Im Schatten der Grenze
"Es war wirklich wie ein Wunder", war auf der Titelseite der Montagsausgabe des Harz Kuriers vom 13. November 1989 zu lesen.
Für die Menschen entlang der "grünen Grenze" war der Mauerbau in Berlin nur der Schlussakkord einer Entwicklung, die die beiden deutschen Staaten voneinander trennte. Ein größerer Einschnitt für ihr alltägliches Leben ging bereits vom 26. Mai 1952 aus. An diesem Tag erließ die DDR-Führung die "Verordnung über Maßnahmen an der Demarkationslinie zwischen der DDR und den westlichen Besatzungszonen Deutschlands."
Der Landkreis Osterode am Harz, und seine gleichnamige Kreisstadt, die etwa 30 Kilometer vom späteren "Todesstreifen" entfernt lag, wurden nun endgültig zum Zonenrandgebiet. Mit der Unterzeichnung des Grundlagenvertrags im Dezember 1972 durch die beiden deutschen Staaten wurde jedoch wieder ein neuer "kleiner Grenzverkehr" eingerichtet, der es den Bewohnern der grenznahen Städte und Landkreise im Bundesgebiet ermöglichte, Tagesaufenthalte in der DDR zu verbringen. Dazu wurden auch vier neue Grenzübergangsstellen (GÜST) eingerichtet, zu denen unter anderem der Übergang Duderstadt-Worbis, etwa 35 Kilometer von Osterode entfernt, zählte.
Ungeachtet des großen bürokratischen Aufwands, der im Vorfeld betrieben werden musste und der Unannehmlichkeiten, denen die Reisenden manchmal durch die DDR-Grenzpolizisten ausgesetzt waren, machten viele Westdeutsche Gebrauch vom "kleinen Grenzverkehr." So wurde die Grenzübergangsstelle Duderstadt-Worbis nach ihrer Eröffnung am 21. Juni 1973 mit fünf Millionen Grenzübertritten zu einem häufig genutzten Nadelöhr ins "andere Deutschland."
Sehnsucht "nach drüben"
Da allerdings viele touristische Orte und Sehenswürdigkeiten, allen voran der Brocken als Wahrzeichen des Harzes, im Sperrgebiet lagen und damit trotz des etwas verbesserten Zugangs zum Ostteil der Region weiterhin unerreichbar waren, entwickelte sich bei vielen Bewohnern im Westen eine Sehnsucht "nach drüben": "Nur die Älteren und Alten können sich noch erinnern, den Brocken bestiegen zu haben und das Brockenhaus besucht zu haben", heißt es 1985 in dem Reiseführer "Wanderbuch Harz".
Auch andere Sehenswürdigkeiten im Ostharz wurden mit der Zeit schmerzlich vermisst: "Namen des jenseitigen Harzes wie Schierke, Wernigerode, Quedlinburg oder Blankenburg geraten bei uns langsam in Vergessenheit".
Die Maueröffnung und ihre Rezeption in der Stadt Osterode
Die im November 1989 plötzlich hergestellte Reisefreiheit führte auch im Harz zu einem Ansturm auf die Grenzübergangstellen. So warteten an der GÜST Worbis-Duderstadt Tausende, um sich ein Visum von den Grenzpolizisten ausstellen zu lassen.
Welche Auswirkungen die Grenzöffnung auf die Kleinstadt Osterode am Harz haben würde, war zunächst unklar. Würden nur die direkt an die DDR angrenzenden Gemeinden des Landkreises von der Flut der ausreisewilligen Bürger "betroffen" sein, oder hatte auch die Kreisstadt vorbereitende Maßnahmen zu treffen? Nach Einschätzungen des damaligen Leiters des Osteroder Sozialamtes, Klaus Schulze, war mit einem "Besuchersturm" zu rechnen.
Zunächst blieb der befürchtete Ansturm auf die Auszahlstellen in der Kreisstadt jedoch aus. Am Freitag, dem 10. November, verirrten sich lediglich ein bis zwei DDR-Bürger nach Osterode. Das Gros derjenigen, die die neue Reisefreiheit ausnutzte, schien sich nicht sehr weit westlich über die Grenze hinaus bewegt zu haben. Vorerst tastete man sich in die grenznahen Ortschaften vor. Aber bereits am Samstag, dem 11. November, kam es auch in der Stadt Osterode zu dem erwarteten Ansturm. Sozialamtsleiter Schulze bekam, soweit seine Erinnerungen, gegen 5:30 Uhr den Anruf, dass der gesamte Parkplatz vor dem Rathaus voller Trabbis stünde. Ab 7:30 sei dann "von morgens bis abends" das Begrüßungsgeld ausgezahlt worden
Bei den Mitarbeitern der Stadtverwaltung herrschte pure Euphorie angesichts der weltbewegenden Ereignisse. Daraus entwickelte sich, nicht nur bei ihnen, sondern bei der gesamten Osteroder Bürgerschaft eine große Hilfsbereitschaft und Solidarität gegenüber ihren "Brüdern und Schwestern" aus dem Osten.
Aktionen wie diese waren auch dringend nötig. Denn im Moment des ausnahmslosen Glücks bemerkten viele Menschen im Westen gar nicht, vor welchen gewaltigen praktischen Problemen die grenznahen Städte der Bundesrepublik angesichts der Grenzöffnung standen. An einigen Orten ging das Begrüßungsgeld aus, und überall mussten Auffanglager für den nicht enden wollenden Zustrom von DDR-Flüchtlingen geschaffen werden. Die Behörden unterschieden dabei zwischen denen, die legal ausgereist waren und anschließend eventuell ausgebürgert wurden und denen, die illegal das Land verließen (Flüchtlinge).
Beobachtungen und Wahrnehmungen
Ganz unterschiedlich waren oft die Reaktionen und Interpretationen der Beteiligten im Westen. Dem damaligen Rektor des Gymnasiums fiel auf, dass die Gäste sich misstrauisch betrachteten und kaum miteinander sprachen.
Die erste Begegnung mit einem Besucher "von drüben" hatte Kehr bereits am frühen morgen des 11. November. An diesem Tag erblickte sie einen jungen Mann auf einem Motorrad vor ihrem Haus. Als sie ihn ansprach, stellte sich heraus, dass er in der Nacht aus seinem Heimatort losgefahren war und nun ein Hotel suchte, um sich stadtfein machen zu können. Kurzerhand bot sie ihm an, ihr Bad zu benutzen, machte ihm und sich Frühstück und redete eine kurze Weile mit dem Mann. Während des Gesprächs erzählte ihr der damals 28-Jährige, dass er im Bergbau tätig sei, jetzt, dank der gewonnenen Freiheit, in den Westen wollte, und dass ihm vom SED-Staat seine Jugend gestohlen worden sei. Als er das sagte, sei er in Tränen ausgebrochen.
Er war nicht der einzige DDR-Bürger, der in der Bundesrepublik feuchte Augen bekommen sollte. So berichtete ein Supermarkt-Azubi dem damaligen Direktor der Hauptschule in Osterode, Georg E. Jung, von fassungslosen Menschen, die das erste Mal das Pendant zur ostdeutschen "Kaufhalle" betraten, und angesichts des Überangebots an Waren nicht fähig waren, etwas von ihrem Begrüßungsgeld zu kaufen. Einige hätten ebenfalls angefangen zu weinen.
Brot für die "anderen" Deutschen
Verantwortlich für diese Wahrnehmung waren in erster Linie die zahlreichen Hilfs- und Unterstützungsaktionen für die DDR-Bürger. Diese hatten ein Ausmaß angenommen, das man sonst vielleicht noch von Projekten für die "Dritte Welt" kannte. Der Filialleiter eines örtlichen Supermarktes schrieb zum Beispiel in einem Brief an den Bürgermeister, in dem er sich für die Unterstützung bei einem Spendenaufruf bedankte: "Es ist richtig rührend anzusehen, mit wie viel Ideenreichtum und Engagement die Gemeinden, Vereine und Helfer sich um unsere Brüder und Schwestern aus der DDR gekümmert haben.
Vor allem die Stadt Osterode unternahm große Anstrengungen, um die Menschen aus der DDR Willkommen zu heißen. So finden sich in den Akten des Osteroder Sozialamtes diverse Rechnungen von Bäckereien, Fleischern, Supermärkten, Lebensmittelhändlern und Busunternehmen über Leistungen, die den Besuchern aus dem Osten zu Gute gekommen waren und die die Kommune beglich. Insgesamt 19.153,60 DM hatte die Stadt Osterode bis zum 14. Dezember für Bus-, Betreuungs- und zusätzliche Personalkosten ausgegeben. Auf den gesamten Landkreis Osterode wiederum fielen allein bis zum 7. Dezember 1989 20.000 DM Buskosten, um DDR-Bürger von der Nachbarstadt Herzberg in die Kreisstadt und wieder zurück zu bringen.
Arme Ostdeutsche
Doch woher rührte dieses Mitleid gegenüber den Menschen aus dem Osten? Den Osterodern war bekannt, dass niemand in der DDR Hunger leiden musste. Sicher, das Angebot an Konsumgütern war deutlich beschränkter, aber reichte das schon aus, um die Besucher von "drüben" wie Menschen aus der "Dritten Welt" zu betrachten?
Dabei nahmen die Politiker und Helfer im Westen sicher auch selektiv wahr und wirkten bestimmte Anekdoten verstärkend. So erinnert sich der damalige Leiter des Osteroder Sozialamtes, Klaus Schulze, daran, dass während des ersten großen Ansturms auf das Begrüßungsgeld am 11. November im Osteroder Rathaus ein Toilettendeckel aus der öffentlichen Toilette entfernt wurde, was Schulze auf die mangelhafte Versorgungslage in der DDR zurückführte.
Weitere solcher Begebenheiten wurden aber nicht bekannt. Typischer war dagegen die Wahrnehmung einer Dankbarkeit der Ostdeutschen für die entgegenbrachte Hilfe: "Unsere Besucher waren erfreut, doch auch zum Teil fassungslos, denn diesen Empfang hatten sie nicht vermutet, nachdem ihnen jahrelang gepredigt worden war, wie elend wir lebten und wie verkommen unser Teil Deutschlands sei. Ganz im Gegensatz zu dem gelobten Arbeiter- und Bauernstaat DDR. Geweint haben einige Menschen ob des Betrugs, der ihnen vorgespielt wurde".
Das Ende der Solidarität
Vor allem in der unmittelbaren Zeit nach der Grenzöffnung suchten viele DDR-Bürger, die keine Familienangehörigen in der Bundesrepublik hatten, nach Kontakten. Im Fall von Osterode erhofften sich manche eine kostenlose Bleibe für den Harz-Urlaub und boten im Gegenzug, ihre eigene (Ferien-)Wohnung für einen Gegenbesuch in der DDR an. In einer Pressenotiz des Fremdenverkehrsamtes heißt es dazu: "Bei der Stadt Osterode am Harz gehen z.Z. vermehrt Anfragen von Bürgern aus der DDR ein, die einen Besuch in Osterode am Harz, eventuell auch mit Übernachtung, durchführen möchten, oder aber brieflichen Kontakt zu Bürgern in OHA suchen."
Daneben gab es systembedingte Probleme bei der Annäherung. So richtete der Betriebsdirektor des VEB Getriebewerks Gotha am 5. Februar 1990 ein Schreiben an den Bürgermeister der Stadt Osterode am Harz mit dem Wunsch, einen Austausch zu veranstalten und warb dabei mit dem "modernen Betriebsferienheim", über das das VEB Getriebewerk Gotha verfüge. Da man in den vergangenen Jahren schon etliche Austausche mit Ungarn, Tschechen und Polen veranstaltet habe, und sich nun die historische Chance zum Kontakt mit dem Westen biete, würde man sich darüber freuen, wenn ein solcher Austausch zu Stande käme.
Fazit
Nachdem das "andere Deutschland" fast 40 Jahre teilweise komplett unzugänglich, teilweise nur mühsam und temporär zu erreichen war, konnte man nach der Grenzöffnung eine ausnahmslose Freudenstimmung bei den Menschen in der Stadt Osterode am Harz feststellen. Wörter wie "Freude", "Solidarität", "Hilfsbereitschaft", "Unterstützung", tauchen immer wieder in den Zeitzeugenberichten auf, um die Situation ab dem 9. November zu beschreiben. Diese Stimmung hielt auch lange bis ins Jahr 1990 an. Was nicht explizit als solches benannt wird, aber immer wieder in den unterschiedlichsten Variationen in den Erinnerungen von Zeitzeugen deutlich wird, ist ein Gefühl von Mitleid. Dieses Mitleid ließ bei vielen Osterodern unterschwellig das Gefühl entstehen, moralisch überlegen zu sein. Zudem bestätigte ihnen das Aussehen und Verhalten der DDR-Bürger die Überlegenheit des eigenen politischen, ökonomischen, gesellschaftlichen und kulturellen Lebens.
Zitierweise: Yannick Lowin, Die Wende im Zonenrandgebiet: Betrachtungen des Mauerfalls in der Stadt Osterode am Harz. In: Deutschland Archiv Online, 17.05.2013, Permalink: http://www.bpb.de/159454