Im Systemwettbewerb der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts spielte der Konsum eine zentrale Rolle. Für DDR-Bürger boten der in weiten Teilen des eigenen Landes mögliche Empfang westdeutscher Rundfunk- und Fernsehprogramme, persönliche Beziehungen oder Reisen in die Bundesrepublik vielfache Gelegenheit, die jeweiligen Konsumniveaus zu vergleichen. Zwar gab es seit den 1950er Jahren in der DDR keinen Hunger und bei der erwerbstätigen Bevölkerung keine Armut mehr.
Es soll untersucht werden, ob die "Aufgabe" der DDR durch ihre Bürger am Ende der 1980er Jahre auch durch den immer mehr spürbaren Mangel an ganz alltäglichen Produkten motiviert war: War es am Ende die lückenhaft oder nur schwer erhältliche Kindergarderobe und die sprichwörtlich fehlende Banane, die bei den DDR-Bewohnern das Fass zum Überlaufen brachte?
Die Entwicklung der Versorgungslage bei Textilien und Bekleidung bzw. bei Obst und Gemüse in den 1970er und 1980er Jahren und die Reaktion der DDR-Bevölkerung lässt sich anhand unterschiedlicher Quellen beleuchten - veröffentliche und interne Statistiken, Stimmungsberichte des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS), Einschätzungen im Auftrag des Ministeriums für Handel und Versorgung (MHV) sowie Eingaben aus der Bevölkerung. Die Statistischen Jahrbücher der DDR wiesen fortlaufend Daten aus zu den Nettogeldeinnahmen der Bevölkerung, ihren Sparguthaben und den Einzelhandelsumsätzen. Sie belegen einerseits, dass sich die Ostdeutschen im "Konsumsozialismus" der 1970er und 1980er Jahre, der ganz wesentlich mit dem Namen des SED-Generalsekretärs Erich Honecker verbunden war, mehr leisten konnten als zuvor.
Steigende Einkommen konnten nicht in Waren umgesetzt werden
Zwei Faktoren sind hierfür herauszustellen. Erstens stiegen die Sparguthaben in fast jedem Jahr stärker als die Einzelhandelsumsätze, ganz offensichtlich auch wegen nicht in Warenkäufe umsetzbarer Einkünfte.
Diese Angaben verschleiern allerdings das wahre Ausmaß der Verschlechterungen in der Versorgungslage. Zum einen verdecken die Daten zum gesamten Einzelhandelsumsatz ungünstige Entwicklungen in Teilbereichen in anderen Jahren. 1982 ging etwa der Umsatz im Bereich der Industriewaren gegenüber dem Vorjahr zurück, was noch durch das Wachstum der Umsätze für Nahrungs- und besonders für Genussmittel mehr als ausgeglichen wurde.
Bessere Versorgung in den 1970er Jahren
Die Analyse von Daten zu den Warenmengen bei Gütern des alltäglichen Bedarfs belegt für die 1970er Jahre Angebotsverbesserungen bei wichtigen Sortimenten an Textilien, Bekleidung und Schuhen (vgl. Tabelle 1). Die Pro-Kopf-Ausgaben in diesem Bereich stiegen langsamer als die Warenbereitstellung. Mithin standen also relativ mehr Waren zur Verfügung, selbst wenn es dabei auch zu verdeckten Preissteigerungen gekommen war. Bei Schuhen belegen die Angaben für die zweite Hälfte der 1970er Jahre ein relativ stabiles (bei Straßenschuhen für Erwachsene sogar verbessertes) Angebot (vgl. Tabelle 2), das sich allerdings bereits zum Ende des Jahrzehnts zu verschlechtern begann.
Tabelle 1: Warenbereitstellung aus eigner Produktion und aus Importen bei ausgewählten Sortimenten der Textilindustrie und Entwicklung der Pro-Kopf-Ausgaben für Textilien und Bekleidung 1970 und 1975 bis 1979 (in %, 1980=100) | ||||||
Jahr | Untertrikotagen für Kinder |
Tabelle 2: Warenbereitstellung bei Schuhen aller Art und Entwicklung der Pro-Kopf-Ausgaben für Schuhe 1970 und 1975 bis 1979 (in %, 1980=100) | ||||
Jahr | Straßenschuhe für Erwachsene |
Ähnlich verhielt es sich bei der Versorgung mit Obst und Gemüse. Bei Obst wurden insbesondere in der ersten Hälfte der 1970er Jahre stabile oder gar größere Mengen in einem vergleichsweise breiten Sortiment heimischer und nicht-heimischer Obstsorten und Südfrüchte bereitgestellt, ohne jedoch den tatsächlichen Bedarf zu decken. 1978 betrug der Verbrauch an Obst und Südfrüchten etwa 31 kg pro Kopf und Jahr (vgl. Tabelle 3).
Tabelle 3: Pro-Kopf-Verbrauch an ausgewählten Obstsorten in der DDR 1974 bis 1980 (in kg) | |||||
Sortiment | 1974 | 1975 | 1976 | 1978 | 1980 |
Äpfel | - | 12,4 | 13,1 | 12,19 | 14,0 |
Süßkirschen | - | 0,58 | 1,2 | - | 0,36 |
Erdbeeren | - | 0,42 | 0,46 | 0,71 | 0,64 |
Pflaumen | - | 0,55 | 1,7 | 0,93 | 1,6 |
Birnen | - | 1,8 | 2,1 | 0,9 | 1,2 |
Weintrauben | 1,85 | 1,2 | 1,3 | 1,53 | 0,9 |
Pfirsiche/Aprikosen | 2,03 | 1,35 | 1,1 | 1,02 | 0,74 |
Übriges Obst | - | - | - | 0,60 | - |
Bananen | - | - | - | 6,31 | - |
Apfelsinen/Mandarinen | - | - | - | 6,36 | - |
Bei Gemüse kann für die 1970er Jahre von einem insgesamt jährlich steigenden Gesamtangebot gesprochen werden (vgl. Tabelle 4). Im Unterschied zur Obstversorgung spielte jedoch der Import von Gemüse bereits damals eine eher untergeordnete Rolle. Mit weniger als 22,5 Prozent erreichte importiertes Gemüse im Jahr 1976 seinen höchsten Anteil. Mehr noch: Früher als bei Obst begann der Importanteil schon im Folgejahr zu sinken. 1980 machten die Importe nur noch knapp 11,2 Prozent der dem Handel zur Verfügung gestellten Gemüsemengen aus.
Tabelle 4: Warenbereitstellung bei Gemüse 1970 und 1975 bis 1980 (in kt) | |||||||
1970 | 1975 | 1976 | 1977 | 1978 | 1979 | 1980 | |
Gesamt | 643,4 | 726,4 | 731,2 | 797,0 | 776,0 | 791,0 | 744,5 |
Darunter aus Importen | - | 131,2 | 164,3 | 129,1 | 114,5 | 97,1 | 83,1 |
Versorgungsengpässe in den 1980er Jahren
Sowohl für die Versorgung mit Textilien und Bekleidung als auch für Obst und Gemüse markiert das Jahr 1980 einen Wendepunkt. Bei der ersten Produktgruppe sorgte der verstärkte Export für ein deutlich verschlechtertes Angebot im Inland (vgl. Tabellen 5 und 6), bei der zweiten die fast vollständige Ablösung von Importen (vgl. Tabellen 7 und 8).
Tabelle 5: Warenbereitstellung aus eigner Produktion und aus Importen bei ausgewählten Sortimenten der Textilindustrie und Entwicklung der Pro-Kopf-Ausgaben für Textilien und Bekleidung 1981 bis 1988 (in %, 1980 = 100) | ||||||
Jahr | Untertrikotagen für Kinder |
Tabelle 6: Warenbereitstellung bei Schuhen aller Art und Entwicklung der Pro-Kopf-Ausgaben für Schuhe 1981 bis 1988 (in %, 1980 = 100) | ||||
Jahr | Straßenschuhe für Erwachsene |
Der Blick auf die Entwicklung der Pro-Kopf-Ausgaben belegt für wichtige Sortimente, dass nunmehr für weniger Warenmenge von der Bevölkerung mehr Einkommen eingesetzt werden musste, das heißt die Preise stiegen. 1982/83 standen wegen verstärkter Exporte während der Kreditkrise für Erwachsene etwa 30 Prozent und für Kinder etwa 20 Prozent weniger Oberbekleidung zur Verfügung als 1980.
Die geringeren Warenmengen in diesem Bereich führten indes nicht zu Umsatzeinbußen, weil die Preise regelmäßig und verdeckt erheblich erhöht wurden. Zwischen 1980 und 1989 stiegen in der DDR die Lebenshaltungskosten für einen 4-Personenhaushalt mit mittlerem Einkommen insgesamt um 12,3 Prozent, bei Bekleidung und Schuhen aber um 32,1 Prozent. Die Umsatzwerte je Mengeneinheit stiegen beim gesamten Warenumsatz um 14,8 Prozent, bei Schuhen und Lederwaren jedoch um 47 Prozent, bei Konfektion und Stoffen um 29,6 Prozent sowie bei Wäsche und Trikotagen um 19,6 Prozent.
Höhere Preise für neu eingeführte Produkte zu verlangen, ist zwar in jeder Wirtschaftsordnung ein übliches Verfahren und kann gerade im Bereich der modeabhängigen Textilien und Schuhe besonders leicht und entsprechend häufig angewendet werden. Im Falle der DDR wurde jedoch dabei zusätzlich kaschiert, dass sich das Warenangebot insgesamt verschlechterte. Dazu wurden regelmäßig Teile der inländischen, für den Binnenhandel vorgesehenen Produktion an Textilien und Bekleidung, exportiert, um westliche Produkte einführen und zu hohen Preisen im Inland absetzen zu können. Im Ergebnis wurden größere Mengen ausgeführt als aus dem Ausland eingeführt, ohne dass dieser Produktaustausch zu einem Umsatzrückgang führen musste. Jedes Mal hatte er den gleichen Effekt: Das Sortiment an angebotenen Waren wurde qualitativ verbreitert und quantitativ verringert.
Maßgeblich trugen zu dieser Entwicklung die Läden des Volkseigenen Handelsbetriebes (VHB) "Exquisit" bei. In den 1980er Jahren (außer 1983 und 1988) bestanden jeweils über 40 Prozent der dort angebotenen Waren aus Importen.
Die hohen Preise in den von der Bevölkerung "Ex" genannten Läden dienten vornehmlich der Abschöpfung von Kaufkraft, die in Form der sogenannten produktgebundenen Abgaben an den Staatshaushalt abgeführt wurde (zwischen 1978 und 1988 insgesamt fast 5,9 Mrd. Mark oder knapp 30 Prozent des Umsatzes). Besonders hoch war der Anteil der Abgaben am Umsatz in den Jahren 1980 (37,2 Prozent), 1982 (35,6 Prozent) und 1983 (35,4 Prozent).
Überhaupt zeigt die Versorgung mit Obst und Gemüse in den 1980er Jahren auch hinsichtlich der Breite und der Menge des Sortiments einen anderen Trend als die Versorgung mit Textilien und Bekleidung. Der Pro-Kopf-Verbrauch an Obst und Gemüse und die bereitgestellten Mengen wuchsen zwar, doch die Vielfalt an regelmäßig erhältlichen Sorten verringerte sich. Bis 1988 stieg der Verbrauch an Obst und Südfrüchten auf fast 34 kg pro Kopf und Jahr (vgl. Tabelle 7). Nunmehr machten jedoch die im Inland geernteten Obstsorten deutlich das Gros des Angebots aus, während importierte Sorten erheblich an Bedeutung verloren. Letztere machten 1988 nur noch knapp ein Drittel des Pro-Kopf-Verbrauchs aus, darunter die Südfrüchte weniger als ein Viertel.
Tabelle 7: Pro-Kopf-Verbrauch an ausgewählten Obstsorten in der DDR 1978 bis 1988 (in kg) | |||||
Sortiment | 1978 | 1980 | 1987 | 1988 | |
Äpfel | 12,19 | 14,0 | 14,9 | 14,32 | |
Süßkirschen | - | 0,36 | 0,9 | - | |
Erdbeeren | 0,71 | 0,64 | 1,0 | 0,86 | |
Pflaumen | 0,93 | 1,6 | 0,9 | 2,46 | |
Birnen | 0,9 | 1,2 | 0,8 | 1,5 | |
Weintrauben | 1,53 | 0,9 | 0,55 | 0,8 | |
Pfirsiche/Aprikosen | 1,02 | 0,74 | 0,2 | 0,28 | |
Übriges Obst | 0,60 | - | - | 1,79 | |
Bananen | 6,31 | - | - | 2,82 | |
Apfelsinen/Mandarinen | 6,36 | - | - | 5,52 |
Besonders stark war der Rückgang bei Pfirsichen und Aprikosen, von denen 1988 nur noch weniger als 4,7 kt in den DDR-Handel kamen, mithin nur 16 Prozent der Menge von 1970. 1987 hatte diese Menge sogar noch um 1,1 kt niedriger gelegen. Konnten DDR-Bürger 1974 pro Kopf noch 2,03 kg Pfirsiche und Aprikosen konsumieren, waren es 1988 nur noch 280 g (1987: ca. 215 g).
Das in den 1980er Jahren dennoch gestiegene Obstangebot basierte also zum großen Teil auf inländischer Ernte und daher auf einer Verengung auf hier leicht zu kultivierende Sorten, wobei vor allem Äpfel das Angebot prägten. Seit 1979 stammte das Obstangebot in der DDR weit überwiegend aus dem Inland. 1988 lieferten inländische Agrarbetriebe fast 89 Prozent der angebotenen Ware.
Tabelle 8: Warenbereitstellung bei Gemüse 1981 bis 1987 und Plan 1988 (in kt) | ||||||||
1981 | 1982 | 1983 | 1984 | 1985 | 1986 | 1987 | 1988 | |
Gesamt | 776,5 | 788,6 | 761,5 | 784,3 | 842,7 | 809,4 | 858,8 | 835,5 |
Darunter aus Importen | 92,0 | 71,6 | 52,3 | 75,9 | 82,8 | 80,6 | 84,0 | 84,8 |
Die Versorgung mit Obst und Gemüse in den 1980er Jahren belegt einen ausgeprägten Drang zur Autarkie. Importe wurden weitgehend vermieden und konzentrierten sich im Übrigen auf sehr kurze Fristen innerhalb des Jahres, etwa auf die sogenannte Festtagsversorgung zu Weihnachten, Ostern oder wichtigen Daten des sozialistischen Festtagskalenders (Gründungstag der DDR, 1. Mai).
Reaktionen der Bevölkerung
Schaufenster des Berliner Centrum-Warenhauses am Alexanderplatz, 1973. (© Bundesarchiv, Bild 183-M1216-0014, Foto: Sigrid Kutscher)
Schaufenster des Berliner Centrum-Warenhauses am Alexanderplatz, 1973. (© Bundesarchiv, Bild 183-M1216-0014, Foto: Sigrid Kutscher)
Temporäre Versorgungsschwierigkeiten waren für DDR-Bürger nichts Ungewöhnliches. Vor dem Hintergrund der gestiegenen Einkommen rückten sie in den 1980er Jahren allerdings zunehmend in den Mittelpunkt der Bewertung der SED-Politik insgesamt. Die Bereitschaft, die dauernden Versorgungsengpässe stoisch hinzunehmen, nahm ab: "Bei uns geht die Entwicklung nicht vorwärts, sondern zurück", erklärte im Herbst 1987 ein Kunde im Dresdner "HO-Kinderkaufhaus", und im "Magnetkaufhaus Lübbenau" im Bezirk Cottbus war das Urteil kaum anders: "So ein katastrophales Angebot, das kann man doch nicht begreifen, daß man wegen so selbstverständlichen Dingen so viel Probleme hat."
DDR-Bürger waren nach Einschätzungen des MfS zwar bereit, "wertintensive Importe" – also Waren mit zum Teil sehr hohen Preisen – "ohne Diskussion" sofort zu kaufen, doch die ausgeprägten Angebotslücken in Geschäften, die nicht zu "Exquisit" oder "delikat" gehörten, ließen ihnen auch kaum eine andere Wahl. Genau das verstärkte die Verärgerung.
Die Verärgerung der Kundin war verständlich, auch wenn sie den Grund für die Misere in der Verkaufseinrichtung selbst suchte ("Der Verantwortliche für Warenbeschaffung in diesem Kaufhaus wird seinen Aufgaben nur teilweise gerecht."
Berliner Centrum-Warenhaus am Alexanderplatz,1975. (© Bundesarchiv, Bild 183-P1124-016, Foto: Sigrid Kutscher)
Berliner Centrum-Warenhaus am Alexanderplatz,1975. (© Bundesarchiv, Bild 183-P1124-016, Foto: Sigrid Kutscher)
Im Januar 1988 beschrieb Jarowinsky dem SED-Generalsekretär Honecker diese Situation exemplarisch für den Bereich der Lieferungen an Kinderhosen im Jahr davor.
Das MfS schätzte bereits im Januar 1988 ein, dass "in der Hauptstadt und allen Bezirken der DDR Meinungsäußerungen breitester Kreise der Bevölkerung zu Fragen des Handels und der Versorgung an Umfang und Intensität ständig" zunähmen. Sie seien "vorherrschendes Thema zahlreicher Diskussionen in Arbeitskollektiven," würden "aber auch zunehmend in Versammlungen gesellschaftlicher Organisationen in Betrieben und Wohngebieten angesprochen. Diesbezügliche Meinungsäußerungen" seien "schärfer und in der Aussage kritischer geworden." Sie widerspiegelten "in wachsendem Maße Unmut und Unverständnis, insbesondere unter Hinweis auf immer offener zutage tretende Angebots- und Sortimentslücken bei Waren unterschiedlichster Erzeugnisgruppen, Qualitätsmängel bei Industriewaren und hochwertigen Konsumgütern, diskontinuierliche Warenlieferungen, auch bei Grundnahrungsmitteln, fehlende Ersatzteile und unvertretbar lange Wartezeiten in den Dienstleistungs- und Serviceeinrichtungen, besonders im Kfz-Reparaturbereich," und "die als ungerechtfertigt bezeichneten Preisrelationen im Delikat- und Exquisithandel."
Sie scheuten sich nun nicht mehr, in Briefen an das MHV die schlechte Versorgungslage mit direkter Kritik an der SED-Politik zu verbinden. Eine Dresdnerin fragte 1989 in einer Eingabe: "kann das heutige Angebot [an Obst und Gemüse] im Sinne der Politik zum Wohle des Volkes sein?" Sie griff damit eine vielfach gebrauchte Propagandaformel der SED direkt auf und verband das mit der Klage, sie empfinde "es als äußerst unwürdig, wenn" sie ihren "Kindern chemische Präparate, wie Sumavit-forte oder Traverdin" (zwei Vitaminersatzmittel) verabreichen müsse, "um wenigstens etwas das Gefühl zu besitzen, daß meine Kinder auch Vitamine zu sich nehmen." Diese wüssten nicht mehr, "wie eine Aprikose aussieht". Noch Anfang der1970er Jahre sei es möglich gewesen, "Aprikosen und Pfirsiche stiegenweise zu kaufen." Es habe Ananasfrüchte, Mandarinen, Apfelsinen, Bananen, Feigen gegeben "und verschiedene Sorten Äpfel." Das Obstangebot 1989 beschränke sich indes im Wesentlichen auf den "Apfel ‚Gelber Köstlicher‘, der alles andere als köstlich ist und im Volksmund ‚Gelbes Elend‘" hieße.
Kritik an Versorgungsengpässen schlug in generelle Kritik am politischen System um
Die Versorgungsengpässe und die hohen Preise erreichten nun eine für das SED-Regime gefährliche politische Dimension. DDR-Bürger verwiesen in ihren Schreiben an das MHV auf die weitaus bessere Versorgungslage in der Bundesrepublik und zweifelten deshalb ganz generell die Attraktivität des Sozialismus an: "Bananen, gute Apfelsinen, Erdnüsse u. a. sind doch keine kapitalistischen Privilegien. Wenn so kleine Länder wie die Schweiz oder Österreich Südfrüchte in großer Auswahl anbieten können, müßte das doch in unserem Land, einem führenden Industrieland, möglich sein. Wir alten Menschen, wie unsere Kinder und Enkelkinder möchten Südfrüchte nicht nur als ‚milde Gaben‘ von Verwandten aus der BRD geschenkt bekommen, sondern in unseren Geschäften selbst kaufen können."
Das MfS registrierte im August 1989 Ähnliches: Die Diskussionen in der Bevölkerung zu Versorgungsfragen würden "zunehmend von Personen beeinflusst, die nach erfolgten Reisen in die BRD/Westberlin in ihren Arbeitskollektiven ausführlich über das dort vorgefundene ‚überwältigende‘ Warenangebot, über die große Sauberkeit und Ordnung in den Geschäften und Orten, über pünktliches sowie bequemes Reisen mit der Bundesbahn berichten und dabei Vergleiche mit der Lage auf diesen Gebieten in der DDR anstellen." Die Berichterstatter vom MfS betonten, wenn "sich bei uns [in der DDR] nicht bald etwas [ändere]", seien "die Menschen nicht mehr für den Sozialismus [zu] begeistern." Da zudem die DDR-Medien "ständig ein rosa-rot gefärbtes Bild der Entwicklung der Volkswirtschaft" präsentierten, "das im krassen Widerspruch zum täglichen Erlebten stehe", bestehe "die Gefahr, dass bei Fortsetzung derartiger Veröffentlichungen die Partei, bezogen auf ihre Wirtschaftspolitik, erheblich an Vertrauen und Glaubwürdigkeit bei den Werktätigen einbüße."
Das MfS berichtete zudem über eine abnehmende Bereitschaft in der Bevölkerung, durch zusätzliches Engagement (wie Sonderschichten in der Produktion) oder die Übernahme von Führungsaufgaben zur Behebung der Versorgungsschwierigkeiten beizutragen. "Anlassbezogen" käme "es in unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen zu spontanen Austrittserklärungen aus der SED und aus Massenorganisationen."
SED-Führung verkannte den Ernst der Lage
Man könnte meinen, die SED-Führung hätte aus der Dramatik solcher Berichte ihre Schlüsse ziehen und gegensteuern müssen. Indes waren nicht alle Mitglieder des Politbüros gleichmäßig über die reale Versorgungslage in der DDR und die Reaktionen der Bevölkerung darauf informiert. Sie wohnten in einer abgeschotteten Siedlung in Wandlitz nördlich von Berlin mit eigener Versorgung, erlebten den Alltag in den Betrieben der DDR nur bei sorgsam vorbereiteten Besuchen und erhielten zudem nicht unbedingt Kenntnis vom Inhalt der Berichte des MfS oder des MHV.
Selbst von dem seit Sommer 1989 anschwellenden Flüchtlingsstrom von DDR-Bürgern über diplomatische Vertretungen der Bundesrepublik in Warschau und Prag sowie Flüchtlingslager in Ungarn ließ sich die SED-Spitze nicht beirren. Am 29. August 1989 meinte Politbüromitglied Schabowski angesichts der drohenden Massenflucht über Ungarn, der "Gegner" (die Bundesrepublik) habe "doch ein großes Konzept, er" wolle "bei uns alles zerschlagen." Zwar solle die SED-Spitze "auch die Versorgungsfrage beachten", doch "den Verrat müssen wir auch als solchen brandmarken."
Fünf Wochen später veröffentlichte das SED-Zentralorgan "Neues Deutschland" einen Kommentar zur nunmehr laufenden Fluchtwelle. Unter der Überschrift "Sich selbst aus unserer Gesellschaft ausgegrenzt" wurde den Flüchtlingen vorgehalten, sie hätten "durch ihr Verhalten die moralischen Werte" des Sozialismus "mit Füßen getreten." Deshalb solle man "ihnen keine Träne nachweinen."
Honeckers Rücktritt am 18. Oktober 1989 beruhigte die Bevölkerung nicht mehr. Als in der Nacht vom 9. zum 10. November 1989 die innerdeutschen Grenzen geöffnet wurden, konnten sich nunmehr alle DDR-Bürger einen eigenen Eindruck vom Warenangebot im Westen machen. Innerhalb weniger Wochen reisten Millionen von ihnen nach Berlin-West bzw. in das grenznahe Bundesgebiet. Die politische und wirtschaftliche Systemauseinandersetzung hatte ihr Land zu diesem Zeitpunkt indes längst verloren – nicht zuletzt wegen seines Scheiterns beim Erfüllen der Konsumwünsche seiner Einwohner.
Zitierweise: Matthias Judt, "Bananen, gute Apfelsinen, Erdnüsse u.a. sind doch keine kapitalistischen Privilegien", Alltäglicher Mangel am Ende der 1980er Jahre in der DDR, in: Deutschland Archiv Online, 12.07.2013, http://www.bpb.de/163470
* Überschrift zitiert nach: Ministerium für Handel und Versorgung (MHV), Auskunftsbericht zur gegenwärtigen Lage und Vorausschau auf dem Gebiet der Bereitstellung von Obst, Gemüse und Speisekartoffeln mit Stand vom 20. August 1989, in: Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv (SAPMO-BA), Bestand SED, Zentralkomitee (DY 30), hier Büro Jarowinsky, Nr. 9021, Bl. 338-370, hier Bl. 365.