I.
Die Warnung vor einer Wiederholung der Geschichte, namentlich des Nationalsozialismus, stellt eine diskursive Übung dar, die meist zu pädagogischen Zwecken und weniger zur Erhöhung des Erkenntnisgewinns geleistet wird. Dabei wird nicht so sehr von einer identischen Reproduzierbarkeit des Vergangenen ausgegangen, sondern vielmehr ein Fortdauern des Unaufgearbeiteten angenommen, das dadurch ungehindert, weil unterschwellig, weiterwirken könne. Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit mittels des Gedenkens an ihre Opfer soll die Nachgeborenen davon abhalten, in die Verhaltensmuster ihrer Vorgänger abzugleiten. Die Erinnerung an das Vergangene hatte und hat also immer einen unmittelbaren Bezug zur Gegenwart. Eine Benennung der Täter und Mitläufer, der mehr oder weniger überzeugten Nationalsozialisten oder auch bloßen Karrieristen, sollte die verborgenen Kontinuitäten der Bundesrepublik zu ihrem Vorläuferstaat, dem Deutschen Reich, aufweisen helfen.
Dieses Anliegen motivierte nicht erst im Zuge von 1968 und mit der Bildung einer Neuen Linken die Beschäftigung mit dem "Dritten Reich", sondern wurde als Projekt einer Gegenöffentlichkeit spätestens anlässlich der antisemitischen Schmierwelle im Winter 1959/1960 betrieben.
Umso erstaunlicher mutet daher jene These an, die Aly gleich am Anfang seines Buches "Unser Kampf. 1968 - ein irritierter Blick zurück" der Leserschaft zumutet: "Wenige teilen die Einsicht, dass die deutschen Achtundsechziger in hohem Maß von den Pathologien des 20. Jahrhunderts getrieben wurden und ihren Eltern, den Dreiunddreißigern, auf elende Weise ähnelten."
Ich möchte die Erörterung des Bedeutungswandels, den der zeitgeschichtliche Blick auf 1968 in den letzten Jahren erfahren hat, deshalb mit Alys Buch beginnen, weil sich hier besonders deutlich der Bruch eines Exponenten der sich zum Teil immer noch auf die Studentenbewegung berufenden Generation kritischer Historiker mit den eigenen erinnerungspolitischen Überzeugungen abzeichnet. Daran soll aber auch gezeigt werden, dass sich hinter der oberflächlichen Polemik durchaus Anschlüsse an gegenwärtige Fragen zu Motivationen und Verdrängungen verstecken, die im zunehmenden Zeitabstand immer sichtbarer werden.
II.
Götz Aly bei seiner Rede zur Verleihung des Börnepreises in der Frankfurter Paulskirche, 3. Juni 2012 (© Wikimedia, Dontworry)
Götz Aly bei seiner Rede zur Verleihung des Börnepreises in der Frankfurter Paulskirche, 3. Juni 2012 (© Wikimedia, Dontworry)
Die Gesamtkonzeption von Götz Alys Buch wäre durchaus vielversprechend, hätte der Autor sich an die Weisung einer seiner Kapitelüberschriften gehalten, die eine "Geschichtsschreibung statt Veteranengeschichten" einfordert und hätte er mehr Quellen aus den beiden von ihm durchgearbeiteten Konvoluten kommentiert.
Damit beschäftigt sich Aly jedoch nur selten. Stattdessen greift er zu grobkörnigen Vergleichen, wie: "Die nationalsozialistische Studentenrebellion nannte sich ebenfalls Studentenbewegung." Oder zu ein wenig kaschierten Verallgemeinerungen: "Der Blick auf die Schnittmenge zielt nicht auf die Gleichsetzung von Rot und Braun. Vielmehr geht es darum, die Ähnlichkeiten der Mobilisierungstechnik, des politischen Utopismus und des antibürgerlichen Impetus herauszuarbeiten."
Dabei sieht der Autor selbst, dass seine These von der Übernahme des Begriffs "Studentenbewegung" samt der dazugehörigen Aktionsformen von den angeblichen Vorgängern der Protestierer, dem Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbund (NSDStB), spätestens vor der Behauptung einer Machtübernahme "linksfaschistischer" Jungakademiker in einem autoritären Staat halt machen muss: "Am Ende verästelte sich die Bewegung von 1968 in Frauen-, Anti-AKW-, Schwulen-, Kinderladen- oder Friedensbewegung, Solidaritäts- und Internationalismusgruppen, kurz gesagt, in die sogenannten sozialen Bewegungen."
Die These von den rebellierenden Studenten als geistigen Nachfolgern ihrer nationalsozialistischen Vorfahren zieht sich wie ein roter Faden durch das Buch: "Schon die Schlagzeilen der mit sichtlichem Macherstolz rasch entwickelten studentischen Kampfpresse lassen die formale Ähnlichkeit zu der 35 Jahre später entstandenen Bewegung erkennen. 'Deutsche Rektoren bekämpfen die Freiheitsbewegung. Terror an der Universität Gießen', so konnte man im Jahr 1930 lesen. Der Gießener Rektor hatte ein Uniformverbot erlassen."
Zwar räumt Aly mit Blick auf seine ausgewerteten Quellen ein, dass etwa von Seiten des Innenministeriums die "Dynamik der Revolte" verkannt wurde, indem gerade nach Rädelsführern gesucht und Bilder von Führung und Gefolgschaft für die Analyse der Mobilisierungsstrategien demonstrierender Massen bemüht wurden. Doch hält dies den Historiker nicht davon ab, selbst seitenlang den Vergleich von Nationalsozialistischem Deutschen Studentenbund (NSDStB) und Sozialistischem Deutschen Studentenbund (SDS) zu betreiben.
Warum ist "Unser Kampf" dennoch eine eingehendere Lektüre wert?
In den gelungenen Passagen seines Buches macht Aly deutlich, dass es durchaus irritierende Übernahmen der Protestgeneration aus dem Gedankengut ihrer Eltern gab. So entnimmt er aus einer Allensbach-Umfrage von 1967 "ein merkwürdiges, noch nicht erörtertes Ergebnis: 81 Prozent der befragten Studenten stimmten ganz oder teilweise der These zu, 'dass die deutsche Politik sich von westlicher Bevormundung freimachen sollte'. Nur 17 Prozent lehnten diese Meinung ab, die öffentlich ausschließlich von rechtsradikalen Parteien vertreten wurde."
Anlässlich des Vietnamkriegs konstatiert der Autor einen Wandel des beinahe staatsamtlichen Proamerikanismus "zur wenig glaubhaften Staatsangelegenheit."
Dies deckt sich nicht immer mit anderen Forschungen, die zeigen, wie beispielsweise der SDS das Thema Nationalsozialismus immer wieder aufgreift - wenn auch Aly darin beizupflichten ist, dass die Beschäftigung mit dem deutschen Faschismus zur Hochzeit der Revolte in den theoretischen Zeitschriften der Neuen Linken keine Konjunktur (mehr) hatte.
Was der Autor, der überhaupt die Vorgeschichte der organisierten linken Studentenschaft außer Acht lässt, jedoch nicht berücksichtigt, ist die von dem sozialistischen Studentenverband organisierte Ausstellung Ungesühnte Nazijustiz, die zur Zeit der oben erwähnten antisemitischen Schmierwelle 1959/1960 in deutschen Städten gezeigt wurde. Ohne eine Thematisierung der durch sie ausgelösten gesellschaftlichen Dynamik lässt sich die Geschichte der "Aufarbeitung der Vergangenheit" in der Bundesrepublik nur teilweise nachvollziehen. Aufkommende Gerüchte, das Material der Ausstellung sei aus DDR-Quellen zustande gekommen, leisteten nicht nur einen Beitrag zum langsamen Ausstieg der SPD aus der finanziellen Unterstützung seines Studentenverbands und zu dessen langsamen Abdriften in die im wahrsten Sinne des Wortes "außerparlamentarische Opposition".
Aly schreibt: "Nicht die Studentenpolitik leitete die Wende zur Reformpolitik ein, sondern die 1969 gebildete sozial-liberale Regierung Brandt/Scheel."
III.
Eine Frau tanzt mit fliegenden Rock während der Kommune Nr. 1 Party vorbehaltlos mit anderen Gemeinde-Mitglieder und Unterstützern. (© AP)
Eine Frau tanzt mit fliegenden Rock während der Kommune Nr. 1 Party vorbehaltlos mit anderen Gemeinde-Mitglieder und Unterstützern. (© AP)
Dagmar Herzog, Autorin einer kleinen Kulturgeschichte der Sexualität in Deutschland mit dem Titel Die Politisierung der Lust, widerspricht einer noch immer geläufigen Ansicht, wonach der Umgang mit Sexualität im "Dritten Reich" von besonderer Verklemmung und Abwehr geprägt gewesen sei. Diese Meinung wurde auch innerhalb der Studentenbewegung im Rückgriff auf die Theorien Wilhelm Reichs häufig vertreten.
Die Ermunterung sexueller Beziehungen (auch im vor- und außerehelichen Bereich) durch das nationalsozialistische Sexualitätsdispositiv in Verbindung mit "massiven Tabubrüchen hinsichtlich der Ermordung Wehrloser", führte zu besonderen Sprachtabus und Entlastungsstrategien in der Nachkriegszeit.
Die studentische Bewegung hatte in ihren Liberalisierungsforderungen insofern Erfolg, als ihre direkte Bezugnahme auf den Nationalsozialismus zur Durchsetzung von Reformen, zumindest was die Abschaffung der Repression abweichender sexueller Selbstentwürfe betraf, bald nicht mehr nötig erschien: "Die Stimmung in der Bevölkerung begrüßte die Überwindung des repressiven Konservatismus so deutlich, dass es einfacher war, die Konservativen direkt anzugreifen." Herzogs Kritik an der Studentenbewegung in Bezug auf deren Verhältnis zum Nationalsozialismus erscheint nicht zuletzt deshalb plausibel, weil sie damit den Vorwurf einer Instrumentalisierung des deutschen Faschismus für tagespolitische Auseinandersetzungen belegen kann.
Noch ein weiterer Bezugspunkt des Antifaschismus der Neuen Linken wird von ihr problematisiert: Die generelle Debatte über ihre eigenen Geschlechterbeziehungen und die ihr innewohnende Tendenz, den antifaschistischen Körper als fleischgewordene Modellvorstellung zur Abwehr repressiver Bindungsmodelle männerbündischer Natur zu verstehen. Klaus Theweleits berühmte Studie Männerphantasien, eine Analyse über die Erinnerungen der Freikorpskämpfer der frühen Weimarer Jahre, wird von Herzog vor allem anhand des darin implizit entworfenen Gegenmodells zum Drill des soldatischen, formierten Körpers einer Neubewertung unterzogen: "Soldaten empfänden Lust am Töten, doch sei dies keine sexuelle Lust, sondern die Lust an der Verdrängung sexueller Wünsche im eigenen Körper durch Vernichtung anderer Körper."
IV.
Klaus Theweleit selbst scheint zumindest im Hinblick auf seine antifaschistischen Körperentwürfe erheblich skeptischer geworden zu sein: In seinem Band Ghosts, der zur Reflexionsliteratur anlässlich der dreißigsten Wiederkehr des Ereignisjahres 1968 gezählt werden kann, konstatiert er rückblickend: "Einigkeit besteht darin, daß die Sexualität aus der Position eines zentralen Erkenntnismittels fiel."
Doch nicht nur das. Theweleit entdeckt einen regelrechten Furor der Studentenbewegung, mit der sexuellen Befreiung auch die von den Eltern übernommene Schuld an den deutschen Verbrechen überwinden zu können. In seinem Resümee von Reimut Reiches Text 20 Jahre danach, der ebenfalls als Rückschau auf die "68er" und ihre sexuellen Problemlagen angelegt ist, erklärt er die "Sexualisierung aller Lebensbereiche und Affektlagen" für gescheitert, weil "in der postulierten Schuldlosigkeit des freien sexuellen Akts, sich nicht so sehr eine sexuelle Befreiung durchgesetzt [habe], sondern ein ganz anderes verschobenes Gefühl. Nämlich das Gefühl, die Eltern als verführte Triebtäter entschuldigen zu müssen."
Dass Sexualisierung mit Verdrängung einhergehen kann, ist eine These, der auch Dagmar Herzog wohl zustimmen könnte, erblickt sie doch in ihrem Buch einen Zusammenhang zwischen der Enthemmung in der Verfolgung und Vernichtung stigmatisierter Minderheiten auf der einen Seite und der Liberalisierung der (hetero-)sexuellen Beziehungen innerhalb der Mehrheitsgesellschaft auf der anderen Seite. Dennoch sagt dies allein wohl noch nicht viel über die Legitimität von Bedürfnissen und ihre Ver- oder Entkoppelung mit politischen Repressionen aus.
V.
Schwerer noch wiegt der von Ulrike Jureit gegen die studentische Protestbewegung erhobene Vorwurf, diese identifiziere sich unhinterfragt mit den Opfern des Nationalsozialismus. Denn darin drücke sich, neben dem an sich begrüßenswerten Anliegen der Aufarbeitung des millionenfachen Mords an den Juden sowie den Sinti und Roma, "zugleich der Versuch aus, der eigenen emotionalen Bindung an die Elterngeneration zu entkommen, denn dieser Opferbezug war mehr als die überfällige Anerkennung und Ehrung der Ermordeten. Die revoltierenden Studenten fühlten sich vielmehr selbst als Opfer. Die Täter-Opfer-Formel war in den 1960er und 1970er Jahren nicht nur vergangenheitsbezogen, vielmehr phantasierte sich die nachwachsende Generation als Opfer eines nun vermeintlich bundesdeutschen faschistischen Systems, in dem jetzt sie die Verfolgten waren, in dem sie sich nun als Juden empfanden."
Interessant ist an Jureits Aufsatz besonders, dass auch die Wurzeln der heutigen Erinnerungskultur an die Opfergruppen der nationalsozialistischen Epoche umstandslos in der studentischen Protestkultur von 1968 lokalisiert werden. Aus dem eben erwähnten Vorwurf einer rituellen Vereinnahmung wird im Laufe des Aufsatzes (vor allem am Beispiel der Debatte über das Denkmal für die ermordeten Juden Europas) eine fundamentale Kritik am gegenwärtigen Diskurs über die Opfer des Dritten Reiches: "An den deutschen Gedenkorten bleiben die Unschuldigen unter sich. Hier präsentiert sich eine Erinnerungsgemeinschaft, die auf ein geliehenes Selbstbild rekurriert und die sich der spezifischen deutschen Ambivalenz des Holocaust-Gedenkens durch Identifikation mit den Opfern zu entledigen sucht."
Diese Kritik überzeugt nicht so recht. Zwar erscheint Jureits Einwand plausibel, dieses generationenspezifische Gedenken habe vor dem Hintergrund der Generationenkämpfe vor allem "den Vorteil […], den kontaminierten nationalen Bezug beiseite lassen zu können".
Zwar kann Jureit in ihrer Rekonstruktion des erinnerungspolitischen Diskurses an Einzelbeispielen durchaus den hybriden Anspruch der "68er-Generation" deutlich machen, sich gleichsam an die Stelle der Opfer des deutschen Faschismus zu setzen, indem ihr Leid umstandslos als Baustein eigener Identitätsentwürfe missbraucht und vorgegeben wird, an ihrer Stelle zu sprechen. Dabei bleibt aber - wie schon angedeutet - fraglich, ob dieser "Fetischismus der Repräsentation" (Pierre Bourdieu), bei dem sich Repräsentanten der Gedenkkultur selbst an die Stelle jener Gruppen setzen, an die erinnert werden soll, nicht der offiziellen deutschen Erinnerungskultur und ihrer Repräsentanten insgesamt zum Vorwurf gemacht werden müsste.
VI.
Der letzte vorgestellte Ansatz zur Deutung der Erinnerungsarbeit der Studentenbewegung könnte das differenzierteste Bild liefern, weil er das zeitgenössische Klima, in dem die studentischen Revolten stattfanden, mitberücksichtigt. Der Sozialpsychologe Sebastian Winter stellt in seinem Aufsatz 'Verjudete Nazis', 'Deutsches Heil'. Sexualitätsentwürfe der westdeutschen '68er'-Bewegung vor dem Hintergrund von NS-Vergangenheit und ‚Adenauer-Zeit‘ die Unterschiede zwischen dem öffentlichen und dem informellen Sprechen über die protestierenden Studenten in den Vordergrund. Winter stellt dazu fest: "Hier laufen zwei voneinander abhängige Diskurse parallel: ein offizieller öffentlicher Diskurs der PolitikerInnenreden und Massenmedien, in dem die Studierenden mit den 'Nazis' identifiziert wurden, sowie ein alltagskultureller nichtoffizieller Diskurs des 'kleinen Mannes', in dem sie semantisch mit den 'Juden' gleichgesetzt wurden, die man gerne noch einmal 'vergasen' würde."
Diese widersprüchlichen Übertragungen auf die Studenten konnten nicht nur, wie Winter auf Adorno rückgreifend erklärt, durch die Trennung eines nationalsozialistischen Idealismus von den in seinem Namen begangenen Verbrechen geleistet werden, sondern auch anlässlich überkommener Formen der Kritik am Hitlerregime, die die Parteigrößen ("Goldfasane") selbst als "verjudet" identifizierte und ihre Lebensführung als dekadent denunzierte. Schon zur Regierungszeit Adenauers seien die Nationalsozialisten als sexuell pervers betrachtet worden, stellt Winter in Anlehnung an Dagmar Herzog fest. So spiele selbst Eugen Kogon in seinem vielbeachteten Werk Der SS-Staat (1946 erstmals erschienen) auf die Verweiblichung der Nazis und auf "Homosexualität [...] in den Parteigliederungen" an.
Die damit mühsam aufrechterhaltene Abgrenzung von der eigenen Verstrickung in die weltanschaulichen Angebote und Karriereofferten der NS-Eliten wurde ab jenem Zeitpunkt brüchig, als die Studentenbewegung nicht nur die Kontinuität der bundesrepublikanischen Eliten zum Nationalsozialismus offenlegte, sondern gleichzeitig auch an sexuelle Tabus rührte. Aufgrund dieser doppelten Intervention wurden die protestierenden Studenten sowohl als Tabubrecher ("Juden"), als auch als Wiedergänger des Vergangenen ("Nazis") beschimpft, ohne dass sie auf die Widersprüchlichkeit dieser projektiven Etikettierungen hätten hinweisen können. Sie waren als mögliche Akteure einer Aufarbeitung des Vergangenen, so lässt sich schlussfolgern, schon dadurch entmächtigt, weil große Teile der Mehrheitsgesellschaft sie vor allem als historisch konnotierte Figuren wahrnahmen.
VII.
Mir bleibt nun, ein vorläufiges Fazit dieser kleinen Literaturschau zu ziehen. Fraglos lässt sich ein Wandel in der Einschätzung der Protestgeneration von 1968 feststellen. Der ihr einstmals zugestandene Beitrag zur Befreiung vom Tabu der nationalsozialistischen Vergangenheit wurde abgelöst vom Vorwurf problematischer, weil stark selbstbezogener Umgangsformen mit eben dieser Vergangenheit.
Eingeleitet wurde mein Überblick mit dem Totalitarismus-Vorwurf, der von Götz Aly erhoben wird, wenn er in den studentischen Protestierern die Nachfolger oder Wiedergänger jener fanatisierten Jungakademiker von 1933 erblickt, die das universitäre Rückgrat der nationalsozialistischen Bewegung bildeten. Doch auch in seinem Buch finden sich Anknüpfungspunkte zu den sozialhistorischen und -psychologischen Darstellungen der differenzierter argumentierenden Beiträge. Jedoch sind bei den anderen vorgestellten Autorinnen und Autoren die vorgebrachten Korrekturen an der historischen Leistung der Studentenbewegung als bewegende Kraft eines bis heute anhaltenden erinnerungspolitischen Diskurses diffiziler und bekräftigen kaum den Vorwurf einer insgesamt totalitär gesinnten Bewegung. Dagmar Herzog stellt die Frage, ob die Thematisierung der Sexualität und die Behauptung ihrer angeblichen Unterdrückung im Nationalsozialismus sich nicht in Wirklichkeit gegen die sexuelle Repression in der Adenauer-Ära richten. Aus ihren Belegen lässt sich zwar eine Instrumentalisierung der 1968 noch nicht weit zurückliegenden Epoche des deutschen Faschismus durch die emanzipatorischen Projekte der Studentenbewegung ableiten, doch mangeln dieser in der Darstellung der Autorin generationsspezifische Strategien der Verdrängung. Klaus Theweleit bzw. Reimut Reiche ziehen im Rückblick auf die studentischen Revolten, an denen beide beteiligt waren, in Erwägung, ob die Forderung nach einer enttabuisierten Triebbefriedigung nicht auch Elemente des Verdrängens der jüngeren Geschichte in sich bargen. Sie deuten an, dass die Beschäftigung mit der eigenen Befreiung und der gleichzeitig offenen Frage nach einem notwendigen Bruch mit der Elterngeneration wenig Raum für konkrete Erinnerungsarbeit ließ. Dieses Problem mangelnder Historisierung des Vergangenen taucht ebenfalls - wenn auch auf einer anderen Ebene - bei Sebastian Winter auf, der zeigt, dass die Angehörigen der Studentenbewegung in der zeitgenössischen Öffentlichkeit als paradoxe Wiedergänger der Vergangenheit wahrgenommen wurden. Ulrike Jureit hingegen sieht die Erinnerungsarbeit bis zum heutigen Tag im Windschatten eines "gesellschaftlichem Kontinuitätsversprechen", das zwar viel über die Selbstfindung der Trauernden aussage, aber wenig bis nichts über die Betrauerten übermittle und stattdessen "einen identitätsstiftenden Mechanismus" in Gang halte.
So kann resümiert werden, dass sich in der jüngeren Diskussion über die Thematisierung des Nationalsozialismus durch die protestierenden Studenten deren eigentlicher Beitrag kritischer, aber auch realistischer in Augenschein genommen wird. Ob aus Selbstkritik resultierend oder aus der Nüchternheit des nachgeborenen Beobachters: die Verstrickung in die intensive und emotionale Abhängigkeit von der Elterngeneration (die zu Brüchen und Identifikationen führte), der geringe Abstand von 1968 zum Zusammenbruch des NS-Regimes, die auch anderswo gelegten Grundlagen eines sich verfestigenden liberaldemokratischen Systems in der Bundesrepublik, all dies gerät der jüngeren Forschung stärker in den Blick und trägt zu einer fortschreitenden Historisierung von 1968 bei.
Zitierweise: Martin Maier, Von der "Aufarbeitung der Vergangenheit" zum Totalitarismus?, Aus der Literatur über die Studentenbewegung von 1968 und ihr Erinnern an den Nationalsozialismus, in: Deutschland Archiv Online, 5.6.2013, Permalink: http://www.bpb.de/162703