Deutschland im Herbst 1983: Die Straßen der Hauptstadt hallen wider von den Rufen hunderttausender Demonstranten, die sich zum Protest gegen die Stationierung atomarer Mittelstreckenraketen in Bonn eingefunden haben. In Berlin, der Hauptstadt des anderen Deutschlands, beschließt die Regierung die Wehrpflicht in der Nationalen Volksarmee auf Frauen auszuweiten, während sich im Land eine immer stärker werdende Bürgerrechtsbewegung formiert. Hitzige Kontroversen zum NATO-Doppelbeschluss werfen drohend ihre Schatten voraus. Der Kalte Krieg hat einen seiner letzten Höhepunkte erreicht. Inmitten dieser angespannten Stimmung setzt Erich Honecker, Staatschef der DDR, am 31. Oktober 1983 überraschend seine Unterschrift unter einen deutsch-deutschen Friedensvertrag: einen Friedensvertrag auf grüner Pappe, handschriftlich verfasst von Bundestagsabgeordneten der Grünen. Wie war es dazu gekommen?
Einladung der Grünen
Unter dem Eindruck der zugespitzten politischen und militärischen Lage setzte die Regierung der DDR in jenen Herbsttagen einige Hoffnung auf das jüngste Kind des bundesrepublikanischen Parlamentarismus. Die Grünen, so lässt der Blick in die Akten des Ministeriums für Staatssicherheit erkennen, sollten manipuliert und für die Zwecke der SED instrumentalisiert werden. Denn erklärtes Ziel der noch jungen Grünen Partei war es, die Umsetzung des NATO-Doppelbeschlusses und damit die Stationierung atomarer Mittelstreckenraketen in der Bundesrepublik zu verhindern. Selbst aus der Friedensbewegung hervorgegangen, taten sich die Grünen bei Friedensaktionen lautstark hervor. Den etablierten Bonner Parteien waren sie so zum unangenehmen Gegenspieler im eigenen Haus geworden. Die SED hingegen sah in der Kritik der Grünen an der Rüstung des Westens einen willkommenen Anknüpfungspunkt. Und so lud Erich Honecker die Grünen Abgeordneten am 31. Oktober 1983 zum Gespräch in die DDR – die erste Einladung durch ein ausländisches Staatsoberhaupt in der Geschichte der Partei.
Dennoch war die Einladung Honeckers keinesfalls der vermuteten Manipulierbarkeit der Grünen geschuldet. Sie ging vielmehr auf die so genannte Alexanderplatz-Aktion der West-Grünen vom 12. Mai desselben Jahres zurück. Diese war von dem auch für die SED unbequemen Teil der Partei organisiert worden, der sich der Idee einer blockübergreifenden Friedensbewegung verschrieben hatte.
Protest auf dem Alexanderplatz
In West-Berlin wurde zu dieser Zeit von der Friedensbewegung die 2. Europäische Konferenz für atomare Abrüstung abgehalten. Den Mitgliedern der DDR-Friedensbewegung jedoch war die Reise nach West-Berlin und damit die Teilnahme an der Konferenz von der DDR-Administration verweigert worden. Am 4. Konferenztag versammelten sich daher einige der Konferenzteilnehmer gemeinsam mit Friedensaktivisten aus der DDR zum Protest im Osten der geteilten Stadt auf dem Alexanderplatz. Die Grünen Bundestagsabgeordneten Petra Kelly, Gert Bastian, Gaby Potthast, Lukas Beckmann und Roland Vogt traten geschmückt mit Blumen und Transparenten auf und forderten "Abrüstung in Ost und West."
Ihr Auftritt währte nur kurz. Lukas Beckmann schilderte den Einsatz der Volkspolizei später so: "Die Aktion begann um 11.55 Uhr – und dauerte nur wenige Minuten. Im Nu waren 50 Lederjacken da, wir wurden verhaftet, in einem Kleinbus ins Gefängnis gefahren."
Forderungen nach Abrüstung in West und Ost
Parteiintern entfachte die Aktion eine für die Anfangsjahre der Grünen typische und vor allem hitzig geführte Debatte. Petra Kelly und Gert Bastian waren der Meinung, dass ähnliche Aktionen auch in Zukunft Teil der Deutschlandpolitik der Grünen sein sollten. Gert Bastian zeigte sich besonders erfreut darüber, deutlich gemacht zu haben, dass die Grünen für Abrüstung in beiden Blöcken eintraten. Der aus der Tschechoslowakei stammende Dissident Milan Horáček forderte sogar, künftig ähnliche Aktionen auch dann zu starten, wenn massiver Widerstand der Staatsgewalt zu erwarten sei. Rudolf Bahro, 1979 aus der DDR abgeschoben, bescheinigte den Initiatoren der Proteste, sichtbar gemacht zu haben, dass die Friedensbewegung "nicht dem Osten, nicht dem Westen gegenüber, sondern untereinander loyal" sei. Otto Schily begrüßte, dass durch die Aktion gezeigt worden sei, "daß wir unseren politischen Bewegungsspielraum erweitern, nicht nur gegen die NATO-Nachrüstung anzugehen, sondern auch gegen die Rüstung in den Ostblockstaaten."
Der orthodox-linke Flügel der Grünen hingegen zeigte sich alles andere als zufrieden mit dem Eindruck, den die Partei in Ost-Berlin hinterlassen hatte. Aus Hamburg und Berlin wurde der Vorwurf laut, die Akteure der Alexanderplatz-Aktion hätten durch ihr Auftreten in der DDR die Kritik der Grünen an der Rüstungspolitik des Westens relativiert. In einer noch am 12. Mai herausgegebenen Erklärung kritisierte die Alternative Liste Berlin, dass angesichts der derzeit sehr empfindlichen Beziehungen zwischen beiden deutschen Staaten eine solche Aktion alte Feindbilder reaktiviere. Lobende Worte für die Alexanderplatz-Aktion von Seiten der konservativen bundesdeutschen Presse, etwa durch Die Welt, wurden als Beweis für die Richtigkeit dieser Einschätzung gewertet.
Während sich die orthodoxe Linke noch die Haare raufte, traf aus dem Palast der Republik jene Einladung ein, die von Joschka Fischer als "eleganteste Reaktion, die es je aus Ost-Berlin gab", bezeichnet wurde.
Grünenbesuch in der DDR
Zum Missfallen der SED nahmen die Grünen die offizielle Einladung in die DDR zum Anlass, sich auch mit Mitgliedern der unabhängigen Friedensgruppen zu treffen. Von deren Ideen inspiriert, überraschten sie Erich Honecker schließlich mit jenem, kurz vor dem Treffen spontan auf grüner Pappe verfassten "Friedensvertrag". Darauf forderten sie handschriftlich, gegenseitige Gewaltanwendung in jedem Fall auszuschließen und Feindbilder abzubauen. Es geschah, womit keiner gerechnet hatte: Erich Honecker setzte tatsächlich seinen Namenszug unter diese Forderungen. Allerdings erklärte er, die ebenfalls geforderte einseitige Abrüstung könne er aufgrund des verfassungsmäßigen Auftrages, die Verteidigung seines Landes sicher zu stellen, und wegen der Bündnisverpflichtungen gegenüber dem Warschauer Pakt leider nicht unterzeichnen.
Otto Schily nutzte dennoch die Gunst der Stunde, um Erich Honecker eine Mappe mit Petitionen zur Freilassung von in der DDR Inhaftierten zu überreichen und insbesondere die Freilassung der Bürgerrechtsaktivistin Katrin Eigenfeldt zu verlangen. Auch hier landete er einen Überraschungserfolg: Der Staatsratsvorsitzende willigte ein.
Höflichkeitsfloskeln und Wohlwollen schliffen sich jedoch schnell ab. Vor allem beim Thema Friedensbewegung kam es zu unübersehbaren Differenzen. Während die Grünen immer wieder auf die Menschenrechtsverletzungen in der DDR zu sprechen kamen, betonte Erich Honecker: "Die wichtigste Frage bleibt für uns: Wie die Nachrüstung verhindern?" Er zeigte sich von dem scharfen Ton Petra Kellys äußerst irritiert, die ihm vorwarf, angesichts der wehrpolitischen Maßnahmen und der Einschränkung von Kontakten der Grünen mit den unabhängigen Friedensgruppen der DDR sei die SED-Regierung "nicht glaubwürdig". Ihre Politik sei eine "Heuchelei". Auch wenn sich die Grünen laut Aussage der Staatssicherheit von der Einladung des Staatsratsvorsitzenden durchaus geschmeichelt fühlten, blenden ließen sie sich nicht. Direkt an den Staatsratsvorsitzenden gewandt, sagte Petra Kelly: "Ich würde Sie bitten zu erklären, Herr Honecker, warum Sie hier verbieten, was Sie bei uns bejubeln."
Dass die Unterzeichnung des Friedensvertrages politisch folgenlos bleiben würde, stand von Anfang an außer Zweifel. War er also nicht mehr als ein politischer Gag, initiiert "just for the show"
Ein Besuch mit Folgen
Der Besuch der Grünen in der DDR war symptomatisch für die Beziehung der Partei zum anderen Deutschland und er machte das Jahr 1983 zum Höhepunkt Grüner Symbolpolitik im Kalten Krieg. Er verwandelte die anfängliche Euphorie der SED gegenüber den Grünen in anhaltende Skepsis. Entsprechend wurden auch die Grenzen deutlich, an die die Grünen in ihrer Politik als kleine Oppositionspartei stießen. Kreativer Zugang zur Obrigkeit der DDR und damit verbundene Einzelerfolge – ja. Langfristige Kooperation – nein. Dazu fehlte den Grünen letztlich die Entscheidungsmacht im eigenen Land.
Das Auftreten der Grünen am 31. Oktober 1983 zeigte der SED, dass die Grünen sich nicht dauerhaft manipulieren ließen und – anders als die DKP – nicht zu einem Instrument der SED werden würden. In der Folge reagierte die SED mit jahrelangen Einreiseverboten gegen Mitglieder der Grünen. Gleichzeitig ließ der Besuch der Grünen die Sympathien erkennen, die Erich Honecker ganz offenbar für Petra Kelly hegte. Ihr verzieh er so manche Kritik.
Deutschlandpolitische Zerrissenheit der Grünen
Die parteiinternen Diskussionen im Vorfeld des Meinungsaustausches mit Erich Honecker zeigten außerdem die deutschlandpolitische Zerrissenheit der Grünen. Diese schwankten zwischen der Forderung nach Anerkennung der DDR und der bedingungslosen Solidarisierung mit der dortigen Opposition. Mit ihren öffentlichen Aktionen und ihrer unbedingten Solidarität mit der DDR-Opposition legten die Initiatoren der Alexanderplatz-Aktion vor allem aber den Grundstein für das anhaltende Vertrauen der DDR-Bürgerrechtsgruppen in die Grünen, die für sie Vorbild und Bündnispartner zugleich waren.
Die Gründe für den Niedergang des sozialistischen Deutschlands mögen vielfältig gewesen sein. Unumstritten aber ist, dass die Wut und der Protest der Bürgerrechtsbewegung, die sich ab Herbst 1989 in spektakulären Massendemonstrationen entluden, einen wichtigen Beitrag zum Zerfall der SED-Herrschaft leisteten. Das Ende des Kalten Krieges, das Einlenken der Regierungen Gorbatschow und Honecker in den Herbsttagen des Jahres 1989, es wäre zweifellos auch ohne den Einfluss der Grünen eingetreten. Vor 30 Jahren, im Rahmen des Honecker-Besuches am 31. Oktober 1983 wurde jedoch deren Unterstützung für die Oppositionsbewegung des Ostblocks erstmals deutlich sichtbar. Mit ihr trugen die Grünen zu dem raschen Anwachsen dieser Bewegung bei, die schließlich dafür sorgte, dass eben jener 9. November 1989 und kein späterer Zeitpunkt zum Wendepunkt der deutschen Geschichte wurde.
Zitierweise: Regina Wick, Friedensvertrag auf grüner Pappe – 31. Oktober 1983, in: Deutschland Archiv Online, 01.07.2013, http://www.bpb.de/163514