In einem besorgten Artikel in der führenden spanischen Tageszeitung El País vom 26. April 2013 wendet sich der deutsche Botschafter in Spanien, Reinhard Silberberg, gegen das aus seiner Sicht ungerecht verzerrte Deutschlandbild der Spanier. Er sei es leid, ständig vom egoistisch-unsolidarischen Deutschland zu hören, das Europa im Stich lasse und die Südländer durch aufgezwungene Sparsamkeitsdiktate stranguliere, während Deutschland in Wahrheit am meisten für ein gemeinsames Europa leiste. Des Botschafters Sorge weist auf ein grundlegend verändertes Deutschlandbild in Spanien und anderen südeuropäischen Ländern hin. Das große Vertrauen in ein wiedervereintes Deutschland in einem zusammenwachsenden Europa ist seit dem Beginn der Krise und der allzu deutlichen Führungsrolle der stärksten europäischen Wirtschaftsmacht einem wachsenden Misstrauen und Unmut gegenüber dem Land der neuen "eisernen Lady" gewichen.
Der vorliegende Beitrag vergleicht das Deutschlandbild der Spanier der frühen 1990er Jahre mit dem aktuellen Image der Deutschen in Spanien. Er zeichnet die Entwicklung seit dem Betritt Spaniens zur Europäischen Gemeinschaft (1986) und der folgenden Vereinigung Deutschlands (1990) bis zur aktuellen Krise des Integrationsprozesses und der Währungsunion nach. Die gegenseitige Wahrnehmung während des gesamten Zeitraums ist wesentlich durch die Rolle der beiden Länder im europäischen Einigungsprozess und durch den Verlauf des europäischen Integrationsprozesses bestimmt. Am Ende steht eine kritische Bestandsaufnahme der aktuellen Probleme eines allzu "deutschen Europas" und der einseitig verzerrten Wahrnehmung der deutschen Führungsrolle seitens der Spanier.
Historisch unbelastet und entspannt
Das traditionell sehr ehrfurchtsvoll und positiv besetzte Deutschlandbild der Spanier konsolidierte sich im Verlauf der Integration Spaniens in die Europäische Union (EU)
Im Unterschied zu vielen europäischen Nachbarn leidet Spanien unter keinem Deutschland-Trauma. Zwischen Deutschland und Spanien gab es keine historischen Schlachten, keine kolonialen Auseinandersetzungen, keine Kämpfe um die Vormachtstellung in Europa, ja nicht einmal gescheiterte Allianzen wie diejenige zwischen Hitler und Mussolini. Während des Spanischen Bürgerkrieges (1936-39) kam es auf der einen Seite zu Interventionen Hitlers zugunsten der aufständischen Franco-Generäle, mit dem traurigen Höhepunkt der Bombardierung der baskischen Stadt Gernika durch die deutsche Luftwaffe. Auf der anderen Seite kämpften aber auch viele deutsche Freiwillige in den Internationalen Brigaden für die Republik und gegen den Faschismus. Spaniens Blick auf Deutschland ist daher traditionell eher entspannt und respektvoll distanziert.
Die Spanier haben große Hochachtung vor dem deutschen Wiederaufbau nach 1945, der Qualität der Produkte, den Automarken, der seriösen Organisation und dem leistungsfähigen Sozialstaat. Die Erfahrungen der meisten spanischen Gastarbeiter in Westdeutschland waren positiv und haben vielen Familien geholfen, einen bescheidenen Wohlstand zu erarbeiten. Etwa 600.000 spanische Gastarbeiter nutzten das 1960 unterzeichnete und bis 1973 gültige Anwerbeabkommen der Bundesrepublik mit Spanien zu einem – in der Regel vorübergehenden, mehrjährigen – Arbeitsaufenthalt im "Wirtschaftswunderland" Deutschland.
Parallele Normalisierung im zusammenwachsenden Europa
Das historisch unbelastete Verhältnis und der Respekt gegenüber den Deutschen prägte auch die grundsätzlich positive Sicht der Spanier auf die deutsche Einigung. Ganz anders als viele Franzosen, Briten, Holländer, Tschechen, Polen oder Dänen befürchteten sie keine Gefahr von einem großen Deutschland in der Mitte Europas. Die friedliche Vereinigung der zwei deutschen Staaten erschien ihnen als natürlicher Prozess, eingebettet in das glückliche Ende des Kalten Krieges und der Teilung Europas. Selbst eine gewisse Führungsrolle der bevölkerungsreichsten und wirtschaftsstärksten Nation erschien ihnen logisch, und das Vertrauen in Deutschland war und ist viel größer als das in Frankreich oder gar in das Vereinigte Königreich.
Das historische Zusammenfallen von Demokratisierung und Europäisierung auf spanischer Seite sowie die Vereinigung zweier deutscher Staaten inmitten eines neuen Europa am Ende des Kalten Krieges erzeugte gar eine unterschwellige Interessensallianz: den gemeinsamen Wunsch nach Normalisierung. Spanien ist seit Langem bemüht, die Rolle der peripher zurückgebliebenen Nation hinter den Pyrenäen am Tor zu Afrika hinter sich zu lassen, um sich als ganz normales, modernes europäisches Land zu etablieren. Der EU-Beitritt war ein entscheidender Schritt in diese Richtung und das sich einigende Europa ein idealer Kontext.
Deutschland wiederum hatte aus anderen Gründen ein gleichgerichtetes Interesse nach einer neuen Rolle als ganz normales europäisches Land. Die Schmach der Geschichte sollte endlich überwunden und auf historische Distanz gebracht werden, Nationalsozialismus und SED-Diktatur sollten Geschichte, Demokratie und Freiheit dagegen allseits anerkannte deutsche Realität werden. War die ursprüngliche Europäische Gemeinschaft noch ein Projekt zur Kontrolle und Zähmung Deutschlands und der Westbindung der Bundesrepublik, so wollte das vereinte Deutschland nun wieder ein vollwertiges, seiner Größe und Stärke entsprechendes Mitglied der Staatengemeinschaft werden.
Die politische Freundschaft der "Europäer" Helmut Kohl (1982-1998 Kanzler der Bundesrepublik) und Felipe González (1982-1996 Ministerpräsident von Spanien) hat in dieser Interessenskoinzidenz ihr zentrales Motiv und repräsentierte einen breiten Konsens der Bevölkerungen. Die Spanier waren durchaus bereit, einige "deutsche" Tugenden wie seriöses Unternehmertum und gewissenhafte Arbeit zu übernehmen, um im Gegenzug den Deutschen ein bisschen mediterrane Lebensfreude zu vermitteln. Gegenseitige Anerkennung und Angleichung der Lebensstile bildeten ein unterschwelliges Programm für die Wahrnehmung und Beziehung beider Nationen untereinander.
Während des langen Booms der spanischen Wirtschaft zwischen 1994 und 2007 und der gleichzeitigen Stagnation des deutschen Wirtschaftsriesen, der mit den Auswirkungen der Globalisierung und den Folgen der Vereinigung kämpfte, verschoben sich gar die Anerkennungs- und Selbstbewusstseinsbeziehungen. Die Spanier übernahmen dankbar ihr neues positives Image der kreativen, innovativen und flexiblen Zukunftsnation und entwickelten erstmals ein leichtes Überheblichkeitsgefühl gegenüber den schwerfälligen, rigiden und konservativen Deutschen. Dass deutsche Banken und Versicherungen an der enorm anwachsenden und politisch angeheizten privaten Verschuldung der Unternehmen und Haushalte gut mitverdienten und deutsche Rentner viele der Häuser und Appartements an der Mittelmeerküste und auf den Ferieninseln erwarben, störte dabei nicht. Es kam auch niemand auf die Idee, dass dahinter eine deutsche Eroberungs- oder Hegemoniestrategie stecken könnte, so wie sie heute Frau Merkel und den deutschen Banken häufig unterstellt wird. Die Deutschen wurden weiterhin respektvoll betrachtet, aber man hatte ja nun eigene spanische Tugenden vorzuweisen.
Die Krise und die neue Führungsrolle Deutschlands
Vor diesem Hintergrund ist das aktuelle Deutschlandbild der vermeintlich arrogant-autoritären Chefin Europas, die in egoistisch unsensibler Manier ihre Austeritätsideologie den südeuropäischen Krisenländern aufzwingt und dabei auch noch die Interessen der deutschen Banken vertritt, eine neue Erscheinung, deren längerfristige Auswirkungen auf die bilateralen Beziehungen und Europa insgesamt noch schwer abzusehen sind. Ohne das unverantwortlich dumme Gerede vom "Vierten Reich",
Auffällig ist zuallererst das enorme Interesse für Deutschland. Die umfassende Berichterstattung rund um die Bundestagswahl vom September 2013 ist allenfalls mit dem Interesse für US-amerikanische Präsidentschaftswahlen zu vergleichen. Diese sind allerdings traditionell ein großes Medienspektakel, während deutsche Bundestagswahlen für gewöhnlich selbst interessierte Bürger eher langweilten. Wochenlang berichteten die Medien über Deutschland, publizierten Serien über das Land der Frau Merkel, druckten Sonderbeilagen und förderten so das Bild, dass nicht nur Spanien, sondern ganz Europa vom Wohlwollen der deutschen Regierung abhänge.
Die augenblickliche Krise wies Spanien und Deutschland rasch gegensätzliche Positionen zu. Spanien reihte sich in die südeuropäischen Dauerkrisenländer ein, während Deutschland schnell und erfolgreich aus der Krise heraus zur wirtschaftlichen und bald auch politischen Führungsmacht emporstieg. Aus der geteilten Position einer Normalisierung im europäischen Kontext sind nun zwei gegenpolige Standpunkte geworden, Nord gegen Süd, Gläubiger gegen Schuldner, Nettozahler gegen Hilfeempfänger.
Darüber hinaus scheint sich Deutschland aufgrund der Bedürfnisse seines Exportsektors zu einer "Weltwirtschaftsmacht” zu entwickeln. Dadurch, dass es seine außenpolitischen Ziele durch wirtschaftliche Mittel zu erreichen versucht, wendet sich das Land immer mehr von seinen europäischen Partnern ab. "Wir müssen sparen und verzichten, damit die deutschen Banken ihre Kredite zurückbekommen und sollen dabei den Euro stabilisieren, damit die deutschen Unternehmen weiter ihre Produkte in ganz Europa verkaufen können. Umgekehrt hilft uns niemand, unsere marode Wirtschaft wieder in Gang zu bringen und unserer verzweifelten Jugend Arbeit und Perspektive zu verschaffen." Dies ist der Tenor der spanischen Wahrnehmung des aktuellen, von Frau Merkel dominierten, Eurokrisenmanagements. Alle lindernden Maßnahmen wie Eurobonds, Umschuldungen oder der Ankauf von Staatsschulden durch die Europäische Zentralbank scheinen von der deutschen Hardlinerin blockiert zu werden.
Kritische deutsche Intellektuelle wie Ulrich Beck, der die rigorose Machtpolitik als "Merkiavelli-Methode" (angelehnt an Machiavelli) bezeichnet,
Zwischen falsch verstandener Führung und verzerrter Wahrnehmung
Bauruinen in Zafra, Spanien. Mit der Wirtschafts- und Finanzkrise platze die Immobilienblase. (© dpa)
Bauruinen in Zafra, Spanien. Mit der Wirtschafts- und Finanzkrise platze die Immobilienblase. (© dpa)
Aus der Interessensallianz der frühen 1990er Jahre ist seit der Krise eine gefährliche Interessensdivergenz geworden. Der Wandel der deutsch-spanischen Beziehungen spiegelt einen tiefen Bruch in Europa wider. Der eingangs zitierte deutsche Botschafter hat sicherlich Recht, wenn er der spanischen Öffentlichkeit eine verzerrte Wahrnehmung der Realität vorhält, um Deutschland für die Folgen einer Wirtschaftskrise verantwortlich zu machen, die zu allererst hausgemacht ist. Niemand hat die spanischen Regierungen gezwungen, eine fiskalisch angeheizte Wohnungsbaupolitik zu betreiben; niemand hat die spanischen Banken und Sparkassen dazu gezwungen, das auf den Finanzmärkten billig und im Überschuss vorhandene Geld in eine Immobilien- und Hypothekenblase zu investieren; niemand hat die spanische Zentralbank dazu gezwungen, ihre Aufsichtsfunktionen zu vernachlässigen und die meisten Sparkassen und einige Banken in die Überschuldung schlittern zu lassen; niemand hat die spanischen Kommunen dazu gezwungen, sich durch undurchsichtige Baugenehmigungs- und Lizenzvergaben zu bereichern und dabei ein korrupt-klientelistisches Verwaltungssystem zu errichten; niemand hat die spanischen Unternehmen dazu gezwungen, einen Schuldenberg aufzutürmen, der das Sozialprodukt bei Weitem übersteigt; und niemand hat die spanischen Haushalte dazu gezwungen, einen ebenso hohen Schuldenberg in Form von Hypotheken und Konsumentenkrediten anzuhäufen. Für all diese Krisenursachen will weder die spanische Politik noch die spanische Bevölkerung die Verantwortung übernehmen, und die Schuldzuweisung an "Señora Merkel" erfüllt dafür einen hervorragenden Dienst. Immer mehr Spanier bilden sich ein, dass eine Art von neoimperialistischer Vormachtstrategie der Deutschen das arme südliche Spanien unterjocht.
Das dahinter verborgene politische Zukunftsproblem ist allerdings noch weitaus dramatischer als die realitätsverzerrende Entsorgung vergangener Verantwortlichkeiten und betrifft nicht nur Spanien, sondern auch Deutschland und den Rest Europas. Niemand zwingt die spanische Regierung (im Unterschied zu Griechenland) dazu, eine die Wirtschaft und Gesellschaft zerstörende Sparpolitik zu betreiben, die eine Deflationsspirale in Gang gesetzt hat, die noch für lange Zeit eine wirtschaftliche Erholung ausschließt. Statt eine gezielte Wirtschaftsförderungspolitik mit Anreizen für mehr Forschung, Entwicklung und Innovation zu betreiben, statt eine umfassende Steuerreform mit dem Ziel einer gerechteren Einkommensverteilung anzustoßen und statt eine ebenso notwendige Verwaltungsreform für mehr Transparenz und Effizienz in die Wege zu leiten, folgt die spanische Regierung dem neoliberalen Kürzungs- und Deregulierungsdogma. Dadurch gießt sie immer mehr Öl ins Feuer.
Diese verheerende Politik wird in der Tat im Namen Merkels und der von ihr angeblich dominierten EU bzw. der "Troika" (Europäische Zentralbank, Europäische Kommission, Internationaler Währungsfonds) betrieben, um sich so bequem der eigenen Verantwortung zu entledigen. So wird in vielen Teilen Europas ein politischer Diskurs geführt, der Deutschland eine dominante Führungsrolle zuweist, die ihm weder zukommt noch der Realität entspricht. Die deutsche Regierungschefin repräsentiert in diesem Diskurs die unhintergehbare Macht der Märkte, die unvermeidlich befolgt werden muss und gegen die man allenfalls anjammern kann, ohne sie wirklich beeinflussen zu können. Dass die neue deutsche Hegemonie im Namen der (Finanz-)Märkte ausgeübt wird, birgt eine tödliche Gefahr für das europäische Projekt insgesamt.
Es geht um die Zukunft Europas.
"Wie lange kann man sich auf die Fähigkeit der Deutschen, sich kleiner zu machen als sie wirklich sind, verlassen?", hat der polnische Autor Krzysztof Wojciechowski jüngst im Deutschland Archiv die entscheidende Frage der europäischen Gegenwart und Zukunft formuliert.
Deutschland ist plötzlich in das Zentrum des europäischen Doppelproblems gerückt: die Rettung des Euro ist nur durch eine Vertiefung des europäischen Projekts denkbar, d.h. durch eine tiefgreifende institutionelle Reform der EU hin zu einer koordinierten Wirtschafts- und Finanzpolitik und hin zu einer demokratischen politischen Union. Im Moment ist allein die Bundesrepublik zu einer derartigen Initiative in der Lage, doch eine solche ist wenig populär und ruft allerorten euroskeptische Kräfte auf den Plan. In dieser Situation erscheint business as usual, ein passives Abwarten, bequemer. Doch dieser Kurs droht Europa in eine historische Existenzkrise mit ebenso weitreichenden wie unkalkulierbaren Folgen und Risiken zu stürzen.
Den spanischen Ministerpräsidenten Mariano Rajoy und Angela Merkel eint derzeit wenig, außer dem, was Jürgen Habermas das "Scheitern der Eliten" in Form eines Demoskopie geleiteten Opportunismus nennt: "Der europäische Einigungsprozess, der immer schon über die Köpfe der Bevölkerung hinweg betrieben worden ist, steckt heute in der Sackgasse, weil er nicht weitergehen kann, ohne vom bisher üblichen administrativen Modus auf eine stärkere Beteiligung der Bevölkerung umgestellt zu werden. Stattdessen stecken die politischen Eliten den Kopf in den Sand. Sie setzen ungerührt ihr Eliteprojekt und die Entmündigung der europäischen Bürger fort."
Das Spanienbild der Deutschen war lange nicht so schlecht wie heute, und das Deutschlandbild der Spanier war vielleicht noch nie so schlecht wie zurzeit: Der "sympathische Lebenskünstler" ist dem "ineffizienten und korrupten Dopingbetrüger" gewichen,
Zitierweise: Holm-Detlev Köhler, Vom bescheidenen Wertarbeiter zur arroganten Chefin, Wandlungen im Deutschlandbild der Spanier von der Vereinigung bis zur Wirtschaftskrise, in: Deutschland Archiv Online, 11.11.2013, http://www.bpb.de/172169.