach deren Eingang den Leiter des Volkspolizei-Kreisamtes sowie die Kreisdienststelle des Ministeriums für Staatssicherheit vom Inhalt der Ersuchen in Kenntnis zu setzen. Werden von dort keine Einwände erhoben, ist unverzüglich ein verantwortlicher Mitarbeiter der Abteilung Innere Angelegenheiten mit der Benachrichtigung der nächsten Angehörigen zu beauftragen. Wird keine Zustimmung erteilt, hat keine Benachrichtigung zu erfolgen."
Todesnachrichten aus der Bundesrepublik, die zur Weiterleitung beim Innenministerium (im Polizeiapparat oder bei den Abteilungen Inneres der örtlichen Räte) eingingen, wurden "gefiltert", um zu verhindern, dass politisch unzuverlässige DDR-Bürger einen Reiseantrag stellten. Ob eine Zustellung tatsächlich erfolgte, war eine absolut unberechenbare Entscheidung, ohne Rechtfertigung, ohne Begründung und ohne Kontrolle. Auch Informationen über Sterbefälle in der DDR an nahe Angehörige in der Bundesrepublik wurden politisch zweckmäßig zurückgehalten. Das belegt ein Aktenvorgang.
1980 kämpfte eine Mutter in Westberlin um die Übersiedlung ihres erwachsenen Sohnes aus der DDR. Sie war als Rentnerin legal ausgereist und der Sohn blieb zurück. Doch Stefan
"(...) Die geschiedene Ehefrau lehnt jegliche Aktivitäten einer Beisetzung ab. Aus den bisherigen Aktivitäten der Mutter ist anzunehmen, daß diese an einer Überführung nach Berlin-West interessiert ist. Wir sind in Übereinstimmung mit den Sicherheitsorganen an einer Einreise der Frau (...) nach (...) zwecks Beisetzung nicht interessiert. Frau (...) steht in der Sperrkartei. Wir bitten um die Einleitung entsprechender Maßnahmen. Eine Information durch uns nach Berlin-West erfolgte nicht."
Die Akte endet mit einem kleinen handschriftlichen Zettel, der das Datum 24. Dezember 1980 trägt. An Heiligabend hielt ein Mitarbeiter der DDR-Staatsorgane letztmalig fest: "mit VO
3. Fazit
Der SED-Staat hatte eine zweigeteilte Existenz. Ich meine, dass Ernst Fraenkels Denkmodell eines "Normenstaates" und eines "Maßnahmestaates" durchaus als theoretische Grundlage für weitergehende Untersuchungen geeignet ist. Die angeführten Beispiele sollten das belegen. In der DDR war Willkür ein wichtiges Herrschaftsinstrument, um den politischen Machterhalt zu sichern. Jeder Lebensbereich konnte in die Kategorie "politisch" und damit in den "Sog" des "Maßnahmestaates" kommen.
Ernst Fraenkel ist noch heute für sein Werk "Der Doppelstaat" zu danken. Er hat uns damit ein theoretisches Denkmodell hinterlassen, das unabhängig von den Besonderheiten einer Diktatur als Grundlage für eine realistische Aufarbeitung des SED-Staates dienen kann.
Zitierweise: Heidrun Budde, Fraenkels "Doppelstaat" und die Aufarbeitung des SED-Unrechts, in: Deutschland Archiv Online, 29.11.2013, Link: http://www.bpb.de/174168